Mary Vetseras Fall zeigt es: Das Haar, letztlich auch nur ein langer Hornfaden, ist Speicher von Beweisen, ein Chronometer unseres Lebens. Die in ihm aufbewahrte Information überdauert uns, die moderne Technik schafft es, mithilfe unserer Haare Jahrhunderte zurückzublicken. Haare archivieren nicht nur Spuren von Schmauch und Schwermetallen, sie dokumentieren auch Zeiten des Hungers und der Not. Oder Seitensprünge unserer Urahnen.
Haare enthalten mitochondriale DNA — und damit Teile unseres mütterlichen Erbgutes. Wer über die Haare eines Toten verfügt, kann Teile seines Lebens aufschlüsseln, seine Krankheiten, seine Vorlieben, seine Leidenschaften. Die Möglichkeiten der Wissenschaft haben sich in den vergangenen Jahren potenziert. Und damit auch die Überraschungen.
Das erste Mal lernte ich vom forensischen Faszinosum der Haare, als ich für die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit arbeitete. Während einer Recherche über das »Outsourcing of Torture« von Terrorverdächtigen durch den US-Geheimdienst CIA auf europäischem Boden traf ich im Jahr 2005 auf den Ulmer Rechtsanwalt Manfred Gnjidic. Wir saßen in einem rustikalen Dorfgasthaus in Ulm bei Ente, Rotkraut und schweren Kartoffelknödeln, als er mir die schier unglaubliche Geschichte seines deutsch-libanesischen Mandanten Khaled al-Masri erzählte.
Der Mann sei eines Tages bei ihm im Büro gestanden und habe davon berichtet, in die Mühlen der Weltpolitik geraten zu sein, erzählte Gnjidic. Er habe ihn um anwaltliche Hilfe gebeten. Er sei 2003, im Alter von vierzig Jahren, in Mazedonien von der Polizei verhaftet, amerikanischen Agenten übergeben, von diesen nach Afghanistan verschleppt und dort in einem dunklen Verlies wochenlang gefoltert worden. Und zwar, weil ihn amerikanische Agenten für einen Mitwisser der Attentate vom 11. September auf das World Trade Center hielten. Er sei damals in einen Hungerstreik getreten und habe 18 Kilo abgenommen. Als die US-Behörden erkannt hatten, dass sie al-Masri mit einem Al-Kaida-Terroristen verwechselt hatten, habe ihn die CIA in einem albanischen Wald ausgesetzt. Er sollte schweigen.
Gnjidic erzählte mir, dass er al-Masris Geschichte zunächst für »Quatsch« gehalten habe. Er befürchtete, wieder einmal einem Mandanten mit Verfolgungswahn gegenüberzustehen. Gnjidic wies al-Masri dennoch nicht die Tür, sondern er nahm ihn ernst. Er schickte ihn zu einem Chemiker, der seine langen, lockigen Haare untersuchte. Und tatsächlich entdeckte dieser darin einen Abschnitt, der Unterernährung und Unterversorgung dokumentierte. Er passte chronologisch genau zu den Angaben al-Masris. Via New York Times wurde die Geschichte damals enthüllt; deutsche Medien fanden heraus, dass auch deutsche Behörden in den Fall verwickelt waren. Al-Masri lebt heute schwer erkrankt in Graz, er strauchelte, saß später wegen Gewaltausbrüchen jahrelang in Haft und fand nie wieder in ein normales Leben zurück.
Reiter wiederum erzählte mir vom rätselhaften Tod zweier gesunder Männer, die plötzlich fürchterliche Qualen litten, ehe sie nach monatelangem Martyrium zugrunde gingen. Wie sich später herausstellte, hatten die beiden dieselbe Haushälterin, eine Polin. Verdorbene Wurst hätte eines der Opfer zu Beginn seiner Erkrankungen gegessen, gab sie zu Protokoll. Doch in Wahrheit war es, wie Reiter mithilfe von Chemikern nach einer Exhumierung der Männer entdeckte, Arsen, das die Polin vermutlich aus einem aufgelassenen Bergwerk in ihrer Heimat erwarb. Sie mischte es den Männern heimlich ins Essen, Reiter überführte sie anhand von chemischen Analysen von Haaren und Fingernägeln. Die Mörderin sitzt eine lebenslange Haftstrafe ab.
