New York
April 1934 bis März 1935
Es dauerte gerade mal zwei Wochen, da hatte es sich herumgesprochen. Es war egal, ob Marie am Vorabend einen, zwei oder drei Kuchen in den Backofen geschoben hatte – der Käsekuchen war jeden Nachmittag ausverkauft.
Willi hängte ein großes, mit Lackfarben bemaltes Sperrholzschild zwischen Eingangstür und Außenfenster. Marie und Fritz dirigierten ihn.
»Mehr rechts!«
»Höher!«
»So, jetzt ist es perfekt.«
Stolz betrachteten die Geschwister den Schriftzug.
MARIE’S CHEESE CAKE –
SELBST GEMACHT & UNWIDERSTEHLICH
Willi hatte daneben ein Stück Kuchen gemalt, auf Anregung von Trudie mit drei Erdbeeren als Dekoration auf dem Kuchenteller.
»Das ist richtig gut geworden!«, fand Fritz schmunzelnd. »Vielleicht schlummern in dir noch ungeahnte Talente.«
Willi hatte schon immer viele verschiedene Interessen gehabt, beispielsweise die klassische Literatur oder die Philosophie, sein Wissen aber aus Geld- und Zeitmangel nie weiter vertiefen können. Er zwinkerte seinem Bruder zu.
»Da magst du wohl recht haben!«
Eines Tages vertrat Marie Fritz im Speiselokal. Er wollte unbedingt ein Baseballspiel der Brooklyn Dodgers sehen. Hildy, die ebenso sportbegeistert war wie er, begleitete ihn. In ihrer Marlene-Dietrich-Hose, zu der sie ihre neueste Errungenschaft, eine hellblaue Bluse, trug, stand Marie hinterm Tresen, als ein gut, aber nachlässig gekleideter Mann das Wiemky’s betrat. Grußlos setzte er sich an einen freien Tisch in die ruhigste Ecke. Er behielt seinen Mantel an, knöpfte seinen weißen Hemdkragen weiter auf, lockerte ihn, zog den Seidenschlips ab und stopfte ihn in die Manteltasche.
»Guten Tag. Was darf ich Ihnen bringen?«
Marie lächelte freundlich. Der drahtige Mann, er mochte vielleicht Anfang dreißig sein, schien durch sie hindurchzusehen. Marie wiederholte ihre Frage auf Französisch. Sie fand, dass den Gast, der sicherlich nicht im Hafen arbeitete, etwas besonders Gepflegtes umgab. Noch immer nahmen seine glasigen Augen sie nicht wahr.
Marie sprach den Mann auf Deutsch, Ungarisch, Italienisch, Spanisch und Litauisch an. Als er nicht reagierte, holte sie ein Glas Wasser und stellte es vor ihn auf den Tisch. Jetzt endlich fokussierte sich sein Blick.
»Wo würden Sie in Red Hook Selbstmord begehen?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
Sicher macht er einen Scherz, dachte Marie. »Schade, dass Sie nicht ein halbes Jahr früher gekommen sind«, antwortete sie deshalb, »da hätte sich noch ein Kugelhagel zwischen Alkoholschmugglern und Polizei angeboten. Aber jetzt?« Sie tat, es überlegte sie. »Soll es schnell gehen?«
»Bitte. Schnell und nah.«
»Also, aus dem Atlantic-Hafenbecken ist neulich eine Wasserleiche geborgen worden, das liegt nicht weit von hier …«
»Hm.«
Marie studierte das Gesicht des Mannes genauer. Es war auffallend bleich. Meinte er es etwa ernst?
»Sie scherzen doch, oder?«
Er blickte sie nur herzzerreißend traurig an.
»O Gott!« Marie setzte sich auf den Stuhl neben den Gast, nahm seine Hände in ihre. »Entschuldigen Sie bitte. Ich hab gedacht …«
Bestürzt hielt sie inne. Als sie hörte, dass sein Magen laut und vernehmlich knurrte, musste sie schmunzeln.
»Aber Ihr Körper will leben.«
Ein winziges amüsiertes Zucken seiner linken Augenbraue machte Marie Hoffnung.
»Wissen Sie was? Sie essen jetzt erst einmal ein Stück Käsekuchen, und dann sehen wir weiter.«
Der Mann wollte widersprechen, doch Marie ignorierte seinen Protest. Sie brachte ihm ein großes Stück mit Schlagsahne und Erdbeersoße, dazu einen Becher Kaffee.
»Bitte«, sagte Marie nachdrücklich. »Probieren Sie, und lassen Sie sich Zeit.«
Sie ging wieder hinter den Tresen, um andere Gäste zu bedienen, doch mit einem Auge beobachtete sie den seltsamen Mann in der Ecke. Bislang hatte er den Kuchen nicht angerührt. Aber er trank den Kaffee. Ein gutes Zeichen, dachte Marie.
Ihr einziger direkter Nachbar, der Seilmacher Mr. Brown, bestellte Rühreier. Wieder einmal erzählte er davon, wie er als Kind mit seinem Vater auf Schnepfenjagd gegangen war.
»Da gab’s hier in Brooklyn noch richtige grüne Felder!«
Der alte Mann hatte immer ganz rote, bis zu den Knöcheln geschwollene Finger von seiner Arbeit. Marie hatte ihm einmal eine Quark-Honig-Mischung mitgegeben, die auch wirklich half – aber nur kurz. Ich kann mir nicht jeden Tag so’n Zeugs auf die Hände schmieren und sie mit Tüchern verbinden, hatte der Griesgram hinterher gemeckert, doch seitdem war er deutlich umgänglicher. Er hatte ihr sogar einmal gezeigt, wie in seinem Betrieb gearbeitet wurde.
Marie gab die Bestellung weiter, und als sie wenig später aus der Küche in den Gastraum zurückkehrte, hatte sich die Haltung des unbekannten Mannes deutlich verändert. Er lehnte entspannt mit geschlossenen Augen an der Wand. Es schien, als lausche er einer inneren Melodie. Seine Zungenspitze fuhr ganz langsam über die Oberlippe bis in einen Mundwinkel und wieder zurück. Er atmete tief ein und aus. Offenbar fühlte er sich unbeobachtet, denn nun öffnete er die Augen, nahm den leeren Kuchenteller in beide Hände, hielt ihn vors Gesicht und leckte ihn ab.
