»Jede unserer Erkenntnisse beginnt mit den Sinnen.«
Leonardo da Vinci
Heilender Arzt wollte ich eigentlich nie werden. Ich hatte Sorge, es nicht zu schaffen, mit Patienten über ihr Leid und ihre Angst und ihre Hoffnungslosigkeit zu sprechen. Tierarzt zu werden, das war mein Kindheitstraum. Die Menschen haben Angst vor dem Tod und vor ihrem eigenen Schicksal. Mit einem Bauern kannst du aber über seine Tiere Tacheles reden und sagen: Das schaut nicht gut aus.
Schon als Kleinkind habe ich Haustiere gehütet: Schildkröten, Hamster, Kaulquappen. Zum Ekel meiner Familie habe ich sogar eine Hauswinkelspinne gehalten. Sie hat sich vermehrt und die Wohnung mit ihren Nachkommen kontaminiert.
Haustiere waren und sind Teil meines Lebens. Wenn sie gestorben sind, habe ich sie seziert, zumindest einige von ihnen. Mein Hamster starb an einem Tumor. Und ich wollte selbstverständlich wissen, an welchem. So habe ich ihn untersucht, seine Organe in feine Scheiben geschnitten, gefärbt und unter dem Mikroskop das Hamster-Duftdrüsen-Karzinom betrachtet.
Ich wuchs in der Stadt auf, in Ottakring, am Yppenplatz, dort, wo mein Urgroßvater sein Atelier und seine Wohnung hatte. Aber ich spielte nicht Fußball wie die anderen Buben. Im Herzen war ich ein Landkind. Ich hatte großes Glück, meine Ferien bei Bauern zu verbringen. Im Sommer brachten mich die geliebte Uroma und die Eltern meines Vaters zur Sommerfrische aufs Land. Wir lebten bei Landwirten am Grundlsee und im Mühlviertel, wo mein Vater im Krieg als Panzeroffizier stationiert war. In Rettenegg, einem kleinen Ort in der Steiermark, lebten wir im Sommer bei Kleinhäuslern. Die Bauern räumten ihr Schlafzimmer für uns frei oder boten uns eine ausgebaute Dachkammer an. Der Bauer in Rettenegg war Holzknecht und hatte eine Kuh und ein Schwein und ein paar Hendln. Er trug auch keine Strümpfe, sondern Stiefelfetzen, Tücher, mit denen er seine Füße umwickelte.
Die Bauern lebten am Ende eines Grabens neben dem Wald. Ein Wildbach gurgelte zwanzig Meter entfernt, die Kuhmilch war warm, die Kost einfach und gut. Von dieser Welt war ich fasziniert, von den Forellen in den Bächen, von den Heidelbeeren in den Wäldern, die ich mit dem Sohn der Bauernfamilie erforschte. Im oberösterreichischen Mühlviertel war ich bald von den einheimischen Kindern nicht mehr zu unterscheiden. Ich lief tagaus, tagein in Gummistiefeln herum.
Im Salzkammergut wiederum sah ich als Vierjähriger — es ist eine meiner ersten bewussten Erinnerungen — zum ersten Mal eine kunstvoll gestaltete Bienenhütte. Durch eine Glasscheibe konnte man dem Volk zusehen. Ich träumte schon damals davon, selbst einmal Bienen zu züchten. Im Schrebergarten meiner Großmutter war das nicht erlaubt. Meine Mutter hatte Angst, die Bienen könnten die Marmeladesemmeln der Nachbarn anfliegen. Heute habe ich Bienen auf meiner Dachterrasse; und ich forsche darüber, warum die Imker, die ich auch schon seziert habe, so erstaunlich lang leben. Stiche führen zu Cortison-Ausschüttungen, und das verlängert, wenn man oft gestochen wird, die Widerstandskraft gegen Entzündungen.
Viel mehr noch interessierte mich damals das Schlachten. Ich war fasziniert von der Anatomie der Schweine. Neugierig sah ich zu, wenn sie auf Haken aufgehängt und aufgeschnitten wurden. Dann entnahmen die Bauern den Tieren die Organe, und anders als es die Erwachsenen heute erwarten würden, habe ich keinen Ekel verspürt, sondern Neugierde. Diese Neugierde, heute würde ich Forscherdrang dazu sagen, war größer als alle anderen Sinneswahrnehmungen. Bei diesen Schlachtungen habe ich zum Beispiel das erste Mal gerochen, wie ein Lebewesen von innen riecht. Ein Schwein riecht anders als ein Mensch, weil ein Schwein mehr Pflanzen frisst, auf dem Land wurden die Säue damals mit gedämpften Erdäpfeln gemästet. Ich lernte später auch, wie Rehe oder Hasen innen drinnen riechen. Ein Vegetarier riecht übrigens auch ganz anders als ein Mensch, der häufig Fleisch verzehrt.