Halb- und Schwermetalle sind in unseren Körpern auf Jahrhunderte nachweisbar. Und das führt uns zu den Haaren einer besonders prominenten Person: zu den Locken von Ludwig van Beethoven. Die wenigen Haare, die weltweit noch von ihm existieren, waren und sind nicht nur ein beliebtes und auf Auktionen teuer gehandeltes Sammlerobjekt von Beethoven-Fans. Um seine Haarpracht ist auch ein leidenschaftlich geführter wissenschaftlicher Disput entbrannt, der auch Reiter berührt hat.
Der Disput gibt vor allem Einblick, mit welchen faszinierenden Methoden sich Biologen, Genetiker, Forensiker und Anthropologen an die Wahrheit heranforschen. Und er gibt Einblick in die Nöte eines weltberühmten Genies, der wie ein armer Hund zugrunde ging.
Ludwig van Beethoven, 1770 in Bonn geboren, 1827 »im Blitz und Donner eines Frühlingsgewitters in Wien gestorben« (Der Spiegel anno 1956), ist frühzeitig schwerhörig geworden, ehe er fast völlig sein Gehör verlor. Warum wurde ein Mann taub, der noch gehörlos komponierte und dirigierte? Schon zu Lebzeiten rätselten seine Ärzte, Beethoven selbst verfügte mit 31 Jahren in seinem berühmten »Heiligenstädter Testament«, die Wissenschaft möge dies durch eine Obduktion aufklären und »meine Krankheit beschreiben«. Beethovens Schädel wurde aufgesägt, seine Gehörknochen entnommen, sie verschwanden später auf mysteriöse Art. Seine Organe wurden seziert, er wurde gleich zweimal exhumiert und angebliche Knochenstücke seines Schädels im Jahr 2023 von einem Amerikaner der Medizinischen Universität Wien vermacht. Auch Christian Reiter ist in die Begutachtung von Beethovens Knochen und Haaren — deren endgültige Identität noch nicht bewiesen ist — involviert.
Eines kann man vorwegnehmen: Mediziner, Biologen und Genetiker haben für Beethovens Gehörverlust bis heute keine schlüssige Erklärung. Sie beantworten derweil andere Fragen: etwa die, ob er an einer Leberzirrhose starb, ausgelöst durch Hepatitis B und übermäßigen Konsum von Wein, der damals eventuell mit Bleizucker gesüßt wurde. Oder wurde er doch das Opfer seines letzten Arztes, der den mit Wassersucht dahinsiechenden Komponisten nach einer Lungenentzündung mit einer sogenannten Bleiarznei behandelte und ihm solcherart den Rest gab? Das ist Christian Reiters Theorie, aber eines von zwei wichtigen Beweisstücken dafür, so erfahren wir während der Zusammenarbeit, ist unbrauchbar geworden.
Die Causa Beethoven ist nicht nur so faszinierend, weil sich hier Experten leidenschaftlich, ja fast verbissen dem Leben eines Komponisten widmen, sondern weil sie auch zeigt, wie die Wiener Fankultur vor zweihundert Jahren aussah. Beethovens Groupies hatten zu seinen Lebzeiten, aber auch an seinem Sterbebett den Drang verspürt, an ein paar von Ludwigs imposanten Locken zu gelangen. Beethoven, so ging das Gerücht, sei nahezu kahlköpfig gewesen, als man ihn begrub, weil so viele Fans eine Locke als Reliquie begehrten.
Auch Mozarts oder Schuberts Locken wurden teuer gehandelt, sorgfältig verwahrt und von Forensikern, Genetikern und Anthropologen untersucht. Jedoch übte das Locken-Business auch beträchtliche Anziehungskraft auf Gauner und Betrüger aus. Schon zu Lebzeiten Beethovens wurden einer Verehrerin Ziegenborsten als Komponistenhaar untergeschoben. Beethoven selbst deckte den Schwindel auf und schnitt sich eine Locke ab, um den betrogenen Fan zu entschädigen. Und nun stellte sich heraus, dass eine ganz berühmte Locke, an der Christian Reiter seine spannende und in internationalen Fachblättern publizierte Theorie aufbaute, offenbar auch nicht von Beethoven stammt, sondern von einer Jüdin. Aber alles der Reihe nach.
Am 1. Dezember 1994 knallt beim berühmten Auktionshaus Sotheby’s der Hammer. Wohlfeile 3600 Pfund blättern der amerikanische Immobilienmakler Ira F. Brilliant und der Urologe Alfredo Guevara für 582 Haare hin, die in einem Medaillon kunstvoll zu einer Locke gedreht worden waren. Der erst 15-jährige Frankfurter Musikschüler Ferdinand Hiller soll sie Beethoven am Totenbett abgeschnitten und 56 Jahre später seinem Sohn Paul Hiller vererbt haben. In den Wirren des zwanzigsten Jahrhunderts — die Hillers waren Juden — verliert sich der Weg der Locke. Ab Oktober 1943 ist die »Hiller-Locke« im Besitz des dänischen Arztes Kay A. Fremming aus Gilleleje dokumentiert. Fremming unterstützte Juden, offenbar auch einen Erben der Hillers, bei der Flucht vor den Nazis nach Schweden.
