Das kleine Mädchen, der Burli und das Losungswort »Himmel«

»Auch Sterbende kann man töten.« Reiters Satz klingt nach, er zeigt auf das Schicksal jener, die dank mangelhafter Leichenschau zu früh für tot erklärt oder gar lebendig eingesargt wurden. Die Erkenntnis verweist aber nicht nur auf das Drama der Scheintoten, sondern auch auf die Nöte jener, die schwach, krank und wehrlos in der Obhut von Pflegerinnen oder Ärzten standen, also in staatlicher Betreuung, und während des Sterbens zu Tode gequält wurden. Weil sie dem Pflegepersonal — in den meisten Fällen unterprivilegierte, schlecht bezahlte, ausgebrannte Frauen — zu anstrengend oder lästig geworden waren.

Reiter kennt diese Fälle unkontrollierter Grausamkeit, Gier und Sadismus. Die Ursachen, diese Kriminalität früh zu erkennen, ist in Zeiten des Pflegenotstands gebotener denn je. Ich hatte im Falter noch im Jahr 2019 über drei Pflegerinnen und einen Pfleger eines Heimes im niederösterreichischen Kirchstetten berichtet. Es war ein Heim einer kirchlichen Stiftung, sein Vorstand, ein berühmter Arzt, verdiente etwas mehr als der Bundespräsident, aber die angeklagten Pflegehelferinnen nur etwa 1200 Euro im Monat. Sie hatten alte Menschen nicht nur mit heißem Duschen oder Schlägen gequält, sondern sie zum Gaudium der Station im Bett wie Prostituierte geschminkt, aufreizend mit Strümpfen gekleidet, sexuell missbraucht und ohne Bettdecke vor das offene Fenster geschoben. Der Fall löste erstaunlich wenig öffentlichen Aufschrei aus, dabei hatte die Kontrolle völlig versagt. Ich konnte damals dank einer Whistleblowerin die Whatsapp-Chats der Pfleger lesen: Sie waren ein Protokoll des Grauens. Eine Schwester, die später zu einer jahrelangen Haftstrafe verurteilt wurde, erhielt in einer Chat-Nachricht den Auftrag: »Blauensteiner, walte Deines Amtes!«

Ich war damals beim Gerichtsprozess in St. Pölten; ich sprach sogar mit diesen Frauen, die vor dem Gerichtsgebäude während einer Rauchpause beschämt über ihr eigenes Verhalten auf ihr Urteil warteten. Ihre Taten hatten sie komplett verdrängt, abgestritten und von sich abgespalten. Auf ihren Facebook-Seiten, durch die ich scrollte, präsentierten sie sich als liebevolle Mütter, tierliebende Frauen.

Ganz normale Menschen verwandeln sich zu Sadisten. Warum ist das so? Reiter ist einer der Ärzte, die genau diese Metamorphose von Helferinnen zu Mörderinnen an zwei Fällen aus dem Blick des Gerichtsmediziners studierten. Er wurde 1989 bekannt durch den Fall der sogenannten »Mörderschwestern von Lainz«, die zahlreiche Patienten mit, wie es genannt wurde, »Mundpflege« ermordeten. Und er deckte in den neunziger Jahren die Verbrechen jener Frau auf, deren Name bis heute in Chatgroups gewissermaßen satirisch verwendet wird: Elfriede Blauensteiner.

Im Jahr 1996 beschrieb der spätere Bestsellerautor Daniel Glattauer, damals noch Gerichtsreporter der Wiener Tageszeitung Der Standard, die Blauensteiner als »rüstige Wienerin, die statt Tauben alte Menschen, vorzugsweise alleinstehende Männer, vergiftet«. Naturgemäß fiel das jahrelang keinem auf, schrieb Glattauer, aber »ihretwegen werden jetzt wieder Gräber geöffnet und Leichen exhumiert«. Warum tat sie das? Weil sie gierig war und böse?

