Schubumkehr —
Reiters Albtraum

Es ist Sonntag. Wochenenddienst für Christian Reiter am gerichtsmedizinischen Institut. Das Telefon läutet. Reiter hebt ab. »Über dem Wienerwald«, sagt die Stimme eines Kriminalbeamten, »ist ein Flugzeug abgestürzt!« Der ganze Wald ist voll mit Leichen. Die Stimme befiehlt: »Kommen Sie! Schnell!«

Reiter notiert die wichtigsten Koordinaten. Er versucht, seine Kollegen zu verständigen. Er wählt verschiedene Nummern: Die Polizei, die Staatsanwaltschaft, niemand hebt ab, er steckt in einer Warteschleife, aber die Stimme ruft: »Die Toten hängen in den Bäumen, irgendwer muss sie identifizieren!« Dann schreckt er schweißgebadet auf aus dem Schlaf.

In jungen Jahren wurde Christian Reiter immer wieder geplagt von diesem Albtraum. Der Horror hatte einen realen Hintergrund: ein Großbrand, verdrängt aus dem Gedächtnis der Wiener, aber nicht verdrängt aus dem seinen. Am 28. September 1979 brannte es im Hotel am Augarten, eine Katastrophe, die die meisten Opfer in Friedenszeiten in Wien verursachte. Eine glimmende Zigarette war in der Portierloge des Hotels unbemerkt zu Boden gefallen. Der Spannteppich gloste, giftige Rauchgase erfüllten das Hotel, ehe das Feuer ausbrach. 25 schlafende Hotelgäste starben, bevor das Feuer überhaupt bemerkt wurde. »Die Leichen«, erinnert sich Reiter, »waren nur ein bisschen berußt.«

Reiter hatte damals gerade sein Medizinstudium abgeschlossen, seine Einschätzungen als junger Assistent an der Gerichtsmedizin waren bei den Eminenzen nicht gefragt. Im Gegenteil: »Ich habe die Gosch’n halten und zuschauen dürfen. Und das habe ich auch gemacht.«

Er hätte aber gerne etwas gesagt. Denn er erinnert sich noch heute mit Schaudern daran, wie die Toten den Hinterbliebenen oder anderen Zeugen auf Wagerln vorgeführt wurden. »Die Leute betrachteten die Verstorbenen und sagten: Ja, den kenne ich vom Frühstück, der ist am Tisch neben mir gesessen, das war der Herr Müller, das ist die Frau Meier.«

Damals wurden die Menschen auf diese Weise identifiziert, und Reiter dachte: Das kann’s nicht sein. Das ist keine Wissenschaft, da kann ja jeder irgendwas behaupten. Zahnstatus, Narben, Tätowierungen: Nichts davon wurde dokumentiert. Die schlampige Feststellung der Identität von Toten hat jedoch weitreichende Konsequenzen. Menschen, die nicht identifiziert sind, gelten als vermisst. Und Menschen, die für tot erklärt werden, aber noch leben, verlieren ihr Vermögen. Es hängen Erbschaften, Obsorgeverpflichtungen, Ehestandserklärungen, Unterhaltspflichten, Eigentumsverhältnisse und vieles andere mehr an Todeserklärungen.

Umgekehrt könnten sich Menschen, die noch leben, für tot erklären lassen, aus dem Staub machen und irgendwo ein neues Leben beginnen. Das sei alles schon vorgekommen, sagt Reiter: »Unsere Rechtsordnung ist deshalb so eingerichtet, dass man mit Sicherheit feststellen muss, wer gestorben ist.« Das kurze Anheben des Leichentuches durch Verwandte, wie wir es aus Kriminalfilmen kennen, sei nicht nur belastend, es sei auch »mit großen Fehlern behaftet«, nicht zuletzt, weil man als Toter ein bisschen anders aussehe. Die Gesichtszüge zerfließen, die Physiognomie eines Toten verändert sich. Ein liegender Mensch sieht anders aus als ein stehender.

Reiter war vom Dilettantismus bei der Identifizierung der Toten im Augartenhotel nicht zuletzt deshalb so schockiert, weil die Wiener Gerichtsmedizin hundert Jahre zuvor schon viel weiter war. 1881 brach im Ringtheater in Wien ein entsetzliches Feuer aus. Gaslaternen hatten sich im Theater entzündet, die Fluchttüren öffneten sich nur nach innen. Mindestens 384 Menschen starben, vor allem jene, die auf den billigen Plätzen hoch oben auf der hölzernen Galerie keine Chance zur Flucht hatten. Technisches Versagen, Baumängel, aber auch unvorstellbares Behördenversagen verursachten diese Katastrophe. Der damalige Polizeichef Anton Landsteiner erklärte das Theater zu einem Zeitpunkt für evakuiert, als noch Zuschauer darin waren, Helfern wurde der Zugang verweigert.