Der Urologe und der Immobilienmakler ersteigern also das Hiller-Medaillon, öffnen es im Dezember 1995. Der Urologe bekommt 160 der 582 Haare. Die verbliebenen 422 Haare werden am Ira F. Brilliant Center for Beethoven Studies an der San José State University museal verwahrt.
Nicht nur Sotheby’s deklariert die Hiller-Locke als echt. Bücher und Fachaufsätze werden über diese profane Reliquie geschrieben, Filme gedreht, ganze Theorien bauen auf dem Haarbüschel auf. Der Urologe Guevara verspürte aber nicht nur das Bedürfnis, die Haare des Genius zu besitzen, sondern er möchte auch dem Wunsch Beethovens nachkommen, den er in seinem Heiligenstädter Testament zum Ausdruck gebracht hat, nämlich die Gründe der Taubheit zu ergründen. Die Hiller-Locke bot die Möglichkeit, es herauszufinden, glaubte er.
Schon in den USA wurde die Locke in einem Teilchenbeschleuniger auf Schwermetalle untersucht. Es kursierte das Gerücht, Beethoven habe an Syphilis gelitten, eine Geschlechtskrankheit, die damals mit Quecksilber behandelt wurde. Die Forscher finden aber statt Quecksilber etwas anderes: zirka hundertmal so viel Blei als normal.
Nun betritt Christian Reiter die Bühne. Guevara lernt ihn durch einen Film über die Hiller-Locke kennen und überlässt ihm drei Haare. Reiter untersucht sie gemeinsam mit dem Chemiker Thomas Prohaska mit den neuesten Technologien. Mithilfe eines hochenergetischen, zehn Mikrometer dünnen Laserstrahles verdampfen die Forscher die Haarmatrix in achtzig Mikrometerschritten und analysieren dann die Verdampfungsrückstände. Die Haare werden »nadelöhrartig durchschossen«, erzählt Reiter. Am Ende sehen sie aus wie eine Strickleiter. Ergebnis der Untersuchung: Die Hiller-Locke verfüge tatsächlich über eine Bleikonzentration, die »schwankend um einen Faktor zehn- bis einhundertmal erhöht« ist. Kurz vor Beethovens Tod sei der Bleiwert enorm angestiegen.
Reiter untersucht nicht nur die Hiller-Locke, sondern auch die sogenannte »Jedlesee- oder Bernard-Locke«. Noch ein Haarbüschel, das Beethoven am Totenbett abgeschnitten worden sein soll. Sie liegt heute aufgeteilt sowohl im Bezirksmuseum Wien-Floridsdorf als auch im Beethovenhaus Baden, ursprünglich stand sie im Besitz des Rollettmuseums in Baden, dort, wo auch Angelo Solimans Totenbüste ausgestellt ist. »Die detaillierte Untersuchung einiger Haare aus dieser Locke bestätigt das gleiche Bleiverteilungsmuster, wie es bereits in der Hiller-Locke vorgefunden wurde«, schreibt Reiter. Eine enorme Bleibelastung in den letzten Tagen vor dem Tod und immer wieder ein paar Blei-Peaks in den Wochen davor. Reiter konstruierte mit seinen Untersuchungen nun eine Theorie, die in internationalen Medien, aber auch in den Fachblättern der Beethoven-Gesellschaften breite Beachtung findet. Seine These: Beethoven war letztlich auch das Opfer seiner Therapie und seiner Ärzte. Sie hätten ihm in Form von Bleiarzneien den letzten Rest gegeben. Wie viele seiner Zeitgenossen hatte auch Beethoven Blei zu sich genommen, denn der sorglose Umgang mit Schwermetallen war damals üblich. Etwa über den Verzehr von Fischen aus den bleibelasteten Wiener Gewässern. Oder durch den Genuss des mit Bleizucker gesüßten Weins — denn er liebte den lieblichen Wein von der Mosel und den Tokajer. Aber diese Mengen haben den Komponisten nicht über das normale Maß belastet.