Marie lächelte zufrieden in sich hinein.
»Wo bleiben meine Rühreier?«, rief Mr. Brown mit quäkiger Altmännerstimme.
Marie brachte sie ihm flink. Dann gab der Gast in der Ecke ein Handzeichen. Sie wechselte zu seinem Tisch.
»Na, hat es Ihnen geschmeckt?«
»Geschmeckt? Sie sollen gepriesen und gesegnet sein, Miss! Dieser Käsekuchen hat mich gerettet!« Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. »Er kann sprechen, Ihr Kuchen. Wissen Sie, was er mir gesagt hat? Er hat gesagt, es gibt ein paar Dinge auf dieser Welt, für die es sich zu leben lohnt! Das ist doch kein normaler Käsekuchen … Was ist sein Geheimnis?«
Marie lächelte verschmitzt. »Tja, wissen Sie …«, sie überlegte eine Sekunde und improvisierte, »das … ist ein Käsekuchen im New Yorker Stil.«
»Er ist unglaublich! Was schulde ich Ihnen?«
»Nichts.« Marie freute sich über die Rückkehr seines Lebenswillens, das war für sie Lohn genug. »Ich hab Ihnen den Kuchen ja förmlich aufgedrängt …«
»Zu Recht, zu Recht …« Offenbar hatte er nun Vertrauen zu ihr gefasst. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. »Was für ein grau-en-voller Morgen! Sie können es sich nicht vorstellen! Ich bin stundenlang durch das Hafengebiet von Brooklyn geirrt …«
»Aber warum denn nur?«
»Mein Freund hat mir heute nach der Morgenkonferenz auf der Herrentoilette unserer Redaktion kühl mitgeteilt, dass er sich in einen anderen Mann verliebt hat. Als wäre das nichts … Immerhin waren wir fünf Monate zusammen …«
»Oh, wie schrecklich!«, sagte Marie mitfühlend. »Wie heißen Sie?«
»Frank, nennen Sie mich Frank.«
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. »Liebeskummer ist schlimm, Frank.«
Ihre Empathie tat ihm so gut, dass er Marie en detail seinen furchtbaren Vormittag schilderte. Völlig kopflos war Frank mit seinem Ford-Cabrio durch New York gekurvt, hatte sich vom Verkehrsstrom treiben lassen, bis ihm in Red Hook das Benzin ausgegangen war. Hier hatte Frank beschlossen, sich das Leben zu nehmen. Und vergeblich nach einem geeigneten Ort für seinen Freitod gesucht. Ihm habe, wie er verriet, etwas Schmerzloses, aber Imposantes vorgeschwebt. Etwas, das einen erschütternden Aufmacher für die Lokalseite mit einem Foto über mindestens drei Spalten rechtfertigen und seinen untreuen Exfreund bis ins Mark erschüttern würde.
»Aber jetzt fühle ich mich schon viel besser, Mary!«
Frank stand auf, auch Marie erhob sich. Überschwänglich breitete er die Arme aus. »Mary’s Cheese Cake New York Style! Einfach wunderbar! Ich hoffe, dass ich mich eines Tages für diese Wohltat revanchieren kann.« Von der Tür her winkte er ihr theatralisch zu.
»Tschüss, alles Gute!«, rief ihm Marie heiter hinterher. »Beehren Sie uns bald wieder, Frank.«
Am folgenden Samstag hatte Marie frei. Sie setzte sich an den Pier und genoss das milde Wetter. Die Pflastersteine waren warm von der Vormittagssonne, alle Ausflugsfähren, die zwischen Battery Park und Coney Island pendelten, ausgebucht. Auf den kleinen grünen Wellen tanzten Schaumkronen. Zwei Sportflugzeuge umkreisten die Freiheitsstatue wie dicke Brummer. Möwen schrien, ein Ozeandampfer ließ sein Schiffshorn ertönen.
Marie nahm einen Apfel aus ihrer Hosentasche, aus der anderen zog sie den neuesten Brief von Rudolf. Sie hatte ihn erst ein einziges Mal in Eile überfliegen können. Jetzt biss sie kräftig in den Apfel und las Rudolfs Mitteilung noch einmal sorgfältig Zeile für Zeile.
Wir sind nun schon anderthalb Jahre getrennt, meine Liebste. Und wir haben es überlebt! Dann werden wir die restliche Zeit auch noch überstehen. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide …
Du würdest es kaum glauben, wenn Du sehen könntest, wie sich die Heimat seit Deiner Abreise verändert hat. Überall in Deutschland herrscht Aufbruchstimmung. Es gibt endlich wieder Arbeit! Die Heimatkunde stößt auf ein reges Interesse der Allgemeinheit. Das Theaterstück, das ich zum Fehn-Jubiläum verfasst habe, ist nun überarbeitet und fertig. Ich möchte es mit allen Schülern einstudieren. Auch der kleinste und dümmste wird darin eine Rolle übernehmen können. Ich nenne das Stück Des Ersten Tod, des Zweiten Not, des Dritten Brot. Zur Premiere werden wir auch den Schulrat einladen. Wie gern hätte ich Dich dabei! Du könntest mit den Mädchen die Kostüme entwerfen und nähen.
Liebste, Du fehlst mir so unendlich! Ich küsse Deinen Nacken, Marie, Deine Wangen und Deinen süßen Mund.
Marie hielt den angebissenen Apfel in der Hand. Ein dicker Kloß steckte in ihrem Hals, sie konnte nicht weiterkauen. Mit dem Handrücken wischte sie sich ein paar Tränen von den Wangen. Sehnsüchtig hielt sie das Gesicht in die Sonne.
»Miss Wiemkes, Miss Wiemkes!« Trudie kam über die Straße und dann den Pier entlanggerannt und blieb atemlos vor Marie stehen. »Der Käsekuchen ist ausverkauft. Und wir haben ganz viele Vorbestellungen!«
»Wieso das denn? Das kann nicht sein. Wir haben gestern doch sogar vier Torten gemacht …«
»Sie müssen unbedingt neue Kuchen backen! Und zwar sofort!«
»Aber es ist noch nicht einmal Mittag … Trudie, was redest du bloß?«
Marie sprang auf und eilte zum Lokal. In der Straße vor dem Wiemky’s gab es keinen einzigen freien Parkplatz mehr. Willi schrieb gerade mit Kreide auf die Tafel mit den Tagesgerichten: MARIE’S CHEESE CAKE – HEUTE AUSVERKAUFT, MORGEN WIEDER FRISCH!
