Der Kaiser und sein Guglhupf

»Hier ist der Guglhupf«, sagt Reiter und deutet aus einem Gangfenster des gerichtsmedizinischen Instituts hinaus in den Hof auf den Narrenturm, »er wirft seinen Schatten auf die Gerichtsmedizin.«

Die gerichtsmedizinische Sammlung ist nicht das einzige Totenreich, das Christian Reiter prägt und beschäftigt. Das Erdreich, das um den Rundbau aufgeschüttet ist, drückt noch heute auf die Bausubstanz der Gerichtsmedizin, insbesondere auf das Leichenhaus, es erzeugt Risse und Spannungen. Reiter meint das auch metaphorisch, es ist ihm wichtig, bei unserem Spaziergang die Geschichte des benachbarten Gebäudes einzubeziehen. Wohl auch, weil sie zeigt, wo die Grenzen der Medizin, aber auch die Grenzen des Menschen und seines humanen Seins liegen. Brutalität, Aberglaube und Unwissen sollten hier durch Aufklärung, Reformwille und den Glauben an die Wissenschaft abgelöst werden.

Der Narrenturm erzählt nicht nur über das unsägliche Leid, das psychisch kranke Menschen durch die Medizin erlitten hatten — und zwar bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts —, sondern auch die immer wiederkehrenden Bemühungen der fortschrittlichen Medizin, dem Leiden ein Ende zu setzen.

Er beherbergt, so wie das gerichtsmedizinische Institut, tausende pathologische Präparate von Missgebildeten und Kranken, sogar ein fünfjähriges Mädchen findet sich darin, erkrankt an einer seltenen Hautkrankheit. »Das letzte existierende Stopfpräparat, eine Menschenhaut, ausgestopft und über ein Holzgerüst gespannt«, wie Reiter ausführt. Man kann die Patientin heute nicht mehr angaffen wie früher, in Hausners Bildband ist dieses Kind abgebildet. Nackt steht es da und blickt mit seinen Glasaugen in die Ferne. Ein damals berühmter Anatom namens Josef Barth hat um 1800 dem Mädchen offenbar die Haut abgezogen, gegerbt und aufgespannt. Wie ein seltenes Tier im Naturhistorischen Museum steht das Kind da.

Heute spazieren Besuchergruppen, unter ihnen viele Schüler, durch eine pädagogisch korrekt kuratierte Ausstellung im Erdgeschoß. Von dem ausgestopften Kind erfahren sie nichts. Dort, wo einst die Deserteure inhaftiert waren, ist ein Museumsshop, der Kitsch und Klimbim aus China vertreibt.

Diese kleine Burg, das vergisst man in diesem Shop fast, beherbergte einst psychisch Kranke und geistig Behinderte. Genau genommen waren sie auch hier weggesperrt. Wie Tiere hatte man manche angekettet und auf Stroh gebettet. Die Exkremente fielen durch in den Boden eingelassene Löcher. Das Essen reichten die Wärter kleingeschnitten durch ein verriegeltes Gitterfenster, ohne Besteck. So manchen exotischen Kreaturen im Tiergarten Schönbrunn ging es damals besser. Zwanzig Tonnen Eisen, so vermerkt eine Chronik, wurden erst 1839 vom damaligen Primarius der Irrenabteilung entsorgt: Gittertüren und Ringe zum Anketten der Kranken. Gerhard Roth zitiert einen historischen Bericht über den Narrenturm, in dem von »größter Unreinlichkeit«, von »scheußlichem und unerträglichem Gestank« die Rede ist. Ein »Heulen und Brüllen« sei zu hören gewesen, von Menschen, die an Beinen, Händen und sogar am Hals »auf die grauenhafteste Weise« gefesselt gewesen seien.