Damals hatte der berühmte Gerichtsmediziner Eduard von Hofmann nicht nur entdeckt, dass viele Opfer an den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben, also nicht verbrannt waren. Er hatte auch erforscht, wie man deren Identität am besten feststellt. Der Kopf eines Brandopfers liegt heute noch als Asservat im Gerichtsmedizinischen Museum in der Sensengasse, das Hofmann mitbegründet hatte. Auch Hofmanns Porträt hängt an der Wand, gleich oberhalb der Treppe, die in das museale Totenreich führt, je zwei Skelette stehen wie Wachen neben ihm.

Schon damals war der Zahnstatus entscheidend, klärt mich Reiter auf, jeder Mensch hat ein unverwechselbares Gebiss. Bei verbrannten Leichen bleibt der Zahnapparat lange und sehr gut erhalten. Plomben, Zahnlücken und Zahnfehlstellungen geben Aufschluss über die Identität eines Menschen. »Wenn Sie abgängig sind«, beruhigt mich Reiter, »und wir finden irgendwo einen Körper in einem katastrophalen Zustand, dann gehen wir zu Ihrer Zahnärztin und bitten um Ihr Zahnröntgen, und das vergleichen wir dann.«

Bei Brandopfern könne man aber auch innere Befunde heranziehen. Wurde ein Mensch an der Gallenblase operiert, »dann sucht man halt die Gallenblase in der Leiche«. Reiter hat auch entdeckt, wie man die Leichen von Rauchern und Nichtrauchern unterscheidet. In den Lungen finden sich spezielle Raucherzellen. Darüber hat Reiter seine Habilitationsschrift verfasst.

Lungen seien bei Brandopfern zudem meist unversehrt. Denn das Verbrennen eines Leichnams bis in die Tiefe der inneren Organe verlangt enorme, stundenlange Hitzeeinwirkung. Selbst beim Ringtheaterbrand 1881 oder bei einem Flugzeugabsturz führt die Hitze nur in den obersten Zentimetern des Körpers zu Verkohlungen. In der Tiefe »sind wir vielleicht ein bisschen gekocht, also durch die Hitzeeinwirkung denaturiert«, sagt Reiter, aber im Zentrum des Körpers sei meistens noch flüssiges Blut, das man für chemische Untersuchungen verwenden könne. Dass das Anzünden einer Leiche diese zerstöre, ist ein Fehlschluss von Tätern. »Habe ich Glück, finde ich Prothesen, einen Herzschrittmacher oder ein Brustimplantat, und mit den Herstellungsnummern kann ich rekonstruieren, wer die Opfer sind.«

Reiter hatte also — vielleicht auch dank seines Albtraums — einiges Wissen über Katastropheneinsätze gesammelt. Aber der Ernstfall ist seit dem Jahr 1979 nie mehr eingetreten, bis zu jenem 27. Mai 1991, den der Professor nie vergessen wird. Er war gerade wieder Vater geworden, stand wie üblich im Seziersaal, obduzierte eine Leiche, als das Telefon läutete. Ein Staatsanwalt war am Apparat, Reiter kannte den Mann — und er ihn.

In der vergangenen Nacht, um 23 Uhr 17, sei in der Nähe von Bangkok bei Suphanburi eine Boeing 767 abgestürzt, ein Flugzeug jener Lauda Air, die der weltberühmte Formel-1-Fahrer Niki Lauda gegründet hatte, um der staatlichen AUA Konkurrenz zu machen. Die Lauda Air bot damals erschwinglichen Luxus. Es gab feines Essen, und manchmal saß der dreifache Weltmeister selbst im Cockpit.

Niemand habe überlebt, meldeten die Nachrichtenagenturen, auch nicht die Privatsekretärin des thailändischen Königs, die neben österreichischen Urlaubern und einer Studentengruppe aus Innsbruck im Flugzeug saß. Das Fernsehen zeigte später Niki Lauda, wie er zwischen den Trümmern durch den Urwald stolperte. Für einen Moment hatten die Behörden an einen Terroranschlag gedacht, da der UN-Drogenbeauftragte im Flieger saß und die Behörden damals im sogenannten Goldenen Dreieck zwischen Thailand, Laos und Burma versucht haben, den illegalen Drogenhandel zu bekämpfen. Der Unfall hatte ganz andere Ursachen, wie sich später herausstellte: Eine sogenannte »Schubumkehr«, also ein technisches Gebrechen der Boeing, hatte die Katastrophe ausgelöst.

