Wiederholt haben Reiter und ich darüber nachgedacht, wie man sich nach dem Tod am besten bestatten lassen sollte. Verbrennen? Das sei klimaschädlicher Irrsinn, wehrte Reiter ab. Für die Kremierung einer Leiche brauche es mehr als tausend Grad Celsius, und das über mehr als eine Stunde. Er werde sich wohl herkömmlich in einem Erdgrab kompostieren lassen, das sei ökologisch und nachhaltig. Die Bestattung in einer Gruft, also eingedost in einem Betonschacht zu vermodern, lehnt Reiter ab: »Oberflächenversiegelung«. Und zudem: Wer will schon von Buckelfliegenmaden gefressen werden wie der selige Fürst Batthyány-Strattmann oder mit sudanschwarzem Paraffin glaciert wie Pater Schwartz?
Seit ich Reiters Arbeit über den wohl aufsehenerregendsten Kriminalfall im geschichtsträchtigen Örtchen Mayerling lesen durfte, vor allem über diesen Leichenräuber aus Linz, sind mir Grüfte noch unheimlicher geworden.
Sie ziehen merkwürdige Leute an, etwa den Möbelhändler Helmut Flatzelsteiner. Reiter besitzt Fotografien, die der Mann von einem sehr besonderen Skelett angefertigt hat. Sie zeigen die Überreste von Mary Vetsera, der letzten Geliebten des habsburgischen Kronprinzen Rudolf. Reiter hat den Fall gelöst.
Für Reiter begann er 1992, mehr als einhundert Jahre nach dem umstrittenen Doppelselbstmord des Thronfolgers und der Baroness. Frau Ingrid, eine Pensionistin, spazierte wie so oft über den idyllisch gelegenen Friedhof in Heiligenkreuz. Aber diesmal machte sie eine Entdeckung, eine gruselige Entdeckung. Das Grab der dort bestatteten Baroness Vetsera wurde offensichtlich geöffnet. Frau Ingrid fiel auf, dass die Ritzen zwischen den Gruftplatten nicht wie bisher mit Moos verwachsen waren. Sie vermutete, dass sich irgendjemand an der Gruft zu schaffen gemacht hatte, und alarmierte die Behörden. Die wimmelten sie ab. Erst Monate später, im Dezember 1992, wird der Journalist Georg Markus von der Kronen Zeitung den Skandal enthüllen: Mary Vetsera wurde gestohlen.
Seit 1889 lag sie in Heiligenkreuz bestattet, gestorben unter immer noch ominösen Umständen, im Alter von nur 17 Jahren. Schon einmal war ihr Grab geschändet worden, von russischen Besatzungssoldaten, die nach Wertgegenständen suchten und mit einer Spitzhacke den Sarg beschädigten. Nun aber waren dieser Sarg und ihre Gebeine weg.
Es dauerte nicht lange, ehe ein Verdächtiger ausfindig gemacht werden konnte. Helmut Flatzelsteiner war es, ein von Vetseras Geschichte nahezu berauschter, schrulliger Mann. Er vertraute sich dem Reporter Georg Markus an. Er sei nicht nur im Besitz des Sarges, räumte er ein, sondern er selbst habe das Grab mit einigen im tschechischen Budweis angeworbenen Komplizen geöffnet. Flatzelsteiner trat damals an Gerichtsmediziner und Anthropologen heran und fabulierte davon, das Skelett seiner Urgroßmutter untersuchen lassen zu wollen. »Keiner fragte nach, keiner wollte wissen, wie er an dieses Gerippe gekommen war«, erinnert sich Christian Reiter. Selbst als er die Kleidung der Verstorbenen durch eine Expertin der Universität für angewandte Kunst in Wien analysieren ließ, schöpfte niemand Verdacht. Flatzelsteiner fertigte, wie Christian Reiter erzählt, zum Glück auch noch eine »hervorragende Fotodokumentation dieses Skeletts« an. Dann flog die Sache auf, Polizei und Staatsanwaltschaft wurden aktiv, und im niederösterreichischen Heiligenkreuz war die Hölle los.
Reiters damaliger Chef, Georg Bauer, stieg sogar selbst in die geschändete Gruft und fand noch ein paar Knöchelchen, mit deren Hilfe man Vetseras gestohlenes Skelett abglich. Und dann kam das hundertjährige Knochengerüst auf die Gerichtsmedizin. Christian Reiter war damals 36 Jahre jung, er durfte es nie sehen, aber er hütet heute die Fotos von Flatzelsteiner in seinem Archiv. Sie zeigen das schöne lange Haar, die eleganten Schuhe mit den hohen Absätzen — und sie zeigen den durchschossenen Schädel der Vetsera.