Es lag an Christian Reiter, diese Exhumierungen durchzuführen, Grüfte und Särge zu öffnen, um die Mordserien akribisch aufzuklären. Eine Tätigkeit, die ihn faszinierte, wie er mir ja oft erzählte. Die Medien interessierten sich im Fall Blauensteiner vor allem dafür, wie perfekt und intelligent Blauensteiner mordete. Mich interessierte das kaum. Die Inszenierung der eleganten Dame als »Schwarze Witwe«, »Witwe Blaubart« oder »Mords-Omi« war nicht der Stoff, der mich als Jurist und angehender Journalist berührte. Eine Frau, die Männer aus Habgier mit blutzuckersenkenden Tabletten, Euglucon, ermordete und den Kameraleuten ein Kruzifix vor die Linse hält: Solche Gerichtsgeschichten, so dachte ich, deckten keine Missstände auf, keinen Reformbedarf, keine staatlichen Verfehlungen. Sie waren Unterhaltungsstoff eines sensationslüsternen Lesepublikums, und die Rollen waren erwartbar verteilt. Da die Bestie, dort die Opfer.

In Reiters Studierzimmer wühle ich, fast dreißig Jahre nach dem ersten Blauensteiner-Prozess, im Handarchiv des Professors. Er hat die Blauensteiner-Akte für mich vom Dachboden geholt, wo er sie wie ein Geschichtsdokument aufbewahrt hat. Ich sehe Fotos des jungen Mediziners Reiter, Polizeifotos der Leichen, ich lese die akribisch transkribierten Tonbandprotokolle der Gespräche von Gerichtspsychiatern mit Elfriede Blauensteiner. Oder das Transkript von Reiters packend vorgetragenem Sachverständigengutachten, in dem er die Geschworenen »durch den Garten der Medizin« führt, über Paracelsus doziert (»Jed’s ist ein Gift«) und ihnen erklärt, wie man unterzuckerte Menschen retten könnte (»Zuckerwürfel zwischen Wange und Zähne«).

Und plötzlich versinke ich in Blauensteiners Erzählungen über ihre Kindheit im Wien der Nazizeit, über ihr Überleben im brutal kalten Nachkriegsösterreich. Die Protokolle sind im O-Ton protokolliert, man hört die Wiener Mörderin förmlich näseln. Ich blättere auch durch die Kontaktanzeigen ihrer ermordeten Männer, hilflose Witwer, einst Kriegskinder, patriarchal erzogen, aber nie wirklich selbständig geworden. Sie werden auch im hohen Alter noch »Burli«, »Fritzi« oder »Rudi« genannt.

Ich betrachte die von der Polizei angefertigten Bilder der Opfer, sehe ihre blassen, nackten Körper auf dem Seziertisch. Geschundene Männer, die sich in ihrer Verlorenheit mittels Inserat einer Frau anvertrauten, die ihnen wie eine Magd den Haushalt führen und sie verwöhnen sollte. Und dann lese ich Reiters Rekonstruktion von Blauensteiners medizinischen Beobachtungen.

Der Fall Blauensteiner fügt sich zu einem großen gesellschaftspolitischen Drama, so, als ob die Schriftsteller Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Wolf Haas und Peter Turrini eine vielstimmige Geschichte der Zweiten Republik aufgeschrieben hätten. Der Fall Blauensteiner, betrachtet durch die in Reiters Studierzimmer ausgebreiteten Akten, ist mehr als die Geschichte der »Bestie« oder einer »Schwarzen Witwe«, es handelt sich um das Schicksal eines Mädchens, geboren 1931, das während der Nazizeit und im finster-verlogenen Nachkriegsösterreich zum Gewaltopfer wurde.

Es ist auch das Drama eines misshandelten Kindes, einer von ihrem Stiefvater und später von ihrem Mann getretenen Frau. Traumatisiert durch erbarmungslose Eltern. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das schon früh das Glücksspiel als Flucht aus ihrer Not lieben lernte — und die dabei ihr Taschengeld an den herzlosen Stiefvater verlor.

Als Erwachsene, so zeigen es die Akten, wollte sie offenbar eines nicht: erneut verarmen, wieder Opfer von Männern werden. »Sie hat nun einmal zwei extreme Feindbilder in ihrem Leben: Armut und Männer. Irgendwann fand sie ihr todsicheres Mittel dagegen«, erkannte Glattauer. Sie schlüpfte nun in die Rolle der Gewalttäter. Sie war jetzt jene, die sich holte, was anderen gehörte. Sie übte rohe Gewalt aus gegen Schwache und Moribunde.

