Einmal fragte ich den Professor, wie er sich das Leben nach dem Tod vorstellt. Er formulierte einen Satz, der mich mit meinem eigenen irdischen Ende versöhnt. »Ein menschlicher Leichnam«, sagte Reiter, »ist für mich wie die leere Puppe einer Fliege — was uns zu Menschen macht, ist ihr entflogen.« Eine Hülle also, aus der wir entschwunden sind, ein Abdruck einer Phase unserer Existenz. Das klang für mich so versöhnlich wie der Satz meines damals dreijährigen Sohnes, der mich beim Betrachten eines alten Fotoalbums fragte: »Hast du da schon gelebt oder warst du da noch tot?«
Christian Reiter ist kein religiöser Mensch. Das Leben nach dem Tod interessiert ihn wenig. Er arbeitet für irdische Gerichte, die weltliches Recht sprechen, er ist ein der Aufklärung verpflichteter Mediziner. Aber manchmal lockt dann doch das Abenteuer des Metaphysischen. Etwa wenn der Vatikan ruft.
In Rom residiert eine eigene Kommission, die darüber entscheidet, ob göttliche Wunder vorliegen. Nur bei einem Nachweis derselben kann ein Mensch heilig- oder seliggesprochen werden. Natürlich klärt Reiter nicht, ob es Wunder gibt. Das, sagt er, fällt nicht in seine Zuständigkeit. Er forscht über die naturwissenschaftlichen Ursachen dieser sogenannten Wunder. Und er beschäftigt sich damit, in welchem Zustand sich jene Toten befinden, die der Papst posthum selig- oder heiligspricht.
Reiter wischt jetzt in seinem Studierzimmer auf seinem Tablet ein Foto aus den neunziger Jahren herbei. Es zeigt ihn als jungen Mann, umgeben von Ordensbrüdern. Vor ihm ein Leichnam, der aussieht, als sei er in einen Topf mit Wachs getaucht worden. Es ist Pater Anton Maria Schwartz, ein Arbeiterpriester aus Wien, gestorben 1929, vom Papst persönlich seliggesprochen. Einbalsamiert von Christian Reiter.
Der tote Priester, so erzählt er mir, wurde tatsächlich mit Wachs durchtränkt, zuvor in Alkohol getunkt und dann — geföhnt und bekleidet — in einen Schneewittchensarg in Wien, Rudolfsheim-Fünfhaus gelegt. Dazwischen passierten ein paar Pannen, Reiter wurde offenbar hart auf die Probe gestellt. Aber alles der Reihe nach.
Pater Anton Maria Schwartz hatte schon zu Lebzeiten eine abenteuerliche Geschichte hinter sich. 1852, vier Jahre nach der bürgerlichen Revolution, wurde er als das vierte von 13 Kindern eines Gemeindesekretärs und Theatermusikers in Baden bei Wien geboren, er sang als Sängerknabe im Stift Heiligenkreuz, maturierte im Schottengymnasium, und im Alter von 25 Jahren ließ er sich zum Priester weihen.
Die Kirche, so erkannte der junge Gottesdiener, tat zu wenig für Lehrlinge und junge Arbeiter. Also baute er ihnen ein Asyl, schuf, ausgestattet mit bischöflichem Segen, eine Kongregation für christliche Arbeiter, sorgte sich um die Armen, lehrte sie zu beten. Der Orden der Kalasantiner, dem er angehörte, nennt ihn heute noch »Arbeiterapostel«. Er habe sich für einen arbeitsfreien Sonntag eingesetzt, schreiben die Ordensbrüder stolz auf ihrer Website, sowie für den Achtstundentag, den Lehrlingsurlaub, für die Gründung von Gewerkschaften und eine gesetzliche Sozialversicherung. Sogar an Streiks habe der Bruder teilgenommen.