Er strahlte seine Schwester an: »Die Leute rennen uns die Bude ein. Lies mal die Restaurantkritik in der Zeitung, sie liegt auf dem Tresen!«
Marie erkannte auf dem Porträtfoto zur Kolumne Frank. Sein voller Name, Frank Brumond, stand darunter. Die Überschrift lautete: Eden in Brooklyn.
»Und lies laut, Marie«, bat Fritz, der wie schon seit Wochen mithilfe eines Rezeptbuches Cocktails zu mixen übte. »Ich kann’s nicht oft genug hören!«
Marie räusperte sich. »Wir alle, liebe Leser, sind auf der Suche nach dem Paradies. Ich habe es gefunden, zumindest das zeitweilige irdische. Es liegt an einem Pier zwischen East River und Gowanus Bay, im letzten vergessenen Zipfel Brooklyns. Sollten Sie je vorhaben, sich das Leben zu nehmen: Halten Sie ein! Kosten Sie vorher den Käsekuchen im Wiemky’s, und Sie werden es sich überlegen! Diese kulinarische Entdeckung ist eine Offenbarung, wahrhaftig würdig, den Namen unserer Stadt zu tragen: Mary’s Cheese Cake New York Style.«
Marie räusperte sich noch einmal. Sie wurde von etwas Hellem, Silbrigen durchflutet. Doch sie traute sich kaum, ihre Freude offen zu zeigen.
»Mannomann«, sagte sie stattdessen, »der hat ja ganz schön dick aufgetragen …«
Marie erreichte, dass sie fünf Urlaubstage am Stück nehmen durfte. Sie nutzte die Zeit, um ein neues System zu entwickeln, nach dem andere die Vorarbeiten zum Backen erledigen konnten. Abends fügte sie alles zusammen und gab noch ihre entscheidende Zutat hinzu.
Sie stellten zwei Mitarbeiter für den Service und die Küche ein. Marie setzte durch, dass sie eine dieser neuen elektrischen Küchenmaschinen kauften, einen Sunbeam Mixmaster. Sie fand nun heraus, dass nicht nur die Zutaten wichtig waren, sondern auch die Art, wie man sie vermischte und ob man die Füllung schnell oder langsam schlug. Wenn sie durch schnelles Mixen zu viel Luft in die Masse brachte, ging der Kuchen während des Backens zuerst gewaltig auf – und sank am Ende kümmerlich in sich zusammen. Nachdem sie diesen Zusammenhang begriffen hatte, klappte es ganz gut. Am besten gelang der Kuchen im Wasserbad. Mit der Zeit bemerkte Marie allerdings, dass es ein Problem mit den Bestellungen gab, wenn Trudie sie notieren sollte.
»Sag mal, bist du so vergesslich, oder warum hat das wieder nicht geklappt?«, stellte Marie das junge Mädchen zur Rede. Trudie begann zu weinen. Schließlich gestand sie, dass sie kaum lesen und schreiben konnte.
»Ich war ja nur anderthalb Jahre auf der Schule …«, schluchzte sie.
Marie nahm das junge Mädchen in den Arm. »Weißt du was? Wir üben jetzt jeden Tag ein bisschen, und bald wirst du es können.«
Das Publikum im Wiemky’s wandelte sich. Zu den Hafenarbeitern kamen auch besser situierte Leute aus anderen Vierteln. Ein paar deutsche Emigranten wurden Stammgäste. Willi malte ein neues Werbeschild: Marie’s Cheese Cake New York Style. Er erhöhte den Preis, doch das änderte nichts an der Nachfrage.
»Wir machen mit dem Kuchen mehr Umsatz als mit Mittagstisch und Getränken zusammen«, stellte Willi nach einigen Wochen fest.
Sie schafften sich einen zweiten, größeren Backofen an und lieferten ganze Torten für Feste.
Der Sommer wurde so heiß, dass man vor Hitze kaum atmen mochte, weil die Luft zu brennen schien. Kinder liefen kreischend durch Wasserfontänen, die aus geöffneten Hydranten schossen, und jeder, der es sich leisten konnte, floh an die Strände von Long Island. Immerhin gab es nun endlich eine Atempause für Marie. Sie ging am Sonntag mit Lore ins Schwimmbad. Als sie abends zurückkam, standen drei Luxusroadster vor dem Wiemky’s.
Frank Brumond saß braun gebrannt unter der schattigen Pergola, umgeben von mehreren sommerlich-sportlich gekleideten Männern und zwei Frauen. Es war eine fröhliche junge Truppe, das sah man schon von Weitem.
»Das ist sie!«, rief der Journalist und eilte Marie entgegen, »das ist das Zauberwesen, von dem ich euch erzählt habe. Ihr Cheese Cake New York Style hat mich gerettet, Mary!«
»Marie«, korrigierte sie unwillkürlich und streckte ihm die Hand hin. »Ich danke Ihnen für Ihre wunderbare, furchtbar übertriebene Kolumne, Mr. Brumond!«
»Frank«, korrigierte er lächelnd und zog sie zu einem Wangenkuss an sich heran. »Du hast es verdient, Marie! Das hier sind alles Freunde und Kollegen von mir!« Er stellte jeden kurz mit ein paar launigen Worten vor.
»Sehr erfreut, bitte genau so bleiben!« Eine zierliche schwarz gelockte Frau mit einer Kamera um den Hals ging in die Knie und schoss von allen ein Foto aus der Froschperspektive.
»Ginger arbeitet als Polizeifotografin in derselben Redaktion wie ich.«
Keck tippte Ginger zum Gruß an ihre Mütze und grinste. »Bankraub, Einbruch, Mord«, sagte sie mit lateinamerikanischem Einschlag.
»Hallo, sehr erfreut!«, erwiderte Marie.
Sie reichte jedem lächelnd die Hand. Ihre Haare waren noch nass vom Schwimmen, aber das machte ihr gegenüber diesen Gästen nichts aus. Sie waren alle lässig, hatten etwas Verschmitztes und Unkonventionelles, das ihr sofort gefiel.