Tonbandprotokoll der Untersuchungsgespräche zwischen Elfriede Blauensteiner und der Gerichtspsychiaterin Sigrun Roßmanith, aufgenommen im Halbgesperre des landesgerichtlichen Gefangenenhauses Wien im März 2002:

»Mein Vater ist gestorben, da war ich zwei Jahre. Ich habe sechs Geschwister gehabt, ich war das jüngste Kind. Zurück erinnern kann ich mich, wie ich so vier, fünf Jahre alt war. Es war nie ein gutes Verhältnis zu meinen Geschwistern, auch nicht zu meiner Mutter. (…) Einen Tritt auf den Boden und weg mit uns, das Essen war wenig. Wir haben es aber alle überlebt. Es sind dann noch vier Kinder gekommen, denen ist es aber nicht viel besser gegangen. Es ist dann der Krieg gewesen, wie ich angefangen habe mit der Schule. Zuerst sagte man ›Grüß Gott‹ und ein halbes Jahr später ›Heil Hitler!‹ Alle hatten Angst vor’m Hitler, jedoch der Stiefvater war sofort was. Der war ein Niemand, der war vorher gar nichts. (…) Wir haben betteln müssen. Wir haben müssen mit Fetzen gehen (…) Die Mutter hat, ohne dass man was gemacht hat, einem gleich eine gegeben, aber das hat nicht weh getan. Diese Schläge haben nicht weh getan, doch das stinkende, verwuzelte, dreckige Gewand, das hat weh getan (…) Wir waren arme Kinder. Wir hatten nichts, wir hatten Hunger (…) Ich wollte immer etwas verdienen. Ich war die Bettlerin für die anderen Geschwister (…) Wir mussten in einer selbstgebauten Hütte auf einem Acker wohnen, nichts unterkellert, am Boden schlafen. Da hat jeder sein Platzerl gehabt, und wer einen Mantel gehabt hat, der hat sich zudecken können, und wer keinen gehabt hat, der hat sich halt nicht zudecken können. So war das.

Die Mutter hat ein Kind geboren in demselben Raum. Man hat nichts vernommen, außer dem Kindergeschrei. Die Mutter hat sich nicht gerührt. Wir haben nicht hingeschaut (…) Das Wasser war eingefroren, wir mussten in die Schule. Da hat sie ins Lavoir Lulu gemacht und gesagt, der Urin einer Frau, die soeben entbunden hat, ist das Beste, was es gibt, wir sollen uns waschen. Wir haben uns mit dem Urin gewaschen. Man stinkt, als hätte man sich selbst angemacht. Das sind die Erinnerungen, die ich zum Teufel wünsche, aber ich verliere sie nicht. Ich kann meiner Mutter nicht verzeihen.«

Ich blättere durch dutzende Seiten solcher Schilderungen, die in den Zeitungen nie im O-Ton, sondern allenfalls kursorisch veröffentlicht worden sind. Blauensteiners Geschichte, die Geschichte Wiens aus der Perspektive der kleinen Elfi, hatte die Öffentlichkeit damals nur am Rande interessiert. Die Morde waren faszinierender als die Sozialisierung der Täterin durch eine patriarchale und brutale Kriegsgeneration.

Blauensteiner erzählt einmal sogar von den Lkws, die »vor dem Judentempel« in der Nachbarschaft standen, und bemerkt, dass dort »trotz kühler Temperatur alle Fenster offen standen, und vor dem Haus warteten Frauen mit langen Kleidern und Binkeln sowie Lastautos«. Die Eltern erzählen ihr, dass sie »abtransportiert würden, und dass es so richtig sei«.

1939, kurz nach Kriegsbeginn, erlebt das achtjährige Mädchen den Tod ihrer kleinen Schwester. Elfriede kommt von der Schule nach Hause, und da lag tatsächlich die elf Monate alte Hermine bis zum Hals bekleidet, den Unterkiefer mit einem Taschentuch hochgebunden. Die Eltern waren ja nie mit einem Kind zum Arzt gegangen. Dieses Mädchen war erstickt, wegen eitriger Mandeln.