Es sei anders gewesen: Beethoven habe den Spätsommer und Herbst 1826 bei seinem Bruder in Gneixendorf in der Wachau verbracht. 56 Jahre war er damals alt, aber schon lebensbedrohlich angeschlagen. Beethoven litt an Hepatitis B, die er sich aufgrund seines Lebenswandel eingefangen hatte und an einer dadurch ausgelösten Leberzirrhose. Beethovens Bauchumfang nahm deshalb zu, es entwickelte sich eine »Bauchwassersucht«. Er wird dicker, obwohl er nicht viel isst. Reiter sagt: »Da bahnte sich langsam ein Leberversagen an.«
Im Spätherbst reist der kranke Beethoven von der Wachau zurück nach Wien in seine Wohnung in der Schwarzspanierstraße. Beethoven, ein sparsamer Mann, hatte sich entschlossen, mit einem sogenannten Milliwagen zu reisen, einem Leiterwagen ohne Verdeck, mit dem Milchkannen transportiert wurden. Ein Regen überrascht ihn, er übernachtet durchnässt in einem ungeheizten Gasthof und holt sich dort eine Lungenentzündung. Als er in Wien ankommt, ruft er bereits fiebernd nach einem Arzt. Der Patient war bei den Ärzten eher unbeliebt, weil er ihnen zu verstehen gab, dass sie unfähig dazu wären, seine Ertaubung zu verhindern. Nach drei Tagen erst wird Dr. Andreas Ignaz Wawruch aus dem Garnisonsspital hinzugezogen, der die letzten Wochen im Leben Beethovens in einem posthum veröffentlichten Brief dokumentieren wird. Wawruch führt laut seinem Dokument eine »streng entzündungswidrige Therapie« durch. Er heilt zwar Beethovens Lungenentzündung, dafür nimmt nun dessen Bauchumfang rapide zu, die Leber beginnt zu versagen. Die Bauchwassersucht drückt das Zwerchfell nach oben, was dazu führt, dass Beethoven nicht mehr richtig atmen kann. Ein zu Hilfe gerufener Chirurg steckt ihm nun ein Metallrohr in den Bauch, um die Flüssigkeit aus dem Bauch abzulassen. Beethoven »musste die Zähne zusammenbeißen«, sagt Reiter, »während der Chirurg es so lange rinnen lässt, wie es rinnt«. Etwa vierzig Liter sollen ihm nach und nach abgelassen worden sein.
Der weltberühmte Beethoven liegt also in der Schwarzspanierstraße im heutigen neunten Bezirk auf einem Strohsack, der von seinem Bauchwasser durchtränkt und durchfeuchtet war. Reiter sagt: »Er war ein bemitleidenswerter Mensch.« Die Bauchwunde entzündete sich natürlich, und Beethoven bekommt zur Desinfektion aller Wahrscheinlichkeit nach immer wieder ein sogenanntes Bleipflaster. Schweineschmalz wurde damals mit Bleisalzen gekocht, die klebrige, desinfizierende Paste wie ein Verband zur Versiegelung der Punktionsstelle aufgetragen. Reiter sagt, das sei laut damaliger Arzneimittellehren Standard gewesen. Selbstverständlich sei Blei vom Körper an den Wundrändern aufgenommen worden.
Woran ist Beethoven also gestorben? Im Obduktionsprotokoll zeige sich eine »kleinknotige Leberzirrhose«, die für eine durchgemachte Hepatitis-Infektion spreche. Dass Beethoven trotz schlechter Leber täglich getrunken habe, war wohl für seinen Krankheitsverlauf beschleunigend. Und hier, erklärt Reiter, spielen die von ihm untersuchten Haare eine Rolle. Sie würden beweisen, dass Beethovens Locken immer dann mit Blei belastet wurden, wenn Doktor Wawruch die »streng entzündungswidrige Therapie« und die Bleischmalz-Pflaster auftrug. Durch die Bleitherapie habe Beethovens Leber endgültig versagt.
Für die nicht gerade kleine Beethoven-Community war das eine große Geschichte, die Reiter da erzählte. Die Story war nicht zuletzt deshalb so reizvoll, weil auch die Beweisstücke damit große Geschichte zu atmen schienen. Eine Locke, die ein junger Mann dem toten Genius vom Kopf schnitt, die dann in den Wirren der Nazizeit bei einem dänischen Arzt landete. Einem Arzt, dessen Nachfahren die Haare bei Sotheby’s versteigern ließen. Und die dann über den Umweg eines amerikanischen Urologen mit dem klingenden Namen Alfredo Guevara bei Reiter landeten.
