»Ich sehe ihm direkt ins Gesicht. Erschöpft sieht er aus und leicht erstaunt. Die Lider sind schwer, halb geschlossen. Der Mund ist etwas geöffnet, die Wangen eingefallen. Obwohl er nicht so alt wirkt, ist er etwa fünfundsiebzig. Als junger Mann muss er gut ausgesehen haben.« Als der Historiker Philipp Blom vor einigen Jahren im Wien Museum eine große Ausstellung über Angelo Soliman und dessen Zeit kuratierte und dessen Büste inspizierte, ebenjene, deren Kopie in Reiters Studierzimmer steht, da bemerkte er, dass dessen Antlitz dem Betrachter »instinktiv Respekt« abverlange.
Kein Wunder, angesichts dieses Menschen, den ganz Wien zu kennen scheint und über den auch Reiter forschte. Um 1721 herum, so genau weiß man das nicht, wurde Soliman als Sohn eines afrikanischen Fürsten geboren, beim Überfall auf seine Ortschaft gekidnappt, von Sklavenhändlern in den Norden Afrikas verschleppt, an Araber verkauft, von diesen nach Sizilien verschifft, dann eingetauscht gegen ein Pferd. Mmadi Make, so sein angeblicher Geburtsname, wird zum Diener adeliger Herrschaft, lernt eine Zofe kennen, Angelina. Aus Zuneigung zu ihr, so die Mär, habe er sich Angelo genannt. Eine Fürstin in Sizilien unterrichtet ihn, nimmt ihn »an Sohnes statt« an, lehrt ihn, Tschechisch, Italienisch, Französisch, Deutsch. Er studiert auch die antiken Sprachen Hebräisch, Latein, Griechisch. Er musiziert, wird Universalgelehrter und Universaldiener, unterhält die Aristokratie und parliert mit ihr. Leibeigener aber bleibt er, jederzeit kann er verkauft werden. Und so geschieht es auch. Fürst Lobkowitz, Gouverneur von Sizilien, ist auf diesen jungen Mann aufmerksam geworden und tauscht den Edelsklaven gegen Ländereien ein. Soliman kommt an den Hof Maria Theresias, landet bei den Liechtensteins, bei Fürst Wenzel, der ihn als Erzieher seiner Kinder erwirbt. Kaiser Joseph II. lustwandelt mit ihm im Park von Schönbrunn. Als Unfreier wird er trotzdem Freimauerer, trifft Mozart bei Veranstaltungen des Geheimbundes, lernt Joseph Haydn kennen, wird Teil von Wiens High Society.
Heimlich ehelicht der Leibeigene im Stephansdom eine Witwe namens Kellermann, mit ihr zeugt er seine Tochter Josephine. Soliman darf Joseph II. nach Frankfurt zur Kaiserkrönung begleiten. Er ist ein begnadeter Kartenspieler, gewinnt in Frankfurt ein Vermögen und investiert es in eine »Bergbauberechtigung« in Schladming, wo Kobalterze abgebaut werden, zur Herstellung von blauem Glas. Der Betrieb geht bankrott, Soliman ist pleite. Wenzel von Liechtenstein feuert ihn wegen der heimlichen Ehe. Im Alter von etwa siebzig Jahren sackt Soliman zusammen: Schlagfluss, wie man den Schlaganfall damals nannte.
Der Rest ist die bekannte würdelose Schauergeschichte. Sein Leichnam wird beschlagnahmt und vom Präparator Simon Eberle gehäutet. Der Historiker Blom vermutet, die Präparierung sei direkt auf Betreiben des Kaisers Franz II. geschehen, da Soliman das ihm verhasste aufklärerische Wien verkörpert habe. »Die Ausstopfung hatte wohl schon eine Watschen-Wirkung gegenüber den aufgeklärten Kreisen, die ihn zu Lebzeiten mit offenen Armen empfingen. Dieser Akt, einen Menschen wieder zum Objekt zu machen, und zwar diesmal in einem dezidiert rassistischen, kolonialistischen Akt, scheint symbolisch zu sein. Das ist mehr als wissenschaftliche Neugier, und das macht diesen Akt auch so monströs. Das ist auch posthume Beleidigung.«
Von Kopf und Gesicht fertigen seine Helfer einen Gipsabdruck an, schnitzen eine Holzkonstruktion, ziehen die Haut darüber. So wie bei jenem fünfjährigen Mädchen im Narrenturm. Mit einem Baströckchen bekleidet, dient Soliman aber nicht als Präparat für angehende Ärzte, sondern wird zur Schau gestellt im kaiserlichen Hofnaturalienkabinett in einem Diorama, daneben ein Tapir. Jetzt ist er »Vertreter des Menschengeschlechts«.
Seine Tochter, Baronin Josephine von Feuchtersleben, protestiert beim Kaiser gegen die Schändung, sie will die Herausgabe der Leichenteile und der Haut erwirken. »Aber sie kriegt nur eine Kiste mit den Knochen ihres Vaters«, sagt Reiter. Diese wird am Währinger Friedhof bestattet.
Hatte man der Tochter Teile des Leichnams des Vaters vorenthalten? Hatte vielleicht der Phrenologe Gall Solimans Kopf einbehalten, als Forschungsobjekt oder Reliquie? Reiter ging genau dieser Frage nach. Er wusste, dass Gall Solimans Schädel in seinem »Atlas zur Anatomie und Physiologie des Nervensystems«, im Kapitel über den »Tonsinn«, abgebildet hatte.
Gall nannte Soliman zwar nicht beim Namen, sondern bezeichnete ihn als »Kopf eines Negers aus dem Kongo, der sich im Selbststudium mit Musik befasste und nahezu alle bekannten Instrumente spielte«. Derer gab es in Wien nicht viele. Vierzig Afrikaner höchst unterschiedlichen Bildungsgrades verzeichnet die Stadtchronik jener Zeit.