Wir Gerichtsmediziner haben sehr feine Nasen, wir können Krankheiten erriechen. Öffnet man eine Leiche, strömt einem der Geruch der Darmgase entgegen. Das riecht ein bisschen nach Pfadfinderlager, wie ein Raum, in dem zwanzig Leute geschlafen haben. Wenn jetzt zu diesem Geruchsbouquet, an das man sich als Gerichtsmediziner eintariert, eine abweichende Duftkomponente dazukommt, dann sticht einem die sofort in die Nase. Manche Menschen riechen zum Beispiel nach der Öffnung ihrer Körper nach Wirtshaus, nach abgestandenem, vergossenem Bier, nach Wein oder Fusel. Zwar traue ich es mir nicht zu, genau zu erkennen, welche Sorte Wein jemand getrunken hat, aber ich kann schon sagen: Der riecht nach Bier, der riecht nach Wein, der riecht nach Schnaps.
Aufgrund des Geruchs kann ich gewisse Diagnosen erahnen. Ein Diabetiker, der an einer diabetischen Stoffwechselentgleisung stirbt, hat einen Acetongeruch. Der erinnert ein bisschen an Nagellack. Leute, die an Nierenversagen sterben, riechen nach Urin, in Wien würde man sagen, sie brunzeln. Es ist ein Geruch, der sich in den Raum beißt. Eine Blausäurevergiftung, zum Beispiel durch Zyankali, riecht nach Marzipan. Heute weiß ich, dass sich die Artenvielfalt der Darmbakterien an all das adaptiert, was ihnen angeboten wird. Im Darm werden Substanzen produziert, die letztlich wie Hormone auf das Nervensystem wirken und daher auch unser Denken und Handeln indirekt beeinflussen. »Du bist, was du isst.« Der Satz stimmt schon in einem bestimmten Maße, weil das Essen auch die Persönlichkeit mitbestimmt.
Ich habe mich schon sehr früh für den Mageninhalt von Toten interessiert. Der von mir verehrte Professor Holczabek, mein erster Chef, lehrte mich, dass man den Todeszeitpunkt eines Opfers eingrenzen kann, indem man den Inhalt seines Verdauungstraktes in Einzelportionen zerlegt, mit einem Sieb schlemmt — so wie das Goldschürfer in Flüssen tun —, um die Partikelchen, die nicht verdaubar sind, ausfindig zu machen. Durch sie kann man dann erforschen, was der Verstorbene wann gegessen hat.
Ich erinnere mich noch gut an die TV-Sendung »Was bin ich?« mit Robert Lembke. Er forderte jeden Gast, dessen Beruf zu erraten war, zu einer typischen Handbewegung auf. Ich hätte dort eine Bewegung mit aneinander reibenden Fingerspitzen vorgeführt. Das hätte die Leute selbstverständlich völlig in die Irre geleitet. Dennoch ist das eine der typischen Handbewegungen des Gerichtsmediziners: der Griff in den Magen und das Betasten seines Inhaltes.
Wir schneiden den Magen auf und greifen vorsichtig mit den Fingern, selbstverständlich mit Handschuhen, in den Mageninhalt hinein und zerreiben ihn. Wenn wir feinen Sand spüren, dann sind das oft Medikamentenrückstände, ein untrügliches Zeichen, dass jemand Tabletten eingenommen hat, möglicherweise um sich umzubringen. Manchmal finde ich aber auch Kümmel oder Paradeiskerne. Lange halten sich Oliven im Verdauungstrakt. Sie sind schwer verdaulich, werden aber auf ihrem Weg durch den Darm ausgelaugt. Die dunkle Haut der Olive hält sich wahnsinnig lang. Schwammerlreste sind nahezu unverdaulich.
Wenn man wie ich gerne kocht, kann man beim Sezieren die Phantasie spielen lassen. Da sind jetzt Pilze, und da sind grüne Flankerln, sie riechen noch nach Petersilie. Und dann sind da noch Nudelreste. Also: Pasta mit Pilzen.
So kann man aus dem zerbissenen Mageninhalt versuchen, die letzten Mahlzeiten und somit die Essenszeiten vor dem Tod einzugrenzen, aber auch Orte lokalisieren, wo sich der Mensch aufgehalten haben mag. War der beim Italiener oder beim Chinesen? Das hilft vielleicht der Polizei, um Zeugen ausfindig zu machen. Das Grausliche wird so plötzlich eine Herausforderung und somit hochinteressant. Dieses genaue Hinschauen, das Riechen, hat mich schon als Kind fasziniert, etwa wenn ich vor einem geöffneten Schwein gestanden bin, das mit dem Kopf nach unten aufgehängt war.