»Wir haben das Wochenende auf Fire Island verbracht«, erklärte Frank weiter. »Und auf der Rücktour, dachte ich, gönnen wir uns noch ein Stück vom Paradies.«
Marie hatte gehört, dass Fire Island als Sommertreffpunkt schicker New Yorker und auch vieler Homosexueller galt. Die kilometerlange Insel südlich vor Long Island war so schmal, dass immer nur ein Wochenendhäuschen neben das nächste passte, und so begehrt, dass man sie nicht kaufen, sondern nur ererben konnte.
»Rita ist Malerin, sie verehrt die europäischen Expressionisten.« Die aparte Rita verzog ihre roten Lippen zu einem charmanten Lächeln. »Mein Bruder Scott hat das Wettrennen verloren«, sagte Rita mit überraschend tiefer Stimme. Sie trug ihre schulterlangen rot gelockten Haare nachlässig zusammengebunden, ihre Finger waren von Farbklecksen übersät. »Wir haben beim Start ausgemacht, wer als Letzter beim Wiemky’s ankommt, zahlt die Runde.«
»Ohh«, Frank heuchelte übertriebenes Mitleid, »es wird den armen Scottie ruinieren …«
Der sommersprossige und sonnenverbrannte Scottie schnitt ihm eine Grimasse. Trotzdem umwehte ihn ein Flair, das nur junge Männer umgab, die eine Eliteuni besuchten.
»Und das ist Clusio«, setzte Frank seine Vorstellungsreihe fort. »Er beginnt gerade, sich einen Namen als Schriftsteller zu machen.«
»Eigentlich bin ich Journalist«, sagte der junge Mann. Er hatte eine auffallend große Nase und trug eine Nickelbrille. Clusio strahlte etwas Trauriges und zugleich Rebellisches aus. »Ich verkörpere das Proletariat in diesem elitären Kreis«, spottete er, »ich wohne auch in Brooklyn, in Park Slope.«
Zumindest war er nicht so schick wie die anderen, seine Haare hatten keinen ordentlichen Schnitt und standen wild durcheinander vom Kopf ab.
»Ja dann, willkommen alle zusammen!«, sagte Marie herzlich. »Normalerweise haben wir sonntags Ruhetag. Aber für Frank und seine Freunde machen wir selbstverständlich eine Ausnahme. Möchtet ihr drinnen sitzen oder hier unter der Pergola bleiben?«
Natürlich wollten bei diesem Wetter alle draußen bleiben und die Aussicht bewundern.
Marie registrierte erleichtert, dass gerade auch Willi mit dem Ford von seinem Sonntagsausflug zurückkehrte. Sie erklärte ihm die Situation, und er nahm mit Vergnügen die Getränkewünsche auf. Es war kaum zu übersehen, dass ihm Rita besonders gefiel. Ihr herzförmiger Mund war phänomenal knallrot angemalt. Der auffällige Lippenstift hätte wahrscheinlich bei jeder anderen Frau übertrieben gewirkt, aber ihr stand er.
»Sind Sie Malerin?«, fragte er.
Rita nickte erstaunt. »Wie kommen Sie darauf?«
»Reine Intuition«, behauptete er charmant, schaute aber demonstrativ auf ihre Hände. »Sie haben so etwas Künstlerisches …«
Rita zupfte an ihrem rot-weißen Haarband und lächelte. Sie hatte schöne weiße Zähne. Später beobachtete sie Willi, als studiere sie sein Profil für eine Zeichnung. Clusio und Frank machten fortlaufend Witze und sarkastische Bemerkungen, über die sich die anderen sehr amüsierten.
Marie versorgte die fröhlich lärmende Meute mit Kuchen, wenig später begann der Geräuschpegel zu sinken. Plötzlich war es ganz ruhig. Die Sonne stand schon dicht über dem Wasser. Sie verfärbte den Himmel orangefarben, tauchte die Freiheitsstatue in ein goldenes Licht. Der Spott in Clusios dunklen Augen wich einem andächtigen, verträumten Ausdruck. Ginger hörte auf, Fotos zu machen.
Ungewöhnlich lange schwiegen alle. Dann gab der Reihe nach jeder einen Kommentar ab.
»Was für ein Kuchen!«
»Was für ein Sonnenuntergang!«
»Was für ein Licht!«
»Was für eine Stimmung …seufz!«
»So unglaublich friedlich …«
Als sich die Dämmerung über sie senkte, meinte Frank schließlich, das müsse wohl die berühmte deutsche Gemütlichkeit sein. »Wunderbar, dieses in Ruhe Sitzen und Genießen …«
»Fabelhaft«, sagte Scottie. »Das machen wir nächsten Sonntag wieder. Nur, dass ich dann die Wette gewinnen werde.«
So ging es den restlichen Sommer hindurch. Die Wochenendausflügler von Fire Island wurden Stammgäste im Wiemky’s. Mit der Zeit durchschaute Marie, dass es sich bei dieser Clique um einen bunten Mix aus armen Bohemiens und künftigen Erben handelte. Doch die wirtschaftlichen Unterschiede schienen keine große Rolle für die jungen Leute zu spielen. Obwohl die meisten erst Mitte zwanzig waren, gefiel es ihnen, im Glanz der Erinnerungen an die wilde, ausschweifende Zeit vor dem Börsencrash zu baden. Fritz fand in den jungen Leuten ein dankbares und kundiges Publikum für seine neuen Cocktailmixkünste. Sie tranken alle gern und vertrugen auch einiges.
»Das haben wir der Prohibition zu verdanken! Ohne Verbot macht es ja jetzt nur noch halb so viel Spaß!«, behauptete Rita lachend. »Wisst ihr noch, wie die Fitzgeralds damals Champagnerflaschen die 5th Avenue hinunterkullern ließen?«
»Ja, und wie Zelda sich rittlings auf die Kühlerhaube eines Taxis setzte, Scott saß oben auf dem Dach, und so ließen sie sich nach Hause chauffieren!«
»Oder wie die ganze feine Gesellschaft in Abendgarderobe in den Springbrunnen vorm Plaza gehüpft ist, huuhu …«
Alle mochten die Wiemkes-Geschwister, besonders mochten sie Marie, die sich über die geistreichen Bemerkungen ihrer Gäste amüsieren konnte und sie zu würdigen wusste, aber nie selbst im Mittelpunkt stehen wollte. Sie hörte gern zu. Sie baute sensible Künstlernaturen auf, wenn sie verzagten.