»Und doch war der Narrenturm eine Verbesserung«, klärt mich Professor Reiter auf, »weil Joseph II., der große Reformer, die Menschen aus den Verliesen holte.« Hier galten sie nicht mehr als Bestien, die man in sogenannten Narrenkottern am Hohen Markt, einem zentralen Wiener Platz, verspottete, sondern als Patienten, als Kranke, die zu heilen wären.

Höchstpersönlich hatte Joseph II. Anweisung gegeben, dieses Gebäude zu errichten. 28 Einzelzellen sind in jedem Stockwerk an der Außenfront, und in der Mitte des Rings befindet sich ein Gebäude, das exakt danach ausgerichtet ist, wo am Tag der Eröffnung anno 1784 der Nordstern stand.

Der Kaiser selbst ordnete an, wo welche Patienten unterzubringen sind. In der obersten Etage des »Irrenthurmes« saßen die Kranken in sieben Kammern »angeschmiedet«. In den Geschoßen darunter waren die »Unruhigen«, die »ganz Ruhigen und teilweise incurablen Männer« und zu ebener Erd die »Militär-Irren«, meist Deserteure. Und oben, in einem mittlerweile abgerissenen achteckigen Dachtürmchen, saß bisweilen die lungenkranke Majestät höchstpersönlich. Joseph II. blickte, die »Narren von Wien« unter sich, in den Sternenhimmel.

»Der Narrenturm war sein Experiment, eine Idee, die er aus Paris mitgenommen hat«, so Reiter. Unter dem Decknamen Graf von Falkenstein reiste Joseph II. 1777 nach Paris zu einer seiner vielen Inspektionsfahrten. Seiner Schwester Marie-Antoinette und seinem Schwager Ludwig XVI. wollte er das Sexualleben erläutern, da sie immer noch kinderlos waren. Joseph II. lernte dabei das Projekt des Hôtel-Dieu kennen, das große Pariser Zentralkrankenhaus, das fünftausend Patienten in etwa 1200 Betten versorgen sollte. Dieses baute er in Wien nach, allerdings in einer besseren Form, und zwar genau dort, wo während der Türkenkriege das »Großarmen- und Invalidenhaus« errichtet worden war. »Jedem sein eigenes Bett«, lautete die Order. Schon 1784 bot das AKH der Wiener Bevölkerung zweitausend Betten. Zubauten folgten nach und nach. Weltweite Geltung erlangte hier im 19. Jahrhundert die Zweite Wiener Medizinische Schule, unterrichtet wurde am Krankenbett und am Seziertisch und später eben anhand der medizinischen Sammlungen.

Die ringförmige Architektur, so Reiters Hypothese, verdankt der sogenannte Guglhupf, wie die Wiener den Turm bis heute nennen, vielleicht auch dem Pariser Chemiker und Naturforscher Antoine Laurent de Lavoisier, der 1774 die Gasgesetze entdeckte, wonach warme Luft aufsteigt: Werden Krankheiten, wie von Hippokrates beschrieben, durch Luft übertragen, so kann man versuchen, diese böse Luft wieder aus dem Körper auszuleiten. Das war die Idee der bösen Luft, der Miasmen, der mal aria.

Wenn also die Miasmen über Luft übertragen werden und der Gesunde daran erkrankt, dann könnte man ja die Krankheiten aus den Körpern wieder ausleiten, indem man die Gasgesetze nutzt und die schlechte Luft absaugt, so die Theorie. Aus diesem Grund hatte man in Paris in Erwägung gezogen, ein Krankenhaus in Form eines Rauchfanges zu bauen. Die Kranken sollten im Sog eines Kamins ihre Krankheiten verlieren.

Joseph II. wollte eine »psychiatrische Anstalt« bauen, die nach diesen Gesetzen die Geisteskrankheit aus den Körpern »drainiere«. Damit in diesem System auch Luft zirkuliert, hat man im Keller des Narrenturms — »ich war einmal unten, das ist extrem eng und bedrückend« — eine Heizanlage eingerichtet und das Erdreich für den Keller neben der Gerichtsmedizin aufgeschüttet. Aufgrund der schlechten Belüftung der Heizanlage wären die Insassen fast an einer Kohlenmonoxidvergiftung erstickt.