Am Apparat, erinnert sich Reiter, war nun ausgerechnet jener Staatsanwalt, dem er nur wenige Wochen zuvor im sogenannten Lainz-Prozess zugearbeitet hatte. Die »Todesengel von Lainz«, vier Hilfsschwestern aus Wien, hatten mindestens 49 Patienten durch die sogenannte »Mundpflege«, also das Einfüllen von Wasser in die Lungen, getötet. Oder einfach nur mit Rohypnol. Reiter hatte diese spezielle Form des Ertrinkungstodes nachgewiesen und war dadurch weltweit bekannt geworden. Sogar die New York Times berichtete über den Fall.

Nun sollte er also — gemeinsam mit Experten des Bundeskriminalamts Wiesbaden — die Toten in Thailand identifizieren, darunter dutzende, wenn nicht sogar hunderte Österreicher. Reiter hatte kaum Zeit zum Überlegen. Ein deutsches Team, so teilte der Staatsanwalt mit, sei bereits auf dem Flug von Frankfurt nach Wien. Bei einer Zwischenlandung würde man ihn gleich mitnehmen. Er solle sich beeilen.

Reiters Auftrag war die Identifizierung des Piloten und Co-Piloten. Er hatte auch zu klären, ob sie gesundheitlich beeinträchtigt waren, ob sie etwa alkoholisiert oder unter Drogeneinfluss standen. Denn das hätte enorme haftungsrechtliche Fragen ausgelöst.

»Um 13 Uhr landet die Maschine aus Deutschland in Wien, richten Sie sich her«, sagte der Staatsanwalt und klang ein wenig so wie die Stimme im Albtraum. Reiter wollte noch seine Frau anrufen, die kurz zuvor einen Sohn geboren hatte, aber sie war nicht erreichbar. Dann sagte er: »Ja, okay, ich bin dabei.«

Er lässt sich noch rasch gegen tropische Krankheiten impfen, rast nach Hause. Ehe er losfliegt, packt er noch schnell eine VHS-Kamera ein, die er zur Dokumentation der ersten Schritte seiner Kinder kurz vorher beschafft hatte. Am nächsten Tag steht Reiter in einer Leichenhalle in Bangkok. Es ist ein zweistöckiges Gebäude mit mehreren Seziertischen zu ebener Erde. Im Hof der Gerichtsmedizin liegen Berge von Leichen, die nicht gekühlt waren, in Bergesäcken oder eingewickelt in Plastikfolien. Es hat 35 Grad, dreimal täglich ging ein Regenguss über die Leichen. »Es waren katastrophale Zustände, denn die Thailänder waren komplett überfordert.«

Mit der Videokamera hatte Reiter diesen Seziersaal gefilmt. Ich durfte mir einige Szenen dieses alten Videos ansehen. Wie in Breughels »Der Triumph des Todes« lagen da die Toten neben- und übereinander. Die Gerichtsmediziner entnahmen den zerfallenden Körpern Unterkiefer, Haut der Fingerkuppen und Kleidungsstücke. Reiters Auftrag war es, unter den völlig entstellten und von Fliegenmaden übersäten Toten den Piloten und den Co-Piloten zu suchen und diese zu obduzieren. Die Männer waren — aufgrund ihrer Uniformen — in dem großen Leichenberg bald gefunden und obduziert. Er hätte gleich wieder nach Hause fliegen können, was er aber nicht tat. Stattdessen reihte er sich ein in das Identifikationsteam und half mit, auch die anderen Toten zu identifizieren. Die Gerichtsmediziner in Thailand waren schon ohne diese Katastrophe überfordert, nur fünf Obduktionstische standen für ganz Bangkok bereit. Reiter sollte in einer Art Besenkammerl arbeiten, hat dann aber im Freien gearbeitet. Der Luft wegen, sagt Reiter, »denn im Seziersaal war die Luft derart intensiv mit dem Fäulnisgas Ammoniak gesättigt, welches sich im Schweiß löste, dass die Schweißperlen, die in die Augen liefen, höllisch brannten«.

Was man auf dem Film der alten Videokamera sieht, ist schlimmer als jeder Albtraum. Reiter erzählte mir, dass er die Kamera nach der Mission weggeworfen hat, weil der Kunststoff unauslöschlich den Geruch der Toten angenommen hatte.