Die Eltern seien nach dem Begräbnis »ins Kepler-Kino gegangen, denn der Vatile musste sich ja ablenken«. Der Stiefvater, der lieber die 16-jährige Schwester hätte heiraten wollen als die elf Jahre ältere Mutter, schlug dieser Schwester oft grundlos das Auge blau, einfach so.

Diese Melange aus Gewalt, bitterer Not und dem Ausgeliefertsein zieht sich durch Blauensteiners Leben. Einem Sachverständigen erzählt sie fast en passant, wie sie als Schwangere ein Kind verliert, weil sie ihr erster Mann offenbar grundlos misshandelt.

»Er kommt und gibt mir einen Klaps auf den Po. Normal ist das ein Annäherungsversuch und macht mir auch nichts, aber mir hat schon alles so weh getan. Ich habe gesagt, mir tut schon alles weh, das war zuviel, er nimmt den Deckel von dem Häfen und haut ihn mir auf den Bauch. Ich habe die Hände über den Bauch gehalten, und er hat so zugeschlagen, und ich habe geschrien, er soll mein Kind lassen. Um zwölf Uhr in der Nacht war der Blutsturz, ich bin ins Spital, und das Kinderl hat sterben müssen. Sie haben ihn Gott sei Dank getauft, eine Nottaufe. Wenn das heute einer macht, sitzt er fünfzehn Jahre im Knast.«

Blauensteiners junges Leben ist geprägt von Gewalt, nur manchmal erlebt sie Gefühle des Glücks — beim Glücksspiel.

»Ich bin einmal mit zwei Mark (die ich mir beim Brotholen verdient habe) nach Hause gekommen, und statt dass ich meinen Mund gehalten hätte, hat der Stiefvater gesagt, ob ich spielen will mit ihm. Da hat er einen einarmigen Banditen, einen Automaten gehabt. Das war so ein Spielzeugautomat. Da hat man genau wie bei den Großen Zwetschken, Kirschen oder so haben müssen. Natürlich habe ich das verspielt. Ich hatte ein gutes Gefühl, ich habe mit dem Stiefvater spielen dürfen. Das war eine Auszeichnung.«

Blauensteiner wird spielsüchtig und gewinnt immer wieder hohe Beträge. Sie, die als Milchmädchen und Kellnerin in der Konditoreikette Aida arbeitete, kann sich plötzlich Pelzmäntel, Schmuck, elegante Kleidung und ein besseres Leben leisten. Sie steckt sogar den Croupiers Geld zu, wie sie dem Gericht erzählt. Und sie wird zu töten beginnen, um an Geld für ihre »entgleiste Spielleidenschaft« (Gutachterin Roßmanith) zu gelangen. In drei Fällen überführte sie das Gericht des Mordes, in zwei weiteren war sie dringend verdächtig, aber der letzte Beweis war nicht zu erbringen. Blauensteiner ist 65 Jahre alt, als ihre Mordserie auffliegt — durch Christian Reiter. Ihr letztes Mordopfer gelangte auf seinen Seziertisch, es ist Alois Pichler.

Rossatz in der Wachau im Jahr 1995. Alois Pichler gibt in den Niederösterreichischen Nachrichten eine Kontaktanzeige auf. »Witwer vom Staatsdienst im Ruhestand, alleinstehend, römisch-katholisch, 75, 1,65, fühlt sich einsam. Neues Haus in herrlicher Lage nahe Göttweig, Wachau. Führerschein erwünscht.«

Das Nachrichtenmagazin profil wusste später zu berichten, Pichlers Frau habe ihm noch zwei Jahre vor ihrem Tod einen Koffer gepackt, für den Fall, dass er irgendwann einmal ins Spital muss und sie vielleicht nicht mehr am Leben sein wird. Pichler war hilflos ohne seine Frau.

Elfriede Blauensteiner meldet sich auf seine Annonce, nennt Pichler liebevoll »Burli«, pflegt ihn, betreut ihn — und sperrt ihn weg. »Und auf einmal«, sagt Christian Reiter, »ist Pichler mit Unterzuckerungen krank geworden« und dann »sehr schnell und unerwartet verstorben«. Aber wie konnte das sein? Er hat doch gerade noch die Obstbäume beschnitten, er war »rüstig«, wie die Nachbarn einander erzählten, trotz der Kinderlähmung, die eines seiner Beine versteift hatte.