»Natürlich, du musst deinen Roman zu Ende schreiben!«, ermutigte sie Clusio, den erfolglosen Schriftsteller in der Clique, immer wieder.
Clusio war entweder gerade depressiv bis melancholisch oder zynisch und rasend komisch. Er kehrte auch mitten in der Woche ein, bestellte immer nur billige Gerichte und schrieb stundenlang vor sich hin. Er durchlitt viele Krisen. Marie las oft, was er zerknüllte und wegwarf.
Die neuen Stammgäste brachten manchmal eine andere Begleitung mit, gelegentlich gab es deshalb kleine Eifersuchtsdramen. Doch wenn nichts mehr half, half immer noch Maries Kuchen. Er besänftigte die Gemüter, stimmte friedlich, nahm Aggressionen.
»Leider nur für einen halben bis ganzen Tag«, bemerkte Scottie einmal, »sonst könntest du deinen Kuchen als Weltfriedensdroge patentieren lassen!«
Willi saß Rita tatsächlich bald Modell für ihre Porträtserie, zunächst sonntagabends am Pier, wo sie mit Rötelkreide Studien skizzierte, dann für ein Ölgemälde in ihrem Atelier in der 57th Street. Willi interessierte sich lebhaft für ihre Kunst, für die Farben, die Maltechniken. Die beiden besuchten in seiner spärlich bemessenen Freizeit gemeinsam Museen und Vernissagen.
»Die Kunstszene in New York ist viel zu altmodisch und hinterwäldlerisch«, verkündete Rita, »zu viel Landschaftsmalerei – wie im letzten Jahrhundert. Nach Paris müsste man gehen …«
Willi hing an ihren Lippen. Sie wurden ein Liebespaar, auf eine unverbindliche Art, so schien es Marie, heiter und verspielt. Rita konnte von ihrer Kunst nicht leben, doch ihre mehrfach reich verwitwete Mutter finanzierte das Atelier und die Feste dort.
Nach der Sommerpause ging der Betrieb im Wiemky’s erst richtig los. In den In-Kreisen junger Journalisten, Künstler und Fotografen von New York sprach es sich herum, dass es in Red Hook einen wahnsinnig originellen Platz mit einer wahnsinnig schönen Aussicht auf die City und einem wahnsinnig köstlichen Dessert gab. Auch Wally kam gelegentlich, wenn ihr aktueller Liebhaber, der Mann einer Kundin, keine Zeit für sie hatte. Gérard schaute häufiger vorbei und – stürzte sich in eine heiße Affäre mit Frank.
Immer öfter erhielt Marie Anfragen wegen ihres Käsekuchenrezeptes. Der Besitzer eines renommierten Restaurants in Manhattan bot Marie sogar Geld dafür. Doch sie hielt sich an das Versprechen, das sie Tante Frieda gegeben hatte.
»Wir könnten viel mehr Cheese Cakes verkaufen«, sagte Willi eines Abends, als die Geschwister nach Lokalschluss gemeinsam aufgeräumt hatten und eine Feierabendzigarette rauchten. »Viele Leute bestellen ihn inzwischen nach Hause. Ich muss immer öfter Aufträge ablehnen.«
»Marie kippt uns bald aus den Latschen«, erwiderte Fritz besorgt. »Sie arbeitet schon rund um die Uhr, mehr geht nicht.«
»Ich sag ja nicht, dass sie noch mehr tun soll«, fuhr Willi den Bruder gereizt an und schwieg dann mit düsterem Blick.
»Na ja«, räumte Marie ein, »man müsste einfach mal ganz nüchtern überlegen, was das meiste Geld einbringt.«
Mehr Einkommen bedeutete mehr Freiheit. So einfach war das. Sie und Rudolf würden eine Menge Geld benötigen, für die Überfahrt, für die Hochzeit, die Einrichtung der Wohnung und überhaupt … Auch ihre Brüder würden ihr Ziel, jeder sein eigenes Lokal in einer besseren Gegend zu eröffnen, mit höheren Einnahmen eher erreichen. Fritz und Hildy könnten früher heiraten. Das war das eine.
»Du sollst nicht unseretwegen deine Anstellung bei Carol’s kündigen«, sagte Willi ernst. »So war das nicht gemeint. Ich will nicht, dass du uns dein Leben lang vorwirfst, wir hätten dich gedrängt, aus deinen Wohlgerüchen in den Kneipenmief …«
»Wenn ich kündige«, fiel Marie ihm ins Wort, »dann will ich aber nicht nur in der Küche stehen. Ich mag den Kontakt zu den Gästen!« Das war das andere.
»Ich versteh Sie nicht, Kindchen!« Mrs. Abro sagte, sie begreife nicht, wie Marie eine Anstellung, um die sie Tausende junger Frauen beneiden würden, ohne Not aufgeben wolle. »Gefällt es Ihnen denn nicht mehr in unserem Tempel der Schönheit? Ärgert Sie eine Kollegin?« Marie verneinte. Mrs. Abro appellierte an Maries guten Charakter. »Ist es denn nicht befriedigender, Frauen zu Schönheit und Zufriedenheit zu verhelfen, als in einer, entschuldigen Sie bitte, in einer Hafenkaschemme Kuchen zu backen?«
»Ich kann unsere Gäste innerlich schöner machen«, rutschte es Marie heraus. Mrs. Abro blickte sie ratlos an, sie nestelte an ihrer Brosche. Deshalb gab Marie noch einen Grund an, der ihrer Vorgesetzten sofort einleuchtete. »Damit kann ich auch einfach mehr Geld verdienen.«
»Nun«, Mrs. Abro lächelte resigniert, »wenn das so ist.«
Marie blieb noch sieben Wochen, bis ihre Nachfolgerin eingearbeitet war. Mrs. Abro verabschiedete sich mit Handschlag und echtem Bedauern von ihr.
»Viso!«, rief sie Marie traurig nach.
Marie erwartete heftige Proteste von Wally wegen ihrer Kündigung, doch die Vorwürfe blieben aus.