Aber stimmt diese Geschichte? Oder ist sie zu gut? Ende 2022, als Reiter seine Forschungsergebnisse via Podcast wieder einmal berichtete, erreichte uns die E-Mail eines Beethoven-Forschers aus den USA. Es gebe erste Hinweise, dass die Angelegenheit möglicherweise doch ganz anders sei. Die berühmte und in Film und Literatur verewigte Hiller-Locke, so lautete das Gerücht innerhalb der Beethoven-Szene, stamme vielleicht gar nicht vom Genius.
Und tatsächlich: Im März 2023 veröffentlichte Tristan Begg, ein junger Forscher aus Cambridge, eine bahnbrechende internationale Studie. Begg untersuchte gemeinsam mit einem interdisziplinären Forscherteam acht unterschiedliche Locken, die Beethoven zugeschrieben wurden. Er entschlüsselte Beethovens Genom, entdeckte, dass ein Vorfahre ein Kuckuckskind war, er fand genetische Hinweise, dass Beethovens Leberleiden auch genetisch programmiert war. Beggs beeindruckende Arbeit entstand gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, das das Neandertaler- und das Denisovagenom entschlüsselt hatte.
Und Begg publizierte noch etwas: Die berühmte Hiller-Locke sei mit Sicherheit nicht vom Kopf des Genius geschnitten worden, denn sie enthalte keine DNA von Beethoven. Ganz im Gegenteil: Die Haare würden von einer askenasischen Jüdin stammen, es befinde sich »nicht ein einziges Molekül« von Beethoven darin, schreibt Begg.
Wie konnte das sein? Reiter argumentiert, die Hiller-Locke sei 56 Jahre unter unbekannten Bedingungen verwahrt gewesen, bevor sie in das Medaillon kam. Feuchtigkeit und Bakterien oder auch lang dauernde Sonnenlicht- beziehungsweise UV-Einwirkung könnten die DNA Beethovens zerstört haben, wie man dies häufig zum Beispiel bei unsachgemäß gelagerten biologischen Spuren in Kriminalfällen feststellen muss. Diese DNA-losen Haare Beethovens könnten vielleicht in späterer Folge mit fremder DNA auf Klebstoff kontaminiert worden sein. Ein weibliches Mitglied der Familie Hiller habe sie, bevor sie in das Medaillon gelegt worden waren, womöglich mit Leim zusammengeklebt und dabei ihre DNA darauf hinterlassen. Und tatsächlich lassen sich im Rasterelektronenmikroskop auch Leimauftragungen auf den Haaren nachweisen.
Forscher Begg schließt das aus, etwas verärgert schreibt er mir: »Dafür gibt es keinerlei Beweise.« Die Locke sei nicht mit weiblicher DNA kontaminiert, sondern stamme von einer Frau. Die gesamte Herkunft der Hiller-Locke sei viel zu schwach dokumentiert.
Und der Bleigehalt in der zweiten Locke, die Reiter für seine Bleivergiftungstheorie vorlegt? Auch hier sei Vorsicht geboten, warnte 2007 wiederum ein amerikanischer Toxikologe in einer Replik auf Reiters Publikation. Die Messmethoden seien nicht so verlässlich, wie die Wiener Forscher das vermuten. Hohe Bleibelastungen habe es zudem immer wieder gegeben. Im Mai 2024 erschien nun eine Publikation eines amerikanischen Forscherteams, die in zwei Haarproben , die molekularbiologisch eindeutig Beethoven zugeschrieben werden können, tatsächlich abnorm erhöhte Bleikonzentrationen nachweisen konnten. »Faszinierend«, sagt Reiter dann doch etwas grummelig auf all die vorliegenden Ergebnisse, »wir werden weitermachen bei der Suche nach der Wahrheit.«
Natürlich wurmt es ihn ein bisschen, dass seine Theorie angezweifelt — Begg sagt: »widerlegt« — wird, aber es gibt noch weitere Haarlocken Beethovens und vor allem die angeblich im Teilchenbeschleuniger in den USA als bleibelastet nachgewiesenen Schädelknochen, deren Echtheit noch mit der DNA aus den »echten« Locken abzugleichen wäre.
So ist das in der Wissenschaft. »Jede Publikation ist ein Beitrag zum Kanon unseres Wissens«, formuliert Begg in einer E-Mail an mich. Einer allein könne die Wahrheit nicht finden, aber viele Forscher gemeinsam können sich dieser nähern, ergänzt Reiter. Und die Taubheit Beethovens? Sie ist nach wie vor ein Rätsel. Im Genom des Genius findet sich keine Erklärung dafür.