Elfriede Blauensteiner, so weiß man es heute, ist zu Pichlers Begräbnis mit einem Leibwächter erschienen, dem Herrn Wrba. Und der Herr Wrba gestand später im Fernsehen, Blauensteiner habe ihm am Weg vom Begräbnis nach Hause 300.000 Schilling angeboten, wenn er vor den Behörden bestätigte, dass ihr Alois Pichler das Haus vererbt habe. Er lehnte ab.

Christian Reiter hatte Pichler damals obduziert und war ratlos, denn »ich hatte bei der Leichenöffnung keine Todesursache gefunden, weshalb ich eine toxikologische Untersuchung veranlasste«. Also forschten die Chemiker weiter. In Pichlers Körper finden sie eine Substanz in einer überhöhten Konzentration: das Medikament Anafranil, ein Psychopharmakon, ein Antidepressivum, kein potentes Gift. Reiter entdeckt dann noch etwas: Anzeichen einer Unterkühlung. Er befragt den Hausarzt, wieso er Anafranil verordnet habe. War er depressiv? Hatte er Schlafstörungen? Der Praktiker ist überrascht. Er hatte Pichler kein Anafranil verschrieben, er sei nie depressiv gewesen.

Reiters Hypothese: Blauensteiner hat Pichler durch die heimliche Verabreichung von Anafranil geschwächt, in einen Dämmerzustand verbracht und dann unterkühlt, sodass er starb. Dann rief sie die Rettung und zeigte sich empathisch besorgt. Ein perfektes Verbrechen.

Reiter alarmiert die Polizei: »Diese Frau ist schwer verdächtig.« Die Kriminalisten schlagen noch nicht zu, sondern sammeln Beweise. Sie hören Blauensteiners Telefon ab, durchleuchten ihr Vorleben, ermitteln die Namen ihrer Pfleglinge und ihrer verstorbenen Ehemänner. Dann schnappt die Fangschaltung tatsächlich zu: Blauensteiner gesteht gegenüber einer Freundin ihre Taten, prahlt förmlich damit. Sie habe ihre Pfleglinge mittels Euglucon geschwächt und dement gemacht — und in diesem Zustand ans offene Fenster gelegt und erkranken lassen. Weil ihr das Euglucon ausgegangen sei, habe sie Pichler stattdessen Anafranil in die Zitronenlimonade gegeben. Die Polizei nimmt Blauensteiner fest, sie gesteht, widerruft die Geständnisse, später wird sie einer Zellengenossin in der U-Haft allerdings erzählen, dass sie in der Tiefkühltruhe nasse Handtücher einlagerte, um Pichler damit einzuwickeln.

Aus dem Tonbandprotokoll der Blauensteiner:

»Ich habe in einer Woche eine Million Schilling gewonnen (…) Diese Million habe ich in ein Kuvert gelegt, habe es zugeklebt und habe darauf geschrieben ›dieses Geld gehört meiner Tochter‹. Später musste ich einen Ring versetzen, der hat 311.000 Schilling gekostet, und ich habe dafür 110.000 im Dorotheum bekommen, das Geld habe ich sofort verspielt. Ich habe einen Kredit aufgenommen mit öS 300.000, das habe ich alles verspielt. Ich habe zum guten Schluss alles verspielt, es ist nichts übriggeblieben. Ich habe mir 1994 gedacht, ich suche mir einen Lebenspartner.«

»Witwe, 64/1,64/63, gepflegt, alleinstehend, Führerschein, Stadtwohnung, Ortswechsel möglich, suche einfachen, unkomplizierten Mann.« So wirbt Blauensteiner in der Kronen Zeitung um ein weiteres Opfer. Fritz Döcker meldet sich aufgrund der Annonce.

