»Serienrippenbrüche«, »Mehrstückbruch des Nasenbeins«, »Blutunterlaufungen zwischen harter und weicher Hirnhaut bis in die Augenhöhlendächer«, »Rissquetschwunden, die durch Einschlagen mit einem Elektrokabel hervorgerufen wurden«, »Schläge in den Oberbauch«. Christian Reiter schildert vor den Geschworenen die Verletzungen einer jungen Frau. Auf den Bildschirmen im Großen Schwurgerichtssaal sehen sie die Fotos von Anna A.
»Diese junge Frau«, sagt Reiter, »hat durch dieses Verbrechen ein Auge und fast ihr Leben verloren.« Eine »schicksalshafte Fügung« sei es gewesen, dass sie diese über mehrere Stunden dauernde Tortur durch ihren Lebensgefährten überlebt habe.
Eine Geschworene dreht sich weg. Eine andere sieht dem Täter in die Augen. Sediert, abwesend und von zwei Polizisten bewacht sitzt er auf der Beschuldigtenbank. Auf die Fragen einer Richterin antwortet er monoton und wirr. Nach sieben Stunden Verhandlung weisen ihn die Richter in eine Anstalt für psychisch kranke Rechtsbrecher ein.
Der Täter litt an einer schizoaffektiven Psychose, eine schwere psychiatrische Erkrankung, er ist nicht schuldfähig, konnte das Unrecht seiner Tat nicht erkennen, handelte im Wahn. Nachdem er seine Freundin fast totgeprügelt hatte, wollte er sie kreuzigen, mit Fliegen füttern und dann, versorgt mit Kamillentee, auf eine Matratze im Badezimmer betten. Nachdem die von den aufmerksamen Nachbarn gerufene Polizei die Tür aufgebrochen hatte, sprach er davon, dass die Frau verletzt von einem Date nach Hause gekommen sei. Er sei unschuldig.
Ich wollte Professor Reiter einmal zu einem ganz normalen Gerichtsverfahren begleiten, wollte sehen, wie sein Alltag aussieht, abseits der spektakulären Fälle und abgesehen von den historischen. Es wurde ein Mordprozess, einer von denen, die medial, wenn überhaupt, nur am Rande bemerkt werden.
Als Journalist besuche ich den Großen Schwurgerichtssaal auch nur dann, wenn Politiker, mächtige Bosse oder Personen der Zeitgeschichte angeklagt werden. Kameraleute und Journalisten drängeln sich vor, Platzkarten werden ausgegeben, dann ist die Galerie dieses Saales von Kiebitzen besetzt und man selbst Teil in einem veritablen Justiztheater.
Jetzt aber war ich fast allein, nur eine Schulklasse schaute vorbei und Stefan, der langgediente Gerichtsreporter der Austria Presse Agentur. Die Schüler lernten hier nun einiges über den Staat und sein Versagen.
In seiner gutachterlichen Praxis sei er in den meisten Fällen gar nicht mit Leichen konfrontiert, klärte mich Reiter vor Verhandlungsbeginn auf. Nicht die clamorosen Fälle und die Toten prägen seinen Alltag, sondern die Verletzten, die Verprügelten, die Verunfallten. Sie zu begutachten, ihre Schmerzen zu beschreiben, ihre Qualen zu ergründen, das ist Teil jener gerichtsmedizinischen Rechtspflege, der er sich als Facharzt für gerichtliche Medizin verschrieben hat.
Viele der Opfer sind Frauen wie Anna A. Vielen wird in Gerichtsverfahren nicht oder nicht ausreichend geholfen. Auch Anna A. macht diese Erfahrung. Ihr Martyrium hätte verhindert werden können, sagt ihr Anwalt. Jetzt muss sie den Schaden allein tragen.
Ich lernte in dem Prozess nicht nur, wie die sogenannte »Drehtürpsychiatrie« versagt, wie wenig sich also der Staat um psychisch kranke Menschen kümmert, die, trotz der Diagnose »Fremd- oder Selbstgefährdung«, allein auf den Straßen herumirren. Mich irritierte noch ein Satz, den Reiter in seinem Vortrag vor den Laienrichtern en passant fallen ließ. »Ausnahmsweise«, sagte er, seien die Verletzungen diesmal ordentlich dokumentiert. Das sei keine Selbstverständlichkeit, ergänzt er nach der Verhandlung.