Meine Mutter hat früh erkannt, dass mir das Zerlegen von Tieren liegt. Da wir am Brunnenmarkt gewohnt haben, hat sie bei den Bauern im Herbst frische Feldhasen gekauft. Mir wurde als Bub die Aufgabe übertragen, die Hasen »abzubalgen«. Im Küchentürstock waren oben in den Ecken je ein Nagel eingeschlagen. Daran habe ich die Hasen mit dem Kopf nach unten aufgehängt und sie aus dem Fell herauspräpariert. Die Innereien habe ich dann entsorgt, wenn sie zum Beispiel mit Zysten von Parasiten versehen waren, alles genau betrachtet und dann die Hasen so kunstvoll zerlegt, dass man sie entweder einfrieren oder weiterverarbeiten konnte.
Ich hatte aber noch eine Aufgabe, die mich besonders forderte. In seiner Kindheit hat mein Vater einmal in der Küche aus einer Flasche, die unter der Abwasch stand, einen Schluck Lauge getrunken. Sie hat seine Speiseröhre verätzt. Er hat das Gott sei Dank überlebt, aber er konnte für den Rest seines Lebens nur mehr kleine Bissen schlucken, da die Speiseröhre verengt war. Mein Vater war daher ein bedächtig kauender Mensch. Und immer, wenn die Mutter Wild gekocht hat, war er derjenige, der auf die Schrotkugeln gebissen hat. Ich bin oft dafür gerügt worden, dass ich beim Zerlegen wieder ein Schrotkugerl übersehen hätte. Man sehe doch am Fell und an der Muskulatur, wo der Einschuss der Schrotkugel ist. Dort muss man die Projektile am Ende des Schusskanals suchen, finden und bergen, damit der Vater, wenn er den Hasenbraten isst, nicht draufbeißt. So habe ich mich früh mit Schusskanälen und Projektilen beschäftigt. Man sieht, das Sezieren und Präparieren zieht sich ein bisschen durch mein Leben.
Für mich war damals klar: Ich möchte Veterinärmediziner werden. Aber ich wollte nicht die Hunderln und Katzerln in der Großstadt impfen und Zahnstein entfernen, sondern aufs Land hinausziehen und die Betreuung von Nutztieren am Bauernhof übernehmen, bei der Geburt von Kälbern dabei sein. Kurz vor der Matura waren meine Eltern plötzlich dagegen. Sie meinten, das mit der Veterinärmedizin soll ich mir aus dem Kopf schlagen, das unterstützen sie nicht, weil sie der Ansicht waren, viele Tierärzte würden dem Alkohol zusprechen. Meine Mutter, die als Gemeindebedienstete der Stadt Wien beruflich auch mit fleischbeschauenden Tierärzten zu tun hatte, hatte nämlich beobachtet, dass viele Veterinärmediziner im Schlachthof zu saufen begonnen haben. Ich verstehe das ja. Wenn ich begeistert Tiermedizin studiere, um Leben zu bewahren, und dann auf dem Schlachthof zuschauen muss, wie die Viecher reihenweise niedergemetzelt werden, dann kann es vorkommen, dass man das psychisch nicht verkraftet und sich mit Alkohol betäubt. Meine Mutter hatte noch ein Argument: Wenn du zu den Bauern auf das Land gehst, hat sie gesagt, dann musst du dich jedes Mal nach der Geburt eines Kalbes in die Stube setzen. Und dann heißt es: »Dokta, a Schnapserl« und »Dokta, noch a Schnapserl«.
Diese Angst vor dem Alkoholismus war eines der Motive, warum mir die Mutter die Veterinärmedizin nicht erlaubt hat. Ich war meiner Zukunft beraubt, weil ich mir gedacht habe: Jetzt haben sie mir meine Lebensplanung weggezogen, was mache ich jetzt? Vielleicht doch Humanmedizin?
Während der Maturazeit war ich ziemlich schüchtern und auch wenig kommunikativ: Ich habe mir vorgestellt, den Leuten erklären zu müssen, sie seien unheilbar krank, und ich mache ihnen Mut mit Sätzen, wie Ärzte sie so sagen: »Nein, wir werden das schon …« Und »machen Sie sich keine Sorgen, wir haben heute gute Methoden«. Das kann ich nicht, das will ich nicht, das schaffe ich nicht. Mit leidenden Patienten will ich eigentlich nichts zu tun haben. Aber es gibt ja noch die Labormedizin, die hätte mich interessiert.