»Ich gehe auch«, sagte ihre Freundin nur. »Ich wollte es dir schon länger sagen. Carol will auf ihrem Landsitz eine Schönheitsfarm eröffnen. Das ist etwas ganz Neues, eine geniale Idee.«
»Wie, mitten auf dem Lande? Da geht doch keine Farmersfrau in den Beauty-Salon!«
»Nein, es ist für Damen aus den Großstädten, die wie in einem Hotel eine Woche lang auf der Farm leben, aber von morgens bis abends etwas für ihre Schönheit tun können. Sie werden unter sich sein, Sport treiben, dürfen im Bademantel herumlaufen und sich entspannen.«
»Klingt exklusiv. Und sehr kostspielig.«
»Darauf kannst du wetten! Ich schau mir das alles an, und dann eröffne ich eines Tages meinen eigenen Schönheitstempel.«
»Du hältst es doch auf dem Lande keine Woche aus«, spottete Marie.
»Ich bleib ja nicht ewig«, versicherte Wally. »Aber so eine berufliche Chance bekomme ich nie wieder.«
»Was ist eigentlich mit Romantik und Herz, mit Ehe und Familie?«
»Will ich nicht, brauch ich nicht, muss ich nicht.«
Marie betrachtete ihre Freundin wie eine seltene Schmetterlingsart. Sie schüttelte den Kopf. »Wie kannst du es nur ohne Liebe aushalten?«
»Wie kannst du es nur ohne Sex aushalten?«, erwiderte Wally. »Ich finde deine Treue bewundernswert. Aber hast du keine Angst, dass dein Rudolf längst mit einer anderen …«
»Nein!«, erwiderte Marie energisch.
Diesen Gedanken ließ sie nicht zu. Erst in der Woche zuvor hatte sie einen Brief von ihrer Freundin Soffie erhalten. Darin schilderte die Freundin, dass Rudolf beim Schifferfest in Südrhauderfehn nie zweimal mit derselben Frau getanzt und ihr am Bierzelttisch den ganzen Abend lang nur von ihr, Marie, vorgeschwärmt habe.
»Man muss Vertrauen haben«, sagte Marie. »Rudolf ist mir ebenso treu wie ich ihm.«
Der erneute Wechsel ihres Tagesablaufs fiel Marie nicht schwer. Zumindest nicht vom Arbeitspensum her. Es machte Spaß, alle Energie in eine Richtung zu lenken. Sie vermisste zwar ab und zu die City und den Chic der 5th Avenue, aber Manhattan war ja nicht aus der Welt. Marie fehlten allerdings die Gespräche mit Wally, und nicht nur das, die Freundin selbst fehlte ihr. Mit ihr hatte sie alles teilen können.
Lore sah sie nun zwar wieder öfter, doch es war nicht zu leugnen, dass Marie im Gegensatz zu der ehemaligen Kollegin aus der Fabrik ihren Horizont erweitert hatte, und so beschränkte sich ihr Kontakt mehr auf alltägliches Geplauder, Frotzeleien und den Austausch von Anekdoten. Lores größter Wunsch war, endlich mit ihrem Mann eine eigene Wohnung ohne ihre Schwiegereltern beziehen zu können. Ihr zweitgrößter, ein Baby zu bekommen. Wenn ein Gespräch mit Lore ernst wurde, dauerte es nicht lange, bis sie wieder feiern, ins Kino oder einfach Spaß haben wollte. Doch immerhin brachte die bunte Mischung an Gästen Marie viel Abwechslung.
Sie verzichtete nun darauf, sich jeden Tag perfekt zu schminken. Nur ihren Lippenstift benutzte sie noch regelmäßig, und manchmal puderte sie sich ein wenig die glänzende Nase. Rudolf hat schon irgendwie recht, dachte sie.
An einem Abend im Spätherbst, als Marie zwei dampfende Tellergerichte aus der Küche in den Gastraum brachte, wandte sich ein eleganter Herr, der in weiblicher Begleitung vor der Theke stand und einen Martini trank, höflich an sie.
»Haben Sie noch ein Stück von diesem vielgelobten Cheese Cake?«
Marie erkannte ihn sofort. Sie merkte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss, die Beilagen auf den Tellern in ihren Händen gerieten gefährlich ins Rutschen. Es war Walter Donague, der Juniorchef von Frozen Food! Er lächelte umwerfend. Marie registrierte, dass er aus der Nähe noch besser aussah, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sein männliches Kinn wies ein interessantes Grübchen auf, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der sie beunruhigte.
»Freunde haben mir gesagt, diesen Kuchen müsste ich unbedingt probieren …« Seine tiefe Stimme klang kultiviert.
Marie ging rasch weiter, sie fing sich wieder, während sie die Tellergerichte servierte. Bleib ruhig, sagte sie sich, er ist nicht mehr dein Chef, und du bist nicht mehr das Mädchen vom Lande. Er ist einfach ein sympathischer Gast, und du bist hier die Gastgeberin. Alle Menschen sind gleich, dies ist Amerika.
Nun blickte sie ihn über die Schulter an – mit dem Augenaufschlag, den Gérard ihr gezeigt hatte, und ihrem strahlendsten Wiemkes-Lächeln.
»Ja, das sollten Sie unbedingt, Mr. Donague!«
»Ach, kennen wir uns?« Neugierig betrachtete er sie.
»Wer kennt Sie nicht?«
Seine Begleiterin, sie hatte Ähnlichkeit mit dem Covergirl, das Marie damals vor der Fabrik als Beifahrerin neben Walter Donague gesehen hatte, schaltete sich in das Gespräch ein. »Ach Walter, ich bitte dich, nicht so ein fettes Dessert!« Geziert schaute sie auf ihre Armbanduhr und drängelte. »Wir müssen auch gleich los, wenn du mich noch rechtzeitig ins Theater bringen willst.«
Aufreizend strich sie sich über Taille und Hüfte. Bei dieser vermutlich vorm Spiegel einstudierten Geste kam ihr kostbares Armband besonders zu Geltung. Sicher ein Geschenk von Walter, dachte Marie. Die gertenschlanke Frau schmiegte sich schmollend an den jungen Donague, um zu zeigen: Dieser Mann gehört mir.
Marie musste innerlich schmunzeln. Ich will ihn nicht, dachte sie, brauchst keine Angst zu haben, Covergirl, ich hab meinen Rudolf. Geübt räumte sie benutztes Geschirr ab.