Ich hätte erwartet, dass irgendjemand auf der Richterbank stutzt und sagt: »Was sagen Sie da, Herr Sachverständiger? Die Verletzungen werden sonst nicht ordentlich dokumentiert? Können wir nach der Verhandlung darüber reden?« Aber das geschah nur in meiner Phantasie. Reiters Kritik schreckte in der Routine dieses Prozesses ohne Publikum niemanden auf. Aber was genau meinte er nun damit?
In den meisten Fällen wird die Dokumentation von Verletzungen von Ärzten durchgeführt, die keine gerichtsmedizinische Ausbildung mehr genossen haben. Auch die Polizisten sind zu wenig geschult, klagt Reiter. So fotografieren sie in der Regel etwa Hämatome, deren Farbspektrum für Reiters Befunde wichtig ist, in dunklen Büros oder in Polizeiinspektionen mit Leuchtstoffröhrenlicht. Für Frauen, die in Beweisnot geraten, sei das ein großes Unglück. Für viele Gewalttäter, die »im Zweifel« freigesprochen den Gerichtssaal verlassen, sei es hingegen ein Segen.
Reiter lädt in seine Praxis in Wien-Hernals, um mir das Problem zu verdeutlichen. Sie befindet sich unmittelbar neben dem Studierzimmer, in dem er all die Knochen, Haare, Fossilien, Totenmasken und Kupferstiche verwahrt hat.
Wenn das Studierzimmer eine Art gerichtsmedizinisches Museum der Vergangenheit ist, dann eröffnet die Kanzlei den Blick in unsere Gegenwart. Hier sieht man aus der Perspektive des Gerichtsmediziners, was falsch läuft in diesem Land. An seinem Schreibtisch inspiziert Reiter die Fotos von Verletzten, er liest sich durch die Einvernahmeprotokolle und Befunde, dann diktiert er die Gutachten und beantwortet darin die richterlichen Fragen, ob Verletzungen »im Sinne des Gesetzes« schwer oder leicht sind, ob sie Dauerfolgen nach sich gezogen haben oder lebensgefährlich waren. Um diese Arbeit ordentlich bewerkstelligen zu können, sagt Reiter, braucht er aber eine genaue Dokumentation. Oft senden Gerichte ihre Akten erst Wochen später an ihn. Oft wollen Verletzte nicht mehr aussagen. Oft werden aber auch Verletzungen vorgetäuscht, um Menschen zu verleumden.
Reiter zieht ein paar Aktenbündel aus einem Schrank. Es sind Gutachten, die er für mich ausgewählt hat, um jenen alltäglichen Missstand zu verdeutlichen, den er im Schwurgerichtssaal angesprochen hat. Er zeigt mir anonymisierte Fotos von misshandelten Frauen und Kindern. Beim Anblick der Bilder sagt Reiter, »geht mir die Galle über«. Reiter, der stundenlang mit morbidem Humor und großem Wissen aus seiner Welt und über seine historischen Fälle erzählen kann, wirkt auf einmal zornig. Denn diese Bilder zeigen nicht nur Gewalt an Frauen, sie zeigen auch das Versagen des Rechtsstaates, dieser Gewalt wirksam entgegenzutreten.
»Schauen Sie sich die Bilder einmal genau an«, fordert mich Reiter auf, »fällt Ihnen etwas auf?« Tatsächlich sind die Verletzungen unglaublich schlecht fotografiert. Jeder Kratzer im Lack eines Autos wird heute besser dokumentiert.
Die Bilder sind gelbstichig, sie sind unscharf, sie sind nahezu wertlos. Dabei sind es Bilder, die scheinbare Profis aufgenommen haben, Ärzte oder Polizisten. Offenbar arbeiten sie — warum auch immer — ohne erforderliches gerichtsmedizinisches Basiswissen. Und das, sagt Reiter, ist ein strukturelles Problem, für das auch die Hochschulpolitik verantwortlich sei.