Das Pilotprojekt »Miasmenausleitung« wurde deshalb abgebrochen. Die Anlage war vor allem eine Verwahrungsanstalt für Geisteskranke, und als auch diese in einer neuen psychiatrischen Einrichtung behandelt wurden, diente der Narrenturm als Wohnhaus für Personal und später als pathologisches Bundesmuseum. Die weltberühmte pathologisch-anatomische Sammlung menschlicher Exponate wurde nach 1945 skurrilerweise dem Naturhistorischen Museum überschrieben, jener Einrichtung, die der Sammlung und Erforschung der Natur dient. In den Schaukästen liegen 42.000 Präparate, darunter »Zyklopen«, »Janusköpfe«, »Siamesische Zwillinge«. Gerhard Roth nannte sie »Fundstücke aus Bildern Goyas, Boschs und Kubins oder Figuren aus den Werken Homers, der Gebrüder Grimm und Becketts«.

Die Geschichte des Narrenturms ist so interessant, weil die in ihm verwahrten Geisteskranken von Franz Joseph Gall untersucht und beobachtet worden waren.

Er begann damit, nach dem Tod von Geisteskranken deren Gehirne und Schädel zu sezieren. Er glaubte, dass bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen mit bestimmten Orten im Gehirn gekoppelt seien. Ganz falsch war das nicht, wie die moderne Hirnforschung später herausfand. Aber Gall war Teil einer wissenschaftlichen Bewegung, die sich in der NS-Zeit in einen mörderischen Wahn verwandelte: Er dachte, dass sich das Gehirn mit seinen Windungen an den Schädelknochen innerlich und äußerlich abprägt. Die verhängnisvolle »Schädellehre nach Gall« wurde auch schon bald in Karikaturen verspottet. Seine Theorie stieß in Fachkreisen als »Phränologie« auf Interesse und führte dazu, dass er und seine Schüler etwa fünfhundert Schädel sammelten oder Totenmasken anfertigten. Als Kaiser Franz I. 1802 die Lehre verbot, setzte sich Gall nach Paris ab und kehrte nicht mehr zurück. Sein in Wien verbliebener Besitz wurde 1824 veräußert, einen Teil der Sammlung erwarb der in Baden bei Wien tätige Arzt Anton Rollett. Im Rollettmuseum in Baden findet sich eine ganz besondere Büste, die Gall anfertigen ließ, und eine Kopie wiederum steht in Christian Reiters Studierzimmer. Sie zeigt Angelo Soliman, der hinter Reiters Schreibtisch wacht, so als würde er den Gerichtsmediziner beobachten.

Seinem Zimmergefährten hat Reiter eine Baseballmütze aufgesetzt, versehen mit dem Schriftzug »Tatort«. Als sich Solimans Büste noch in Reiters Büro in der Sensengasse befand, stand gleich daneben eine Totenmaske, angefertigt aus Silikon. Sie zeigte den Kopf eines Mannes, der um die Jahrtausendwende Österreich in Atem hielt: der verstorbene Nigerianer Marcus Omofuma. Fremdenpolizisten hatten ihm den Mund verklebt und ihn zu Tode gebracht. Sein Fall beschäftigte Reiter jahrelang, und er ist einer der wenigen, über die er ungern spricht.

Ich schaue auf die zwei Büsten: zwei Afrikaner in Wien, zwei Menschen, die in Wien Geschichte schrieben, zwei Männer, deren Würde posthum mit Füßen getreten wurde, zwei Fälle, die Reiter intensiv beschäftigten. Zwei Menschen, deren Geschichte in die Abgründe meiner Heimat blicken lassen. Man muss sie, weil Teil der großen Geschichte, aus Reiters Perspektive erzählen.