Anerkennung zollte ihm der Heilige Stuhl erst fünfzig Jahre später. Über lange Zeit — von 1949 bis 1998 — prüfte die Kirche in komplizierten kirchenrechtlichen Verfahren unter Anhörung von hunderten Zeugen, ob Schwartz wirklich seliggesprochen werden solle.
Anno 1995, drei Jahre vor dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in Wien, fand der Vatikan dann endlich das für die Seligsprechung notwendige Wunder. Fünf Ärzte aus Rom prüften den Verlauf einer Operation, die eine Wiener Pensionistin in einem Gemeindespital im Jahr 1972 über sich ergehen lassen musste. Die Mediziner kamen überein, dass das Überleben einer Patientin wissenschaftlich nicht erklärbar sei. Das »Wunder« sei Pater Schwartz zuzuschreiben. Denn der Gemahl der Erretteten habe sich in seiner Not im Gebet an den Pfarrer im Jenseits gewandt, und er wurde von diesem erhört. Am 21. Juni 1998 sprach der Papst Anton Maria Schwartz deshalb selig. Die Bevölkerung jubelte ihm zu.
Zuvor hatte Christian Reiter im Auftrag der Kirche aber noch einen diskreten Job zu erledigen — er musste Pater Schwartz »enterdigen« und einbalsamieren. Denn die Kalasantiner wollten ihren Star nun öffentlich ausstellen, als Reliquie. Reiter öffnete also die Gruft und staunte. Normalerweise würde man nach so langer Zeit »nur noch Knochen und Gewebsbrei« vorfinden, doch bei Schwartz war noch alles da: Finger, Nase, Weichteile, er war in einem »hervorragenden Zustand«, erinnert sich Reiter.
Der Mediziner hatte allerdings ein Problem. Der gut erhaltene Körper von Schwartz war etwas mürbe geworden in der muffigen Gruft. Was meinen Sie damit?, frage ich den Professor. »Braten Sie ein Huhn fünf Stunden im Backrohr. Dann können Sie keinen Hühnerflügel in die Hand nehmen, ohne dass Ihnen das Fleisch vom Knochen fällt.«
Um Schwartz beim Herausheben aus dem Sarg nicht zu zerbrechen, schob Reiter dem Toten also einen Gitterrost unter. In einem zweiten Schritt entkleidete er den Priester und senkte ihn in ein Bad mit hochprozentigem Alkohol. »Denken Sie an die Herstellung von Rum-Obst«, sagt Reiter. Nach mehreren hochprozentigen Bädern erhielt Schwartz nun ein Bad im Lösungsmittel Xylol, danach ein Wachsbad. Zwei Monate lang lag er in flüssigem Paraffin, also in Kerzenwachs. Damit dieses nicht aushärtet, legte Reiter eine mit kontinuierlich mit heißem Wasser durchflossene Kupferwendel in die Wanne.
Dann geschah die Panne. Als die Forensiker den Leichnam aus dem Paraffin herausgehoben hatten, bemerkten sie zu ihrem Entsetzen, dass die ursprünglich braunschwarze Haut des Toten plötzlich einen Farbton angenommen hatte, Schwartz wurde grün, »so ähnlich wie die Kuppel der Karlskirche in Wien«. Die Fettsäuren, die Reiter mit dem Lösungsmittelbad aus dem Körper herausgelöst hatte, gingen mit dem Kupfer der Kupferwendel eine Verbindung ein, sie bildeten Kupfersalze.
Reiter sagt, es sei undenkbar gewesen, »dass wir den Leichnam in diesem Zustand den Patres aushändigen«. Er färbte das Paraffin mit dem Farbstoff Sudanschwarz und glacierte damit den Leichnam wie ein Punschkrapferl. Mit seitlich am Körper liegenden Armen lag der Balsamierte nun also da, braunschwarz, nackt, »so wie es ein Gerichtsmediziner bei einer Leiche gewohnt ist«.