Seit der Jahrtausendwende gibt es zum Beispiel an der Medizinischen Universität Wien keine verpflichtenden gerichtsmedizinischen Vorlesungen mehr. Eine jahrhundertealte Disziplin, begründet nicht zuletzt im Wien der Aufklärung, fortentwickelt in der Moderne, findet in der ehemaligen Weltstadt der Medizin ihr unrühmliches Ende.
Die Donaumetropole bildet zehntausende Ärzte aus, die für ihren Doktortitel nie ein gerichtsmedizinisches Buch lesen mussten. Die keinen geschulten Blick mehr dafür haben, was in Gerichtsverfahren wichtig sein könnte. In einem Bericht mit dem Titel »Zur universitären Gerichtsmedizin in Österreich« schlug der österreichische Wissenschaftsrat — ein Beratungsgremium des Wissenschaftsministeriums — schon im Jahr 2014 Alarm. Hausärzte seien nicht mehr imstande, »einen Unfall im Haushalt von einer Misshandlung zu unterscheiden«, warnten die Experten. Vor zehn Jahren seien noch zirka dreißig Sachverständige in Österreich tätig gewesen, nun sind es um ein Drittel weniger. Während in Wien einst etwa dreitausend behördlich angeordnete Leichenöffnungen pro Jahr durchgeführt wurden, sind es inzwischen nur noch fünfhundert. Aber, so warnt der Wissenschaftsrat, »eine funktionierende universitäre und damit von Politik, Justiz und Polizei unabhängige Gerichtsmedizin stellt eine wichtige Säule im Bereich der Rechtssicherheit dar«.
»Es ist«, sagt Reiter und blättert in den gelbstichigen Fotos, »ein Skandal, denn es hat sich daraufhin nicht geändert.« Was bedeutet es denn, wenn ein Land keine Gerichtsmediziner mehr ausbildet? Dass Straftaten unentdeckt bleiben. Nein, es geht nicht um Morde, derer gibt es nicht so viele. Es geht vor allem um Gewaltdelikte, um Fahrlässigkeitsdelikte, um zivilrechtliche Ansprüche auf Schmerzensgeld, Begräbniskosten und dergleichen. Ohne genaue Dokumentation keine stichhaltigen Beweise, ohne Beweise kein Schuldspruch, ohne Schuldspruch kein Schadensersatz und meist auch keine Sanktion. So ist das in einem Rechtsstaat.
In den vielen Prozessen um sogenannte »häusliche Gewalt«, so wird Gewalt gegen Frauen weiter verharmlosend genannt, sei das besonders problematisch. Allzu oft würden sich Frauen der Aussage entschlagen. Aus Angst vor dem Täter, aber auch aufgrund finanzieller Abhängigkeit von ihm und aus Liebe zu gemeinsamen Kindern, denen sie den Gefängnisaufenthalt des Vaters ersparen wollen.
»Sehen Sie sich nur diesen Fall an«, sagt Reiter und lässt mich kurz in eine Akte blicken. »Diese Frau sucht mit einer blutenden Wunde am Unterarm die Unfallambulanz eines Krankenhauses in Wien auf. Dort behandelt sie ein Universitätsdozent.« Sie berichtet in gebrochenem Deutsch, ihr Mann habe sie mit einem Messer attackiert. Der Arzt beschreibt nun in der Patientenkartei am rechten Unterarm eine »ca. vier Zentimeter lange Schnittwunde unbekannter Tiefe«; dann näht er die Wunde zu, ohne sie vorher zu fotografieren.
