Wann ist man tot?

Sein ganzes Studium hindurch hatte Reiter nun auf der Pathologie als Prosekturgehilfe gearbeitet. Herr Lehner, der alte Obduktionassistent, hatte ihn die wichtigsten Handgriffe gelehrt, das Messerschleifen, das Zunähen, das Leichenrasieren, das Einsargen. Nichts konnte Reiter in einem Leichenhaus noch überraschen, zumindest dachte er das bis zu jenem Tag, an dem er auf das magere Männlein traf.

In einem Kühlhaus, das sah der Student Reiter täglich, werden die Toten von den Krankenträgern deponiert, nachdem auf der Krankenstation der Tod diagnostiziert worden ist. In kleinen Kühlfächern warten sie entkleidet und in ihre ursprünglichen Leintücher gehüllt auf ihre Obduktion, »so wie wir das von Kriminalfilmen kennen«, an den Zehen die berühmten Zettelchen. Wird eine Leiche für die obduzierenden Ärzte »aufgelegt«, schiebt der Prosekturgehilfe das Blech aus dem Kühlfach heraus und transportiert den Verstorbenen auf einem Wägelchen zur Obduktion zum Seziertisch. Die Pathologen erwarten, dass um acht Uhr morgens zumindest eine Leiche vorbereitet ist. Die Krankengeschichte »parat«, das Besteck hergerichtet: So sollte der Tisch »gedeckt« sein. Für diese Arbeit in aller Herrgottsfrüh’ braucht es natürlich keine zwei Obduktionsassistenten, das kann auch einer allein, auch das wusste Reiter: »Den einen Tag deckte also der eine den Tisch, den anderen Tag der andere.« Es gab da allerdings ein Problem.

Manche Leichen wiegen schwer. Muss man also einen Toten allein aus dem Kühlhaus auf den Wagen und vom Wagen auf den Obduktionstisch ziehen, dann ist man gut beraten, sagt Reiter, »dass man sich keinen 150-Kilo-Mann auflegt, weil da reißt man sich das Kreuz ab«.

Der cand. med. Reiter sucht sich also auch an jenem Tag einen Leichnam, der nicht mehr als vierzig bis fünfzig Kilo wiegt, also womöglich »einen ausgezehrten Tumorpatienten, der leicht zu handhaben ist«.

Reiter schließt an jenem verhängnisvollen Tag, so wie immer, die Tür zum Hintereingang des Kühlhauses auf, das Licht geht an. Es ist eine dicke, thermoisolierte »Eiskastentüre«, wie wir sie von alten amerikanischen Filmen kennen. Er blickt auf alle Regale in Richtung der Türchen am Fußende.

Reiter sagt, die Leichen liegen dann im Kühlhaus wie die »Brote auf den Blechen in der Bäckerei«. Am Dreierblech, erkennt Reiter, »da liegt ein Magerer und am Fünferblech liegt ein Dicker«. Er wählt das Dreierblech.

Noch hat er es nicht herausgezogen, setzt sich die Leiche schon auf. »Es war ein mageres Männchen mit einem grauen Vollbart, mit einer Glatze, mit hinten einem Haarkranz«. Wie alle Leichen ist die Gestalt in ein Leintuch eingeschlagen. Sie starrt ins Leere und sagt: »Seid’s deppert?«

Heute erzählt Reiter, er sei so sehr erschrocken, dass er »dieses Türl schnell wieder zugemacht habe«. Was soll er tun? Kurze Zeit später kommt der alte Prosekturgehilfe, »ein g’standener Mann mit einem moderaten Alkoholkonsum«.

»Bua, was schaust denn so?«

»Da sitzt einer drinnen!«

»Na, dann werden wir ihn halt herausholen.«

Der Prosekturgehilfe sei in keiner Weise davon überrascht gewesen, dass da ein Lebender im Kühlhaus liegt, setzt Reiter fort. Er trägt den »Mageren mit dem Haarkranz« in den Sozialraum, wo die Gehilfen in der Pause Karten spielen und Kaffee trinken. Dort bettet er ihn auf das abgewetzte Sofa. Der alte Obduktionsassistent sagt: »Hol ein paar Leintücher, wir machen ihm ein Nesterl.« Und das haben sie dann auch getan.