Reiter hat die Geschichte noch einmal rekonstruiert, »C.S.I. Mayerling« nannte er seinen Bericht. Ich gestehe, diese dramatische Geschichte kannte ich nicht im Detail, zu kaiserlich-kitschig war sie mir, ich hörte aber gerne Helmut Qualtingers und André Hellers böse Moritat »Im grünen Wald von Mayerling …«
Reiters Schilderungen dieses Falles faszinierten mich dann aber doch. Ich las nach: Da war Kronprinz Rudolf, ein von seinem Vater, Kaiser Franz Joseph, zu einem psychischen Wrack dressierter junger Mann, der dessen Nachfolger hätte werden sollen. Nach einer Jagdparty nahm er ein junges Mädchen mit in den Tod. Sein Vater, ja der ganze Hof, versuchten die Tat als Selbstmord des Mädchens, ja sogar als Attentat umzulügen.
Wir schreiben das Jahr 1889. Mary Vetsera, 17 Jahre alt, bildhübsch, heute wohl ein Model und sogenanntes It-Girl, wie Reiter es nennt, fährt gegen den Willen der Mutter hinaus nach Mayerling, in das kleine Jagdschloss des Kronprinzen Rudolf im Südwesten von Wien. Schon als junges Mädchen hatte sie ihn kennengelernt. Als sie zur jungen Frau heranreifte, mit langen Haaren und ernstem Blick, wird sie, nach der damaligen Diktion, in den Wiener Salons als »verführerische, kleine Nixe« eingestuft. Auch Rudolf interessierte sich für sie. Er schenkte ihr einen Ring, darin eingraviert »I-L-V-B-I-D-T«, also »in Liebe vereint bis in den Tod«. Sie schreibt ihrer Klavierlehrerin: »Wir gehören uns mit Leib und Seele an«, der dreißigjährige Kronprinz Rudolf, ein an Drogen und Alkohol verlorener Mann, und der Teenager Mary.
Rudolf, Sohn von Kaiser Franz Joseph und von Elisabeth, besser bekannt als Sisi, wird als Kind, so würde man es heute formulieren, systematisch misshandelt. Der Kaiser setzt den Buben im Lainzer Tiergarten aus, in der Nacht lässt er ihn mit Pistolenschüssen wecken oder im Hof exerzieren. Er wird als Kind gebrochen, Sisi, die Mutter, schreitet ein und ermöglicht ihm eine humanistische Ausbildung.
Der Kaiser wollte aus dem nervösen Kind einen Militaristen machen, weil er angeblich nur so imstande gewesen wäre, das Habsburgerreich in die Zukunft zu leiten. Der Kronprinz reift zu einem fragilen, liberalen, antiklerikalen Menschen heran, interessiert an den Wissenschaften. »Er hat seziert«, erzählt Reiter, »er hat hervorragend gezeichnet, er war ein musischer und kunstsinniger Geist.« In Beiträgen für Zeitungen schrieb er unter Verwendung eines Pseudonyms gegen den Vater an. Dieser erfuhr es durch seine Spitzel und disziplinierte ihn. Rudolf betäubt sich mit Kokain und Morphium und verliert sich in amourösen Affären. Schon seine heimliche Geliebte, Mizzi Kaspar, will er mit in den Tod nehmen, sie weist ihn diesbezüglich ab. Seine Frau, Stephanie von Belgien, Tochter von König Leopold II., infiziert er derweil mit Gonorrhö — eine Tripper-Erkrankung.
Ein autoritärer Vater, ein gebrochener, drogenkranker Sohn. So lebten die Habsburger in jenen Zeiten hinter den Kulissen der Macht. Die Welt war im Umbruch. Und dann passiert in diesem kleinen Mayerling ein Drama, das das Weltgeschehen komplett verändern sollte: Am 29. Jänner 1889 lädt Rudolf die aristokratische Schickeria zu einer Party auf sein Anwesen in Mayerling. Auch Mary Vetsera sollte dabei sein. Von seinem Leibfiaker Johann Bratfisch wird sie gewissermaßen nachgeliefert, in einem eigenen Zimmer wartet sie auf ihn. Am Abend gibt der Kronprinz seinem Kammerdiener Johann Loschek noch den Auftrag, ihn zeitig in der Früh zu wecken. In der Nacht vernimmt Loschek aufgeregte Gespräche zwischen Mary und Rudolf. In der Früh hört er zwei Schüsse. Er riecht Pulverdampf, holt andere Männer herbei, schlägt die Tür ein und findet den Kronprinzen und Mary im Blut im Bett. Jahrzehnte später, 1928, gibt Loschek seinem Sohn zu Protokoll, was er damals sah: »Welch grauenhafter Anblick — Rudolf lag entseelt auf seinem Bette angezogen, Mary Vetsera ebenfalls auf ihrem Bette vollständig angekleidet. Rudolfs Armeerevolver lag neben ihm. Beide hatten sich überhaupt nicht schlafen gelegt. Beiden hing der Kopf herunter. Gleich beim ersten Anblick konnte man sehen, dass Rudolf zuerst Mary Vetsera erschossen hatte und dann sich selbst entleibte. Es fielen nur zwei wohlgezielte Schüsse. (…) Die Betten standen nicht wie Ehebetten nebeneinander, sondern an den beiden Wänden. Auf dem Nachtkästchen Rudolfs war ein einfacher Zettel, an mich adressiert, und darauf stand: ›Lieber Loschek! Holen Sie einen Geistlichen und lassen Sie uns in einem gemeinsamen Grabe in Heiligenkreuz beisetzen. (…) Rudolf.‹«
Die Habsburger vertuschen den Mord an Mary und den Selbstmord Rudolfs nach allen Regeln der Kunst. Mary wird — so lautet eine Legende — noch in Mayerling umgekleidet. Man habe ihr die blutigen Kleider aus- und ein frisches Kleid übergezogen und einen Besenstiel hinten durchs Kleid gesteckt, sodass sie als Leiche in einer Kutsche aufrecht sitzen konnte. Man habe ihr dort, wo der Schuss eingedrungen sei, einen Hut aufgesetzt. Ob die Kostümierung wirklich so erfolgte, ist heute umstritten. Fest steht nur, dass sie an der Friedhofsmauer in der Ecke der Selbstmörder verscharrt und erst auf Drängen der Mutter später umgebettet wird. Es ist ein Begräbnis ohne jede Würde, auf eine gespenstische und eigentlich unheimliche Art exekutiert.