Die Patres aber bestanden darauf, dass dem Seligzusprechendem ein heiliges Kleid anzuziehen sei. Und die Hände, so baten sie, seien fromm vor der Brust zu verschränken. »Aber wir haben hier eine Leiche, die komplett ausgehärtet ist«, hielt Reiter ihnen entgegen. Die Arme würden sich nicht mehr bewegen lassen. Die Brüder blieben hart, und so griff Reiter zum Föhn. »Stundenlang haben wir die Gelenke des Toten mit heißer Luft erwärmt.« Überaus stressig sei diese Arbeit gewesen, »weil wir immer Angst hatten, es bricht irgendwas ab«. Die Operation gelang. Schwartz liegt heute feierlich eingekleidet und in der gewünschten Körperhaltung in einem Schneewittchensarg in der Kirche der Kalasantiner im fünfzehnten Wiener Gemeindebezirk unter dem Altar. Nur das Gesicht wurde aus rosafarbenem Wachs nachmodelliert, Reiters Werk gefiel den Ordensbrüdern offenbar doch nicht ganz.
Reiter lächelt etwas, als er diese Geschichte erzählt, weil sie auch so viel über das Selbstverständnis der Kirche verrät. Sie glaube, dass jene »vom Himmel ausgezeichnet« seien, »die vor der Verrottung bewahrt wurden«. Er zieht daher den Fall des »Armen Pilgers Koloman« aus einem Ordner, auch er ein armer Heiliger, der nicht verrotten sollte. Auch er ein Fall, von dem Reiter fasziniert ist.
Koloman war ein Pechvogel, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielt. Im Jahr 1012 trieb er sich in der Gegend von Melk herum — so steht es zumindest in den »Annalen« des dortigen Abtes Erchenfried. Als irischer Pilger auf dem Weg ins Heilige Land stellte er sich dar. Und genau das machte ihn bei den Vertretern des damals herrschenden Königs Heinrich II. verdächtig. Darüber hinaus war Koloman nicht des »Niederösterreichischen« mächtig, was die Obrigkeit darin bestärkte, ihn für einen ausländischen Spion zu halten.
In der Chronik des Abtes Erchenfried ist dokumentiert, was mit Koloman geschah. Die Niederösterreicher schlugen ihn mit Ruten, sperrten ihn in den Kerker, zwickten ihn mit glühenden Zangen. Dann zerschlugen sie seine Knie und hängten ihn bei lebendigem Leibe auf. Der Stein, auf dem Kolomans Körper anno 1012 malträtiert worden sein soll, ist noch heute zu sehen. Man kann ihn im Bischofstor des Stephansdomes in Wien berühren. Rudolf der Stifter hat ihn als Reliquie einmauern lassen. Glaubt man der Legende, klebte an ihm sogar noch Kolomans Blut. Koloman wurde damals auch nicht nur gefoltert, sondern gemeinsam mit zwei Räubern in der Stockerauer Au gehenkt, ähnlich wie Christus mit den beiden Schächern.
Im Frühjahr darauf aber offenbarte sich das Wunder. Während die Verbrecher neben dem heiligen Koloman von Vögeln, Käfern und Fliegenmaden aufgefressen worden waren, hing der Pilger immer noch unversehrt am Strick — die Liane als Strangwerkzeug voller Blüten. Koloman stank auch nicht, sondern »verströmte einen lieblichen Geruch«. Und dann trat auch noch jemand aus dem Volk an den Mann heran und schnitt ihm in die Wade, »so wie Gott es ihm im Traum befahl«. Der Sohn eines edlen Herrn Rumald habe eine Hautkrankheit gehabt und unter Schmerzen gelitten. Im Schlaf wurde dem Vater befohlen, ein Stück Gewebe von Koloman zu nehmen und auf die Wunden zu reiben. Und tatsächlich, es kam zur Heilung.