Die Thailänder arbeiteten wie die Wiener in den siebziger Jahren. Sie obduzieren die Schwarzhaarigen — die sie für Asiaten hielten — und überließen den europäischen Forensikern, die lediglich einen Gaststatus hatten, die mit den hellen Haaren. Dann klebten sie Fotos der Verstorbenen auf Flipcharts, damit die Verwandten sie im Foyer identifizieren sollten. »Und wenn dann einer gekommen ist und gesagt hat, ja, die Leiche 85, das ist mein Bruder, dann hat es geheißen, gut, dann gehen Sie dort vorne zum Schalter, dort unterschreiben Sie ein Formular, dass Sie sich zu dem Toten bekennen, und dann kriegen Sie ein Zetterl und können sich hinten beim Expedit diese Leiche abholen. Das war’s.«

Katastrophal nennt Reiter heute noch die Zustände, denn letztlich gelang es nicht, 43 Passagiere dieses Fluges zu identifizieren. Heute noch liegen sie namenlos auf dem Friedhof, der an der Absturzstelle des Flugzeuges geschaffen wurde.

Reiter belastet bis in die Gegenwart noch etwas anderes. Er hörte sich — gemeinsam mit einem Flugsachverständigen — den Voice Recorder an, der den Informationsaustausch zwischen dem Piloten, einem Amerikaner, und dem Co-Piloten, einen Burgenländer, wiedergibt. Dreißig Sekunden lang versuchen die beiden, den Absturz zu verhindern. Es sind die letzten Sekunden in ihrem Leben, »und da bekommt man dann plötzlich einen sehr persönlichen Bezug zu diesen Personen, die man da seziert hat«. Das ist ungewöhnlich für einen Gerichtsmediziner. Wie Reiter einmal in einem Obduktionssaal ausführte, will man sich als Obduzent maximale Distanz zum »Obduktionsgut« verschaffen. Weder die Verstorbene noch deren Angehörige sollten einem bekannt sein. Doch in Thailand lagen Urlaubsfotos der Toten verstreut zwischen den Leichen. Bilder von glücklichen Momenten am Strand. »Wer heute bei mir am Tisch liegt«, so höre ich Reiters Stimme immer wieder sagen, »hat gestern noch gelebt.«

Viele Opfer, wird Reiter später herausfinden, sind nach dem Zerreißen des Fliegers aufgrund der Schubumkehr aus dem Flugzeug herausgeschleudert worden und wohl durch den Kontakt mit Flugzeugtrümmern gestorben. Einige sind erst durch den Aufprall im Dschungel zu Tode gekommen. Auch der Urwald glich einem Inferno. Plünderer, aber auch Bergetrupps, nahmen den Toten Schmuck und andere Wertsachen ab — wertvolle Hilfsmittel zum Identifizieren. Viele dieser Gegenstände, aber auch viel Geld wird man später in den Schreibtischladen des Chefs der Bangkoker Gerichtsmedizin finden. Reiter sagt, der Mann habe sie »sicherlich nur in Sicherheit gebracht«.

Was passierte heute, wenn eine Maschine im Wienerwald explodiert?, frage ich Reiter. Innerhalb weniger Stunden wäre ein Team rekrutiert, die entsprechende Logistik stünde bereit. Im Jahr 2005 wollte das österreichische Innenministerium am Flughafen in Salzburg einen fingierten Flugzeugabsturz mit einem speziell dafür ausgebildeten Team von Kriminalbeamten trainieren. Dazu kam es nicht, denn kurz nach Weihnachten 2004 ereignete sich in Thailand schon wieder eine Katastrophe. Der Tsunami, eine der größten Naturkatastrophen. 230.000 Menschen kamen zu Tode, 100.000 wurden verletzt, 1,7 Millionen obdachlos. »Unser österreichisches Team, voll motiviert, frisch ausgebildet, ist nach Thailand gefahren, hat sich dort bestens bewährt.«

Bald schon stellte Reiter fest, dass sich die Lage dort nicht geändert hatte. Die Behörden separierten diesmal nicht nur die Menschen mit dunklen von jenen mit hellen Haaren, sondern jene mit Zahnplomben von denen, die schlecht versorgte Zähne hatten. »Weil der Durchschnitts-Thailänder, der dort im ländlichen Bereich oder im Service in Hotels tätig ist, kaum Zahnfüllungen hat, wurde einfach entschieden: schwarze Haare, keine Plomben, Thailänder.« Sie wurden — ohne Identitätsfeststellung — in Massengräbern bestattet. Und alle anderen — mit Plomben, Schmuck und hellen Haaren — wurden von jenem internationalen Identifikationsteam identifiziert, dem auch Reiter angehörte. Vor dem Tod, so lernte er, waren dann doch nicht alle gleich.