»Der Herr Döcker hat mir geschrieben. Er war ein gütiger, ruhiger, besonnener Maurer in Pension, da gab es kein ordinäres Wort, da gab es keinen ordinären Witz. Und dann ist er krank geworden, ohne mein Zutun, weil ich hätte den Menschen auf Händen getragen. Er hat sich hingelegt und ist nicht mehr aufgestanden.«

Ich halte ein vergilbtes Foto in der Hand, es zeigt den toten Fritz Döcker. Auch er starb »eines unerwarteten und rätselhaften Todes«, nachdem Blauensteiner ihn betreut hatte.

Sie verabreichte ihm Euglucon, ein Medikament, das Zuckerkranke nach Mahlzeiten einnehmen sollen, um den erhöhten Blutzuckerspiegel zu senken. Bei Gesunden führt es zu Unterzuckerung, also zu Verwirrung, Schwächung und durch Hirnabbau zu Demenz.

Woher wusste Blauensteiner das? Sie beobachtete ihre Pfleglinge. Zum Beispiel eine ältere Dame, Frau Reinl. Sie nahm Euglucon irrtümlicherweise ein, ohne vorher gegessen zu haben. Frau Reinl wurde schwach. Blauensteiner kombinierte, dass das Medikament eine betäubende Wirkung hat. In diesem Zustand konnte sie ihre Opfer krank machen.

Der Mord an Döcker wäre nahezu perfekt gewesen. Sie schwächte ihn mit Euglucon, er wurde immer verwirrter — einmal glaubte er sogar, in einem Schweinestall zu wohnen —, und als sich Zeichen eines Hirnabbaus einstellten, ließ sie ihn in ein Spital einweisen, wo er dann nach ein paar Wochen an einer Lungenentzündung starb. Niemand schöpfte Verdacht. Und selbst wenn, hätte man nichts mehr finden können, denn das Gift war längst ausgeschieden und abgebaut, und der Leichnam wurde perfekt beseitigt, zumindest glaubte Blauensteiner das. Mit seiner von ihr gefälschten Unterschrift vermachte sie Döckers Körper der Anatomie. Dort sollte er anonymisiert und von Studenten zerlegt in einem Sammelgrab landen. Das war ihr Plan. Er erfüllte sich nicht. Aufgrund des abgehörten Telefonats nach Pichlers Tod interessierten sich die Kriminalisten auch für Döckers Schicksal. Christian Reiter meldete sich auf der Anatomie: »Ich suche eine Leich. Den Döcker Fritz. Gibt’s von dem noch etwas?« — »Jaja«, lautete die Antwort des Anatomen, »der schwimmt noch im Bottich 5, den haben wir bis jetzt noch nicht seziert, weil wir momentan genug Leichen haben.«

Reiter sagt, Döcker sei eine »hervorragend erhaltene Leiche« gewesen. Die Todesursache »Lungenentzündung« hat er schnell diagnostiziert. Reiter aber ahnte, was Blauensteiner im Schilde geführt hatte: Sie schädigte die Körper ihrer Opfer mit Medikamenten so massiv, dass diese krank wurden und starben — allerdings erst zu einem Zeitpunkt, an dem das Gift nicht mehr im Körper nachweisbar war. »Das war das Geniale an ihrer Methode«, sagt Reiter. »Sie erfand einen zweizeitigen Tötungsmechanismus.« Schwächen durch Vergiften, Sterben an einer natürlichen hinzugetretenen Todesursache.

Was fehlte, war der letzte, der schlüssige Beweis für diese Theorie: der Nachweis von Euglucon. Christian Reiter fand ihn in der Gruft von Franziska Köberl, einer älteren Dame, die Blauensteiner wie eine Tochter bei sich aufgenommen hatte. Köberl hatte das, was Blauensteiner zum Spielen brauchte: Geld, sehr viel Geld. Zwei Millionen Schilling waren auf einem Sparbuch, Losungswort »Himmel«.

Obwohl auch Köberl nie zuckerkrank war, mischte ihr Blauensteiner Euglucon in wachsender Dosis in Getränke und Speisen. Köberl war aber eine Naschkatze, hatte immer eine Tafel Schokolade parat. Verspürte sie in der Folge von Unterzuckerung Heißhunger, stoppte Schokolade den fatalen Verlauf. Eines Tages aber war keine Schokolade vorhanden. Mit Verdacht auf Schlaganfall wurde sie in ein Krankenhaus transportiert. Die Rettung stellte eine »massive Unterzuckerung« fest und verabreichte ihr eine Zuckerinfusion. Aber zu spät: Sie verstarb laut Spitalsdokumentation infolge eines »Schlaganfalles, natürlicher Tod«, sie wird ohne Obduktion bestattet.