»Das ist die offizielle Version der Kirche«, sagt Reiter, das ist das göttliche Wunder. Reiter lächelt jetzt ein bisschen verschmitzt, er erinnert mich an William von Baskerville, den aufgeklärten, in der Verfilmung von Umberto Ecos Klosterkrimi »Der Name der Rose« von Sean Connery dargestellten Mönch. Jedem Aberglauben der mittelalterlichen Gottesmänner setzte er die wissenschaftliche Erklärung entgegen. Und ich staune wie Baskervilles Novize Adson von Melk und frage: »Wie war es wirklich?«
Die Sache mit dem unversehrten Leichnam ist leicht erklärt, fährt Reiter fort. Der malträtierte irische Pilger auf dem Weg ins Heilige Land besaß wohl nur einen ausgezehrten, ledrigen und dürren Körper. Ganz anders als die eher wohlgenährten Räuber links und rechts von ihm. Die Vögel verschmähten daher das magere Männlein und stürzten sich zuerst auf die zwei Gesellen daneben. Der Leichnam sei dann wohl auch in der Stockerauer Au im Winter sehr schnell »gefriergetrocknet«. Bei Stockerau im Nordwesten Wiens öffnet sich die Wiener Pforte, ein geologischer Spalt zwischen Bisamberg und Leopoldsberg. Düsenartig pfeift hier der Wind durch und nimmt Feuchtigkeit mit, sodass ein Erhängter relativ rasch konserviert werden kann. Und die Blüten um seinen Körper? Eine Liane, die damals wohl als Strang verwendet wurde, kann, trotzdem sie als Strangwerkzeug verwendet wurde, austreiben und erblühen. Bleibt die wohlriechende, heilende Flüssigkeit aus der Wade? Das wenige Körperfett wird durch bakteriellen Abbau »kurzkettig«, also dünnflüssiger, erklärt Reiter: »Flüssige Fette setzen sich der Schwerkraft folgend in den unteren Körperpartien ab, also auch in den Waden des Erhängten.«
Wer also auch immer in die Unterschenkel Kolomans geschnitten hat, erntete eine Art Öl, das antibakteriell wirkte und nach Speck und Salami roch. »Denken Sie an die aufklappbare Frau am gerichtsmedizinischen Institut«, erinnert mich der Professor. Der Koloman-Mythos war für Christian Reiter also relativ leicht zu knacken gewesen. »Mit ein bisschen Hirnschmalz und ein bisschen Literaturrecherche.«
Es gibt aber noch ein drittes »Wunder« in Reiters Archiv. Dieser Fall ist schon etwas rätselhafter. Er spielt neunhundert Jahre später und handelt von einem wohlhabenden ungarisch-burgenländischen Arzt, Ladislaus Batthyány-Strattmann. Auch er wurde vom Vatikan seliggesprochen, so wie Anton Maria Schwartz. Er war zwar kein Kirchenmann, aber ein gläubiger und vor allem karitativ-spendabler Aristokrat.
1870 wird Ladislaus als sechstes Kind in Dunakiliti, einem kleinen Dorf auf einer Schüttinsel in der Donau in Ungarn, in eine wohlhabende adelige Familie geboren. Sein Leben beginnt dramatisch. Mit zwölf stirbt seine Mutter, der Vater verschwindet. Er ist ein schlechter Schüler, wird wiederholt von Schulen verwiesen. Nach der Pubertät aber kratzt er die Kurve, studiert an der Universität für Bodenkultur, um die väterlichen Ländereien zu verwalten. Er interessiert sich auch für Astronomie, Chemie, Physik und Medizin. Mit 25 Jahren heiratet er die Gräfin Theresia von Coreth, zeugt mit ihr 13 Kinder und lässt sich im Jahr 1902 als praktischer Arzt nieder. Anders als die adelige Jeunesse dorée treibt er sich nicht auf Jagden und bei Gesellschaften herum, sondern studiert Augenheilkunde und Chirurgie. Er widmet sich den Armen, stiftet aus eigener Tasche das heute noch bestehende Krankenhaus in Kittsee, behandelt dort die bitterarmen Burgenländer und spendiert ihnen sogar ihre Arzneien. Bis zu einhundert Patienten am Tag versorgt der junge Arzt. Er bleibt trotz seines ererbten Reichtums bescheiden, stirbt aber 1931 mit sechzig Jahren an Blasenkrebs. Auf der Website des Krankenhauses ist noch heute ein Foto von ihm zu sehen. Es zeigt einen ernst und entschlossen blickenden jungen Mann mit elegantem, ins Gesicht gezogenem Hut und Fliege.