Zu Hause bittet das Opfer eine Freundin, ein paar Fotos der Wunde mit einem Maßstab zu machen. »Schauen Sie genau hin«, sagt Reiter, »sehen Sie etwas?« Eine Wunde von nur 2,5 Zentimeter Länge, nicht vier! Jeder Pflichtverteidiger werde diesen Widerspruch thematisieren, sagt Reiter, denn: »Eine Stichwunde definiert sich danach, dass die Tiefe der Wunde größer sein muss als die Länge der Wunde an der Oberfläche.«
Bei einer Schnittwunde sei es genau umgekehrt, sie ist »seichter«. Für den Strafprozess ist das eine ganz wichtige Information: Denn bei einer Stichwunde stellt sich die Frage nach einem Mordvorsatz. Da sticht einer richtig zu und hält es »ernsthaft für möglich und findet sich damit ab«, dass der Mensch daran auch sterben kann. Eine Schnittwunde kann das Ergebnis eines »dummen Herumfuchtelns sein«, sagt Reiter. Und genau so lautete die Verantwortung des Mannes vor Gericht. Er habe nur »dumm herumgefuchtelt«, die ungeschickte Frau habe ins Messer gegriffen, aber nie im Leben habe er seine Frau ernstlich verletzen wollen. Der Unterschied zwischen diesen Versionen ist existenziell. Beim Stich mit Mordvorsatz kann ein Gericht lebenslange Haft verhängen. Bei einer schweren Körperverletzung maximal drei Jahre. Bei einem Fahrlässigkeitsdelikt droht eine kleine Geldbuße. Reiter sagt: »Dieser Arzt hat in seiner Ausbildung nie gelernt, dass sein Befund ein wichtiges Beweismittel in einem Gerichtsverfahren sein kann.« Viele Ärzte lernen nicht mehr, dass sich ihre Aufgabe nicht nur darauf beschränkt, die Patienten zu behandeln, sondern dass es auch ihre Aufgabe ist, für allfällige Gerichtsprozesse Beweismaterialien zu sammeln und zu dokumentieren.«
Am Beginn des 21. Jahrhunderts muss man also davor warnen, dass wir vor einem Verlust gerichtsmedizinischen Wissens stehen. Der Grund: Universitäten sind de facto eigenständige Firmen geworden, Rektoren sind gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Fakultäten auch nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führen. Aber ein Gerichtsmediziner wird nach dem Gebührenanspruchsgesetz bezahlt und erwirtschaftet somit wenig Geld, aber er und die mit seiner Arbeit verbundene Logistik kosten der Universität viel Geld. Dieses »Sparen im System«, so wird mir über Reiters Aktendeckeln in seiner kleinen Hernalser Kanzlei bewusst, trifft Opfer ganz unmittelbar. Frauen vor allem, aber auch Kinder.
Und letztlich geht es ja auch nicht nur darum, Täter zu überführen, sondern auch darum, sie zu entlasten. Reiter zieht noch einen Fall aus dem Stapel. Eine Frau hatte ihren Mann beschuldigt, er habe versucht, ihr den Hals durchzuschneiden; mit einem Messer sei er ihr über die Gurgel gefahren. »Gott sei Dank war auch dieser Fall von der Polizei relativ gut dokumentiert«, sagt Reiter. »Sehen Sie nur, beide Schnittverletzungen verlaufen exakt parallel zueinander, und beide sind nur seicht.« Das weckt das Misstrauen des Experten. Für einen Täter ist es nämlich fast unmöglich, einem Opfer zweimal eine gleichartige Schnittverletzung zuzufügen. Das Opfer windet und wehrt sich. In diesem Fall war die Sache für Reiter klar: Es war eine Selbstbeschädigung. Die Frau hat nach dem Gutachten unter dem Druck dieses Beweismittels zugegeben, den Mann verleumdet zu haben, um ihn ins Gefängnis zu bringen.
Stundenlang ist Reiter in der Lage, solche Fälle aufzulisten. Da ist eine Frau, die mit K. o.-Tropfen bewusstlos gemacht und missbraucht wurde — aber im Spital wurde sie toxikologisch nur unzureichend untersucht. In einem Altersheim, so erkannte Reiter, wurde ein Fenstersturz vorschnell als Suizid wegadministriert.
Und immer wieder würden Polizisten und Staatsanwälte die Fälle gerne ohne lästige gerichtsmedizinische Begutachtung rasch vom Tisch haben wollen. Reiter erinnert sich an einen fast schon paradigmatischen Satz eines Beamten, als eine Totenbeschauärztin in einem bedenklichen Fall auf einer ordentlichen forensischen Untersuchung bestand. »Prinzessin«, sagte der Polizist zur Ärztin, »mochen Sie doch ka Lamperl wüd.«