Reiter rubbelt den unterkühlten Patienten wieder warm, aber »er war nicht ansprechbar und verwirrt«, weil in der Kälte die Sauerstoffversorgung des Gehirns heruntergedrosselt wird. Daher hat der Patient von dem gruseligen Drama wohl auch nichts mitbekommen. »Ruf an auf der Kardiologie, die sollen ihn wieder holen«, sagt der Prosekturgehilfe. Reiter wundert sich, dass ausgerechnet die Kardiologie einen Lebenden ins Kühlhaus schickte, weil ja dort ständig die Vitalfunktionen apparativ überwacht werden. Er vermutet, dass »irgendeine Hilfskraft über irgendein Kabel gestolpert ist«. Das Glück des Mageren: Er ist um sechs Uhr in der Früh »gestorben«. Das hat ihm das Leben gerettet. Ein paar Stunden mehr bei vier Grad Celsius im Kühlhaus, und er wäre erfroren, und kein Pathologe — diese sind im Erkennen eines Erfrierungstodes nicht ausgebildet — hätte diesen unnatürlichen Tod erkannt.

Als Reiter mir diese Geschichte zum ersten Mal erzählte, packte mich ein richtiger Lachkrampf. Ich stellte mir vor, wie der junge Student von dem »mageren Männlein« erschreckt wurde, wie er den Kühlschrank schließt. In meiner Phantasie rannte ihm das Männlein nach, wie ein Vampyr im Land der Heiducken.

Natürlich war mein Lachen deplatziert, es entsprang meiner Angst vor dem Wiener Spitalswesen. Und die Angst wurde mir nicht genommen, als ich Reiters Antwort auf die Frage »Wie oft passiert so etwas?« hörte. Reiter: »Ich glaube, das war die Spitze eines Eisberges.« Die Diagnose des Todes eines Menschen sei von Ärzten mitunter leichtfertig vorgenommen worden. Aus dem Lainz-Prozess, als vier Stationsgehilfinnen als sogenannte »Mörderschwestern« angeklagt wurden, dutzende alte Menschen umgebracht zu haben, ist Reiter dieser Dialog in Erinnerung geblieben:

»Wer hat denn bei euch auf der Station damals den Todeszeitpunkt dieser verstorbenen Personen festgestellt?«

»Die Ärzte wollten in der Nacht nicht gestört werden, und da haben halt wir das gemacht.«

»Und wie habt ihr das gemacht, festzustellen, ob jemand tot ist?«

»Na, da haben wir ihn gezwickt. Wenn er zusammengezuckt ist, dann haben wir gewusst, er lebt. Oder wir haben ihm mit dem Finger auf die Hornhaut des Auges getippt. Wenn er geblinzelt hat mit den Lidern, dann haben wir gewusst, er lebt noch. Dann haben wir auch geschaut, ob er atmet.«

»Und wenn er nicht geatmet hat, und wenn er nicht geblinzelt hat, und wenn er auf’s Zwicken nicht reagiert hat?«

»Ja, dann haben wir gesagt, dass er tot ist und auf die Pathologie gehört.«

Und ist man dann tot? Keinesfalls, sagt Reiter. Erst wenn der Körper sogenannte Totenflecke im Nacken ausbildet oder über längere Zeit ein negatives EKG geschrieben wird, erst dann darf ein Mensch auf die Pathologie verschafft werden. Und das »magere Männlein mit dem weißen Haarkranz«? Es konnte sich wohl aufgrund der Beeinträchtigung seiner Hirnfunktionen infolge der Unterkühlung an kaum etwas erinnern, und selbst wenn, »hatte es allenfalls einen schlechten Traum«.

»Man kann getötet werden, solange man stirbt.« Diesen Satz lernt Reiter damals als angehender Gerichtsmediziner. Reiter erzählte mir einmal den Fall einer älteren Dame, die sich jeden Tag mit ihren Nachbarinnen in ihrem alten Wiener Zinshaus an der Bassena zum Tratschen getroffen hatte. Als sie eines Tages nicht erschienen war, in ihrer Wohnung aber der Fernseher lärmte, brach die Feuerwehr die Wohnung auf und sah die Dame am Boden liegen, leblos.

Die Feuerwehr ruft den Rettungsarzt. Der Rettungsarzt stellt den Tod fest und ruft den Totenbeschauarzt. Auch der Totenbeschauarzt stellt den Tod fest und ruft nun die Bestattung. Und die will den Leichnam »einsargen«. Als die Herren diese Dame vom Boden aufheben, »einer packte sie unter den Achseln und einer bei den Füßen«, stöhnt sie auf, und der Bestatter sagt: »Die gehört aber nicht zu uns.« Die Bestatter rufen also wieder die Rettung, aber die Patientin stirbt nach einem kurzen Aufenthalt im Spital.

Reiter sollte für das Gericht nun ergründen, ob die Frau überlebt hätte, wenn der erste Rettungsarzt und der Totenbeschauarzt korrekt gehandelt hätten. Er stellt eine »signifikante Risikoerhöhung« durch die Verzögerung der Therapie fest. Der Totenbeschauarzt wird wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Der erste Rettungsarzt nicht. Warum? »Das wurde nie begründet.«