»Aber es tut mir leid, Mr. Donague, Cheese Cake ist für heute aus. Morgen gibt’s Nachschub …«
»Wie schade, wir sind extra deswegen gekommen.«
Marie hob bedauernd die Schultern. »Tut mir wirklich leid. Dafür machen wir ihn täglich frisch.«
»Sind Sie die Marie, nach der er benannt ist?«
»Ja, aber eigentlich ist er ja nach der City benannt.« Sie lächelte.
»Ah!« Ihm ging ein Licht auf, bewundernd zitierte er das Schild vor der Tür. »Marie’s Cheese Cake New York Style!« Seine warmen braunen Augen musterten sie erfreut. Dabei fiel sein Blick auf Maries Ring mit dem roten Glasherzchen. Natürlich erkannte er gleich, dass es sich um einen unechten Ring handelte.
»Na, das sieht ja nach ganz großer Liebe aus«, bemerkte er amüsiert.
Marie hielt inne, ihre Stimmung schlug um – sie staunte selbst, mit welcher Heftigkeit. Bildete sich dieser verwöhnte Schnösel etwa ein, dass nur echtes Gold für echte Gefühle stand? Glaubte er vielleicht, die Liebe von Menschen mit weniger Geld sei weniger wert?
»Ja, sehr groß«, antwortete sie deshalb betont ruhig mit ihrem offenen, ernsten Blick.
Es klang ein bisschen patzig. Sie ließ sich doch ihre Liebe nicht kleinreden – ebenso wenig wie sie sich mit einem teuren Armband würde kaufen lassen.
»Wie heißt ER denn?«, wollte Mr. Donague wissen.
Marie zögerte einen Moment. »Rudolf«, sagte sie dann.
Gleich darauf ärgerte sie sich über ihre Verlegenheit. Warum war sie nicht schlagfertiger gewesen? Sie hätte doch auch einfach »Mickey Maus« antworten können …
»O, sicher Rudolpho Valentino!« Walter rollte das R dramatisch und lachte. Als er merkte, dass Marie ihn nicht komisch fand, fügte er entschuldigend mit einem Augenzwinkern hinzu: »Das war nur ein kleiner Scherz …«
Jetzt lächelte sie doch, allerdings spöttisch. »Ja, ein sehr kleiner«, sagte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Marie entschwand in die Küche und stellte das schmutzige Geschirr ab. So ein Blödmann! Der konnte ihr gestohlen bleiben. Sie starrte auf ihre Hände. Wieso zitterten dann ihre Finger?
Das Wiemky’s boomte, vor allem der Lieferservice ließ die Kasse klingeln. Der Erfolg beflügelte die Geschwister. Sie investierten den Gewinn gleich wieder ins Geschäft, vergrößerten die Küche, schafften weitere Kühlboxen an, in denen ein Eisblock eine ganze Woche lang gefroren blieb. Im Flur an der Wand wurde ein Telefon installiert – in einer Kabine mit Schiebetür. Gäste konnten, wenn sie wollten, ungestört reden.
Willi und Fritz stellten außerdem einen Fahrer, für die Küche noch zwei Hilfskräfte und einen Koch ein. Als Kellner half ihnen ein junger schmaler Mann mit Brille namens Harold, den ihnen Trudie empfohlen hatte. Er war wie sie zwischen Bretterbuden aufgewachsen, aber ehrgeizig und fleißig.
Sie belieferten Geburtstage, Partys und Hochzeiten, vor allem mit »Marie’s Cheese Cake New York Style«. Manchmal, wenn eine Adresse besonders interessant klang und sie Zeit hatte, fuhr Marie mit, um beim Ausliefern Einblicke in ein Penthouse oder eine Villa zu erhaschen. Sie fand es spannend zu sehen, wie andere, besser situierte Leute lebten. Das war ein kleines Spiel, das sie heimlich für sich spielte. Neugier – ihr einziges Laster. Nur Rudolf berichtete sie davon in ihren Briefen. Und dem Pater bei der Beichte.
Inzwischen versuchten die führenden Lokale vom Broadway bis Brooklyn Maries Cheese Cake nachzumachen. Sogar das Radio berichtete eines Abends darüber. Alle Mitarbeiter und Gäste des Wiemky’s scharten sich um das Radiogerät, das Fritz auf die Theke gestellt hatte, und lauschten, denn es gab einen Wettbewerb. Eine Jury aus anerkannten New Yorker Feinschmeckern verglich in der Endrunde die Cheese Cakes von Reuben’s, Lindy’s und von Marie. Ein Experte dozierte zwischendurch über die Herkunft.
»Es hat bereits in der Antike bei den Olympiaden der alten Griechen lange vor Christi Geburt Vorläufer des Käsekuchens für die Sieger gegeben«, behauptete der Mann. »Die Römer haben das Rezept gestohlen. Sie stellten Quark und Honig in einem geschlossenen Tontopf in die Sonne und …«
»Woher will der das wissen?«, frage Harold. »Der war ja wohl nicht dabei.«
Trudie pflichtete ihm bei. »Als wenn das so einfach wäre«, sagte sie wichtig, »nur Quark und Honig … phh! Da gehört schon etwas mehr dazu!« In Trudies Verantwortung fiel die Herstellung des gebräunten Spritzgebäcks für den Boden.
»Und es lässt sich nachweisen«, tönte der Experte weiter, »dass die Amish People in unserem Lande bereits anno 1840 nach einem deutschsprachigen Rezept Käsekuchen herstellten.« Dann kam die Werbeeinblendung eines Cream-Cheese-Fabrikanten.
»Das interessiert uns nicht«, rief Lore ungeduldig. »Wir wollen wissen, wer gewonnen hat!«
Der Moderator schwärmte: »Der Siegerkuchen schmeckt göttlich, meine Damen und Herren! Cremig-sahnig, süß und etwas vanillig, mit einem Hauch Zitrone, schmeichelnd-geschmeidig, mmh …Oh, dieser Kuchen ist eine Offenbarung, Labsal für Gaumen und Seele! Und es ist …« Er machte eine gemeine Kunstpause.
»Wenn wir gewinnen, spendier ich eine Lokalrunde!«, versprach Willi mit roten Ohren.
Marie hielt den Atem an, Trudie hüpfte vor Aufregung auf der Stelle.