Schon zu seinen Lebzeiten wird Ladislaus von vielen seiner Patienten verehrt wie ein Heiliger. Der Apostolische Nuntius von Ungarn, Lorenzo Schioppa, schrieb an den Papst: »Die Leute halten den Fürsten für einen Heiligen. Ich kann Eurer Heiligkeit versichern, dass er es ist.« Im Jahr 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg, setzte sich auch der Wiener Kardinal Theodor Innitzer für die Seligsprechung ein. Dann vergehen wieder vierzig Jahre. Und 1989 geschah, wie der Vatikan meldete, »auf die Fürsprache des Dieners Gottes Ladislaus Batthyány-Strattmann ein Wunder. Ein Patient, der unter einer unheilbaren Krebserkrankung litt, wurde auf wissenschaftlich nicht erklärbare Weise plötzlich geheilt. Diese Heilung wurde eingehend geprüft und nach weiteren zwölf Jahren von der römischen Ärzte- und Theologenkommission als authentisch anerkannt.« Am 23. März 2003 wird der Fürst in Rom seliggesprochen.
Das Kirchenrecht und die vatikanische PR-Maschinerie schreiben während dieses langen Prozesses eine »Besichtigung und Bestandsaufnahme« der sterblichen Überreste des Verstorbenen vor. Es sollte ja kein illegaler Reliquienhandel oder Missbrauch aufkommen. Die Kirche wandte sich wieder an Reiter. Und der spricht von einem »Glück«. Denn wann kann man schon eine Familiengruft betreten, noch dazu die der berühmten Batthyánys, eine Art Schneewittchensarg, von dem er als Kind am Grab der Verwandten in Ottakring träumte.
Reiter machte sich, »entkoppelt von religiösen Überlegungen«, wie er sagt, daran, die Grabstätte zu untersuchen. Im Mai 1988 lässt er den schweren Deckel des Marmorsarkophags entfernen und findet darin einen verlöteten Metallsarg. Graf Batthyány war »aus hygienischen Gründen« eingedost, wie eine Ölsardine. So enden die meisten Adeligen in Österreich, klärt Reiter auf. Die ganze Wiener Kapuzinergruft, die große Grablege der Habsburger, müsse man sich als eine Ansammlung von Dosen vorstellen, in denen unter anderen die 19 Kaiserinnen und zwölf Kaiser für immer ruhen. Jetzt macht er so eine Dose auf, »mit einer Flex«. Es habe zunächst »ein bisschen erdig« gerochen, aber schon entdeckte er eine wirklich große Überraschung: »Die Umrisse des Toten waren komplett erhalten, sogar die Gesichtszüge.«
Ein Wunder? »Auf den ersten Blick lag da eine unversehrte Person im Sarg«, erinnert sich Reiter, »kein Skelett, sondern eine Person.« Aber dann sah Reiter genauer hin und tippte den Toten an — und schon zerfielen die Weichteile des Fürsten zu Staub, wie in einem Horrorfilm, wenn das Sonnenlicht den Vampir trifft. Wie konnte das sein?