Ein unabhängiger Selbstmord also, so hätten die Habsburger die Tat gerne gesehen. Und auch Kronprinz Rudolf, so ergab ein sogenannter hofinterner, bis heute nicht veröffentlichter Obduktionsbericht, habe sich den Schuss »selbst beigebracht«, in einem Zustand geistiger Umnachtung wohlgemerkt. Damit war es möglich, ihm die Todsünde des Selbstmordes nachzusehen. Denn der Suizid wurde damals von der Kirche geächtet, ein kirchliches Begräbnis eines Selbstmörders wäre nicht gestattet gewesen, schon gar nicht in der Kapuzinergruft. Das Herrscherhaus, sagt Reiter, konnte es sich richten. Und Mary Vetsera? Hatte Rudolf sie ermordet, oder tötete sie sich selbst? Oder war sie die Selbstmörderin, zu der sie die Habsburger erklärten?
Sowohl Kronprinz Rudolf als auch Mary Vetsera schrieben Abschiedsbriefe. »Liebe Stephanie«, schrieb Rudolf an seine Frau, »Du bist von meiner Gegenwart und Plage befreit. Werde glücklich auf Deine Art. Sei gut für die arme Kleine, die das Einzige ist, was von mir übrigbleibt. (…) Ich gehe ruhig in den Tod, der allein meinen guten Namen retten kann. Dich herzlichst umarmend, Dein Dich liebender Rudolf.«
Mary schrieb am 29. Jänner 1889 an ihre Schwester: »Meine liebe Hannah, wenige Stunden vor meinem Tod will ich Dir adieu sagen. Wir gehen beide selig in das ungewisse Jenseits. Weine nicht um mich, ich gehe fidel hinüber.«
Marys Briefe allerdings wurden versteckt, sagt Reiter, sie waren in Privatbesitz, und erst 2015 entdeckte man sie in einem Schließfach der Schöllerbank. Aber immer noch war nicht geklärt, wie Mary Vetsera starb. Hatte sie sich erschossen? Und sich Rudolf dann das Leben genommen? Weder im 19. Jahrhundert noch nach dem Grabraub wird ihr Körper begutachtet. Vetseras Nachkommen wollten es nicht.
Was es gibt, das sind die Fotos des Möbelhändlers Flatzelsteiner, die Christian Reiter vor sich hat. »Und auf denen war eindeutig zu erkennen, dass hinter dem rechten Ohr eine Lücke im Schädel ist, die eine trichterförmige Verbreiterung nach außen erkennen lässt.« Die Ballistiker nennen es das »Schneepflugphänomen«. Das Projektil schiebt das Gewebe vor sich her, »und Ausschüsse sind immer trichterförmig nach außen sich verbreiternd«. Mit fototechnischen Methoden hatte Reiter dann den Kopf vervollständigt. »Man konnte sehen, dass ein Einschuss in der linken Schläfenregion gelegen ist und — das ist das Bemerkenswerte — dass der Schusskanal nicht wie bei einem Selbstmörder aufsteigend ist.« Mary war Rechtshänderin.
Reiter gelangte nicht nur an die Fotos, sondern auch an eine von Flatzelsteiner zurückbehaltene Haarlocke Marys. Mittels Rasterelektronenmikroskopie der Haare konnte er auch Schmauchbestandteile und Blei- sowie Knochenpartikel nachweisen. Ein Beweis für einen Schuss aus allernächster Nähe. Reiter ist sich sicher: Der Kronprinz hat zuerst Mary erschossen und dann sich selbst. So wie es der Kammerdiener Loschek seinem Sohn zu Protokoll gegeben hatte.