Reiters Glück dabei: Köberl leistete sich eine Gruftbestattung. Dabei wird der Leichnam luftdicht in einen Metallsarg eingelötet, er lagert darin wie in einer Konservendose. Der Metallsarg wird in einem hölzernen Übersarg in einen Betonschacht versenkt und kommt nicht in Berührung mit feuchter Erde. »Für einen Gerichtsmediziner«, sagt Reiter, »eine ideale Leiche.« Köberl habe sich »in einem hervorragenden Erhaltungszustand befunden«.

In Grüften, so lernt man von Reiter, liegen noch nach Jahren Tote, die man wie frische Leichen sezieren kann. Man müsse allerdings »bedenken, dass durch das lange Liegen die Organe sehr weich werden«. Es sei »alles sehr mürbe und zerfließlich«. Reiters Befund von Frau Köberl: kein Schlaganfall. Aber im Sarg war Flüssigkeit, darin enthalten: Euglucon. Anhand der Menge des Wirkstoffes errechneten die Chemiker, wie viele Tabletten Köberl verabreicht worden waren: weit mehr als therapeutisch üblich verordnet wird.

Blauensteiner war überführt. Die Geschworenen verurteilen sie in zwei Prozessen aufgrund von drei Morden zu lebenslanger Haft, zwei weitere Morde, einen an ihrem zweiten Mann Rudolf, klagt die Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen nicht mehr an. Blauensteiner hatte ihren Rudi vorsorglich einäschern lassen. Die Gerichtspsychiaterin, die sie stundenlang befragte, kam zu dem Ergebnis, dass sie geistig nicht »abnorm«, also voll zurechnungsfähig sei. Blauensteiner sollte den Rest ihres Lebens in der Justizanstalt Schwarzau verbringen. Dort starb sie aber schon im November 2003 im Alter von 72 Jahren.

Woher kommt nun das Böse? Aus den traumatischen Erfahrungen der Kindheit? Reiter, der Blauensteiner während der Gerichtsverhandlungen gelegentlich den Puls fühlte und ihr Vertrauen gewann, erinnert sich an eine »manierierte, zum Teil größenwahnsinnig wirkende Frau«. Immer wieder sagte sie: »Der liebe Gott und ich entscheiden, wer sterben wird.« In der Haft entdeckten Ärzte schließlich einen Hirntumor, der sie selbst zum Pflegefall machte und letztlich zu Tode brachte.

Heute noch beschäftigt Reiter eine Frage: Hat der Krebs zur Zeit ihrer Taten schon gewuchert? Hirntumore entstehen oft als hirsekorngroße, meistens noch gutartige Geschwülste im Gehirn, die über Monate und Jahre unverändert fortbestehen können. »Und irgendwann explodiert dann dieses Knötchen.« Könnte es also so gewesen sein, dass schon dieses Körnchen damals ihre Persönlichkeit verändert hatte? Dass sie vielleicht gar nicht im Besitz des freien Willens mordete, sondern aufgrund ihrer Erkrankung?

Hirntumore, sagt Reiter, können Persönlichkeitsveränderungen hervorrufen. Die Leute können »überwertige Ideen entwickeln«, sie können enthemmter werden. Aber es ist nicht so, dass sie gänzlich unfähig sind, sich zu steuern. Die Krankengeschichte von Elfriede Blauensteiner werfe grundsätzliche Fragen auf: Ab wann beginnt jemand nicht mehr verantwortlich zu sein für seine Handlungen? Wie vieler Krankheit im Gehirn bedarf es, ehe ein Arzt zu der Ansicht kommt, eine Person sei nicht mehr verantwortlich für ihr Tun? Die »Bestie Mensch« ist also nicht nur das Produkt seiner Sozialisierung, sondern auch eine Konsequenz der Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems. Reiter sagt: »Aber das alleine wäre doch eine banale medizinische Erklärung.«