Reiter hat im Narrenturm noch eine Spur entdeckt. Ein Archivar verwies ihn auf einen Totenschädel unklarer Herkunft. Der berühmte Anatom Josef Hyrtl, der eine nicht unerhebliche Rolle bei der Frage nach dem Schädel Mozarts spielte, hatte den Kopf in der Sammlung beschrieben, »und wir wissen eigentlich nicht, auf welche Weise und auf welchem Weg dieser Schädel hier nach Wien gekommen ist«. Der Eintrag im Katalog lautet wie in Galls Buch: »Neger, vom Congo«.
Handelte es sich um Solimans Kopf? Hatte der Präparator Solimans Schädel heimlich dem Phrenologen Gall zukommen lassen? Reiter hatte ein forensisches Rätsel zu knacken. Für ihn war klar: Gall besaß einen Gipsabdruck des Kopfes. Und in diesem Abdruck fand Reiter die gekräuselten Haare des Angelo. Er holte die Erlaubnis ein, diese Haare »so schonend wie möglich aus dem Gips herauszupräparieren«. Er hatte nicht nur gehofft, dass über molekularbiologische Methoden Solimans Herkunft in Afrika geklärt werden kann, sondern hatte noch eine Idee: »Man müsste nur die DNA der Haare mit dem Schädel vergleichen.«
Reiter hatte bisher Pech: Die chemischen Vorgänge beim Aushärten von Gips haben offenbar einen negativen Einfluss auf die DNA von Haaren. »Es ist uns bis heute nicht gelungen, hier vernünftige mitochondriale DNA zu extrahieren. Es gibt noch ein paar Haare in meinem Besitz. Wir werden warten, dann sind die Technologien weiter gediehen.«
So schnell gab Reiter aber nicht auf. Er verglich den unbekannten Totenkopf aus dem Kongo mittels Superprojektion mit zeitgenössischen Abbildungen Solimans. Und stutzte: »Er passt hervorragend zu den zeitgenössischen Abbildungen.« Die Weichteile fügten sich haargenau zur künstlerischen Abbildung. Reiter sagt: »Es spricht nichts dagegen, dass dieser Schädel von Angelo Soliman stammt.« Oder doch?
Reiter ahnte es: »Die Nähte des anonymen Schädels repräsentieren einen Mann mittleren Lebensalters.« Vierzig, vielleicht fünfzig Jahre. Und der Schädel hat einen tadellosen »Gebissstatus«. Angelo Soliman ist nachweislich mit mehr als siebzig Jahren verstorben.
Und das Präparat mit Solimans Haut? Es verstaubte am Dachboden der Hofburg in einem Kasten, bis ins Revolutionsjahr 1848. Damals lehnte sich auch in Wien das Bürgertum gegen Adel und Kaiserhof auf, kurz fing die Hofburg Feuer. Und mit ihm Angelo Solimans gegerbte und auf ein Holzgestell gespannte Haut. »Das ist«, sagt Reiter, wenn man es historisch betrachtet, »eine sehr skurrile, aber auch eine für die Wiener Medizin wichtige Geschichte.«
Die Erben Galls, die Nachkommen der Schädelvermesser und Schädelsammler, sie trieben nicht nur in der NS-Zeit ihr Unwesen, sondern auch Jahrzehnte später. Im Naturhistorischen Museum etwa gab es bis 1996 den sogenannten Rassensaal, eingerichtet von Reiters Institutskollegen Johann Szilvássy, einem Anthropologen.
Er stammte aus einer Zeit, in der noch »Rassenkunde« gelehrt wurde.
Noch bis Ende der neunziger Jahre war Szilvássy ein gefragter Gutachter. Er beschrieb die »Schamhaardichte« bei afrikanischen Tatverdächtigen, um ihr Lebensalter zu bestimmen, und vermaß ihre Knochen, sein Urteil entschied darüber, ob das milde Jugendstrafrecht angewendet werden konnte.
Reiter war das schon lange zuwider: »Als Anthropologe hätte er wissen und bedenken müssen, dass die biologische Bandbreite bei Menschen enorm ist. Menschen kann man nicht mathematisch definieren. Und wenn ich Aussagen über regionale morphologische Eigentümlichkeiten heranziehen möchte — zum Beispiel Behaarung oder Körpergröße oder Zahndurchbruch, wann kommt der Weisheitszahn zum Vorschein —, dann muss ich mich sehr intensiv mit der jeweiligen regionalen Population beschäftigen, dann brauche ich entsprechend hohe statistische Daten, um dann wieder mit der entsprechenden statistischen Vorsicht eine Bandbreite zu liefern. Wir wissen heute, wie extrem schwer es ist, eine Alterseinschätzung bei einem jungen Menschen zu treffen. Und selbst mithilfe der modernsten Techniken, über die wir heute verfügen, müssen wir zugeben, dass wir hier immer nur mit einer Bandbreite von plus/minus zwei Jahren agieren können.«
Es geschieht freilich nach wie vor: In Asylverfahren werden von Behörden bildgebende Untersuchungen von Handwurzelknochen, Schlüsselbeinen und Zahnstatus gefordert, um zu ergründen, ob eine Person jugendlich ist oder nicht, ob sie daher mehr Unterstützung erhält im Verfahren. Die Gerichtsmedizin muss hier mit den Behörden zusammenarbeiten. »In der Zwischenzeit haben wir gelernt«, sagt Reiter, »wie vielgestaltig der Mensch ist und dass wir im Zweifel immer für den jeweilig Betroffenen die günstigste Version liefern müssen.«