Das war den Buckelfliegen (Phoridae) zuzuschreiben. Durch einen kleinen, bei der Verlötung offen gebliebenen Spalt zwischen Deckel und Unterteil zwängten sie sich in den Sarg, legten ihre Eier auf Ladislaus Batthyány-Strattmann, und die zwei bis drei Millimeter kleinen Maden fraßen jene Gewebsstrukturen auf, wo sie als Eier hingelegt worden waren, und verpuppten sich auch dort. Fünfzig Jahre lang, immer wieder. »Die Körperstrukturen und Umrisse sind nur dadurch zustande gekommen, dass die Millionen an Fliegenpuppen diese Umrisse nachgebildet haben.« — »Es sah aus wie Sägespäne, die jemand mit einem Haarspray fixiert.«
Die Buckelfliege kann sich auch unter sehr starkem Sauerstoffmangel und in der Kälte fortpflanzen, deshalb nennt Reiter sie auch »Gruftfliege«. Bei der leichtesten Berührung des Toten sei das Bauwerk von Generationen von Insekten jedoch zerbröselt. Aber Ladislaus Batthyány-Strattmann zerfiel durch Reiters Berührung nicht völlig zu Staub. Die Hände und das Herz waren wie durch ein Wunder erhalten geblieben. Des Fürsten Finger hielten ein silbernes Kruzifix, und auf dem Herzen lag ein goldenes Medaillon, es zeigte »Maria mit Krone und weitem Mantel«. Für den burgenländischen Bischof Stephan László schien die Sache klar: Gott ließ die heilenden Hände und das gute Herz nicht verrotten. Ein Zeichen des Himmels. Der Vatikan nahm Proben vom Herz und den Händen in Verwahrung, legte sie in ein Reliquiar und stellte sie im Ossarium zu Rom aus.
Nicht nur Reiter beschäftigte die Frage, warum der ganze Körper von Ladislaus Batthyány-Strattmann von Fliegenmaden aufgefressen wurde, nicht aber Herz und Hände. Auch der Bischof hatte ihn nach dem Rätsel gefragt. Im Refektorium der Franziskaner saßen die beiden und diskutierten über einem Teller Klostersuppe über das Wunder: »Lieber junger Freund«, fragte der Bischof den damals erst 33 Jahre alten Gerichtsmediziner, »können Sie mir sagen, was Sie aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht an diesem Wunder noch interessiert?« Reiter antwortete: »Herr Bischof, ich muss Ihnen gestehen, das ist zwar alles sehr imposant, aber ich glaube, dass alles naturwissenschaftlich erklärbar ist.«
Bei der bakteriellen Zerstörung eines Leichnams komme es je nach Fett- oder Eiweißgehalt zu einem feuchten sauren oder alkalischen Milieu. Die Weichteile werden im Sarg verflüssigt. Und in diesem Brei lagerten nun zwei verschiedene Metalle, nämlich die Kruzifixe aus Silber und der Anhänger aus Gold. Jeder Physiker weiß es: Wenn in einem Elektrolyten zwei verschiedene Metalle eintauchen, kommt es zum Stromfluss. Die silbernen Kruzifixe, die der Verstorbene in den Händen hielt, korrodierten also, und die Silberionen wanderten in Richtung Herz, wo das goldene Amulett lag. Silber wiederum wirkt antibakteriell. »Deshalb«, so sagte Reiter und löffelte seine Suppe, »sind die Hände und das Herz hier nicht durch Bakterien und Maden zerstört worden. Es tut mir leid, dass ich Sie desillusioniere mit dieser wissenschaftlichen Erklärung.«
Der Bischof wirkte überhaupt nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Er legte den Löffel zur Seite und überraschte den Mediziner mit seiner Erklärung: »Der Himmel bedient sich in dieser Welt nur jener Gesetze, die er für diese Welt geschaffen hat«, sagte er, »aber er bedient sich auch des Zufalls, um in dieser Welt Zeichen zu setzen. Wären die Kruzifixe dem Toten aus den Händen gefallen oder der Anhänger der Halskette nicht zufällig durch die Rippen auf den Herzbeutel abgesunken, wäre es nicht zu diesen auffälligen Befunden gekommen. Damit wollte uns der Himmel etwas sagen.«
Heute sagt Reiter: »Dem hatte ich nichts entgegenzuhalten.«