Am Anfang des Medizinstudiums hat mir ein Kommilitone einen Job in einem Labor eines Krankenhauses vermittelt. Mit 19 Jahren habe ich mich bei der Oberin dieses Wiener Krankenhauses vorgestellt und gesagt: »Grüß Gott, mein Name ist Reiter, ich wäre der Ferialpraktikant für den Juli.« Der Job war aber auf einmal schon vergeben, irgendein Fehler in der Personalplanung. Da sagte sie zu mir: »Auf der Pathologie hat einer der Prosekturgehilfen eine Hepatitis bekommen. Gehen S’ auf die Pathologie rüber und schauen Sie sich das an!« Meine Güte, habe ich mir gedacht: Ich habe noch nie eine Leich’ … Damals hat man in den ersten zwei Semestern nur Knochen betrachtet, aber keine Toten. Sie erwiderte: »Sie werden sehen, das wird Ihnen gefallen.«
So bin ich auf die Pathologie rüber. Da war dann ein Prosekturgehilfe, der Herr Lehner. Ich kann mich noch genau an ihn erinnern, ich habe ihn leider viel später seziert, weil er sich aus Liebeskummer erschossen hat. Er war sehr sympathisch, hatte aber viele private Probleme. Er hat gesagt: »Bua, komm her, pack an.« Dann habe ich schon die Füße von meiner ersten Leich in den Händen gehabt und diese umgelagert. Und dann hat er mir dieses ganze Geschäft beigebracht: das Ankleiden der Leichen, das Rasieren ihrer Stoppelbärte, alle Tätigkeiten im Seziersaal. Ich habe mich dort gut betreut gefühlt.
Ich habe die Aufgabe übertragen bekommen, mit Frau Oberarzt Pechotsch zu sezieren. Sie hatte die Gewohnheit, eine Rauchpinzette zu verwenden. Frau Doktor Pechotsch war nämlich eine starke Raucherin, eine Viertelstunde ohne Zigarette war ihr unmöglich. Deshalb musste sie während des Obduzierens rauchen. Sie hatte neben dem Seziertisch das Diktiergerät, in das sie ihre Befunde diktierte, und dann gab’s einen Aschenbecher auf dem Tischerl und eine Rauchpinzette. Mit ihren blutigen Händen hat sie diese Pinzette ergriffen und mit ihr die Zigarette zum Mund geführt, einen Zug genommen und sie dann wieder in den Aschenbecher abgelegt und die Pinzette daneben.
Irgendwann habe ich diese Rauchpinzette »entehrt«, indem ich sie für eine Leiche verwendet habe. Die Oberärztin hat sich fürchterlich darüber aufgeregt, weil ihre Rauchpinzette in der Bakteriologie noch einmal autoklaviert und somit desinfiziert werden musste.
In der Pathologie habe ich mich sehr wohl gefühlt, phasenweise habe ich auch im histologischen Labor gearbeitet, wo das Operationsmaterial zu mikroskopischen Schnitten verarbeitet wurde, das die Ärzte dann befundet haben. Die verschiedenen Färbetechniken zur Darstellung spezieller Gewebestrukturen haben mich fasziniert. Ich werde Pathologe, das wird es, habe ich mir gesagt.
Im Sommer 1978, mit dem Studium war ich fast fertig, hat der Professor Holczabek von der Gerichtsmedizin die Frau Professor Piringer angerufen: »Wir haben ein großes Personalproblem auf der Gerichtsmedizin«, hat er gesagt, »weil uns zwei Obduktionsassistenten krank geworden sind. Können Sie mir nicht für einen Monat jemanden von Ihrem Personal zur Verfügung stellen?« Sagt sie: »Wir haben da einen Medizinstudenten, der kann das alles, und der arbeitet auch bei uns immer wieder. Den können wir ja fragen, ob er gerne zu Ihnen kommen würde.«
Anfangs wäre geplant gewesen, mich nur als Seziergehilfe im Institut einzusetzen. Kaum war ich aber auf der Gerichtsmedizin in der Sensengasse, hat es geheißen: »Packen S’ das Werkzeug zusammen, wir fahren nach Hainburg, wir haben einen Schuss.« Ich bin dann mit dem wissenschaftlichen Oberrat Skala nach Hainburg gefahren, und wir haben dort diesen »Schuss« seziert. Ich habe mir gedacht, Pathologie ist ja ganz spannend, die beschäftigen sich mit Krankheiten aller Arten. Der Gerichtsmediziner muss aber sowohl die Krankheiten kennen als auch alle Spielarten des gewaltsamen Todes. Er muss die Natur kennen, die Botanik, die Zoologie, die Abgründe des Menschen, die Kulinarik und technische Details. Und da stand für mich fest: Das ist es!