»… Marie’s Cheese Cake New York Style!«
Der Jubel war groß. Sie tanzten vor Freude. Willi und sein Bruder spendierten mehrere Lokalrunden. In der Küche kamen sich später Harold und Trudie näher. Fritz mixte sich durch sein gesamtes Cocktailrepertoire, und Marie feierte ausnahmsweise durch bis zum Sonnenaufgang.
Die Zeitungen überboten sich nun gegenseitig mit Tipps für die Zutaten und Kniffen bei der Zubereitung. Wildfremde Leute diskutierten darüber miteinander beim Kaufmann oder beim Friseur.
Einmal, als Marie in der Hauptpost von Brooklyn Briefmarken kaufen wollte und in einer langen Schlange warten musste, hörte sie, wie sich zwei Frauen unterhielten. Die eine trug eine Robin-Hood-Kappe mit Fasanenfeder, die andere ein Kleid mit Bubikragen.
»Ganz New York ist zurzeit im Cheese-Cake-Fieber«, sagte die Fasanenfeder in gekünstelt klingendem Plauderton.
»Er schmeckt ja auch zu köstlich«, erwiderte ihre Bekannte. »Überall bieten sie ihn jetzt an! Aber ich finde, es muss schon der echte Käsekuchen von Marie sein! Er macht einen so … so zufrieden, finde ich.«
»Was mag nur ihr Geheimnis sein?«
Sämtliche Damen in der Warteschlange sprangen sofort auf das Thema an. »Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass sie immer eine Prise Meersalz in den Teig für den Boden streut«, behauptete eine ältere Frau, die sich hielt, als trüge sie noch ein Korsett.
»Viieel wichtiger ist«, spielte jetzt die nächste ihren Trumpf aus, »dass der Kuchen über Nacht auf dem Rost im Backofen auskühlt!«
»Ach! Machen Sie die Ofenklappe auf, oder lassen Sie sie zu?«
»Zulassen. Unbedingt zulassen.«
»Also, ich geb ja immer einen Schuss Kirschwasser in die Füllung«, mischte sich wieder die Frau mit dem Bubikragen ein. »Ich denke, das ist es, was die Gemüter besänftigt.«
»Alkohol?«, entrüstete sich die Fasanenfeder. »Nein, nein! Nicht mit mir! Aber es gehört eine dünne Schicht saure Sahne oben drüber!«
Marie war die Einzige, die keinen Tipp beisteuerte. Das fiel auf.
»Sie sind noch zu jung, Darling«, sagte der Bubikragen mitleidig zu ihr, »aber wenn Sie erst mal dreißig Jahre einen Haushalt organisiert haben, dann kennen Sie auch ein paar Finessen.«
Marie lächelte höflich, sie deutete ein Nicken an, doch innerlich belustigte sie die Bemerkung außerordentlich.
Marie brühte wie fast jeden Morgen frischen Kaffee für die späten Frühstücksgäste im Wiemky’s auf. Ein paar Arbeiter saßen am Tresen. Clusio, der kein Geld für Heizmaterial besaß, brütete an einem Tisch direkt neben dem Ofen über seinem Manuskript.
»Dein großer Roman?«, fragte Marie erwartungsvoll.
»Ich … ich habe damit angefangen«, druckste Clusio, »im Kopf steht er schon …« Er ballte eine Hand zur Faust. »Aber eines Tages werde ich ihn zu Papier bringen. Es wird eine flammende Anklage gegen Machtmissbrauch, gegen die Borniertheit des gehobenen Bürgertums, das Elend der Arbeiter und der verarmten Mittelschicht und gegen die Korruption!«
Derzeit hielt er sich so gerade eben über Wasser, indem er Essays für Zeitschriften verfasste. Marie mochte den jungen Mann, sie fand nur seine Geschichten immer viel zu traurig. Doch Clusio behauptete, er kenne das Leben und alles werde eines Tages böse enden, aber kein Mensch wolle auf ihn hören und sein einziger Trost auf Erden sei ihr Käsekuchen.
»Kann ich vielleicht schon zum Frühstück ein Stück von deinem vorzüglichen Kuchen haben?«, fragte er dann.
Marie brachte ihm ein Stück.
»Danke.«
Sie schaute Clusio über die Schulter. »Willst du nicht mal etwas Heiteres schreiben, Clusio? Witz hast du doch. Sei doch mal optimistischer.«
»Optimismus ist fehlende Detailkenntnis«, erwiderte er lapidar.
Durch die Fenster sah Marie Schneeflocken tanzen, das Wetter machte sie an diesem Tag müde. Noch fuhren Autos. Aber die Freiheitsstaue war bereits hinter einer weißgrauen Wand verschwunden.
Mit einem energischen Ruck wurde die von einem Vorhang verdeckte Eingangstür aufgerissen. Marie war froh, dass sie kürzlich roten Filzstoff hatte anbringen lassen – es zog nicht mehr so schrecklich, wenn der Wind vom Meer kam. Trotzdem drang ein Schwall eisiger Luft mit in den Gastraum, als ein älterer Herr den Vorhang teilte, mit festem Schritt eintrat und Schnee von seinem Mantel klopfte. Die Art, wie er dies tat, füllte den ganzen Raum mit seiner Gegenwart. Es war Mr. Donague senior.
Insgeheim hatte Marie mit einem zweiten Besuch des Juniors gerechnet und immer mal geschaut, ob er nicht unter den Gästen war, schließlich hatte er ja ausdrücklich Interesse an ihrem Cheese Cake bekundet. Doch mit seinem Vater hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet.
Wie aufregend! Was konnte dieser wichtige Mann in ihrem Lokal wollen? Die Geschichte mit den Flugblättern für die Gewerkschaft fiel ihr wieder ein und weckte unangenehme Gefühle, das lag aber doch schon lange zurück … Vielleicht hatte ihn nur das Wetter zur Einkehr gezwungen. Obwohl, es wäre schon ein seltsamer Zufall, so kurz nach dem Besuch seines Sohnes.
»Guten Morgen!«, sagte Marie freundlich.
Mr. Donague musterte sie abschätzend, während er seinen Hut abnahm. Er hatte eine Halbglatze, der verbliebene Haarkranz war graubraun meliert.
»Morgen! Sind Sie Mary Wiemky?«, dröhnte er.
»Marie Wiemkes, ja«, sagte sie mit einem Nicken. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte geschäftlich mit Ihnen reden. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«
»Ja, natürlich. Wenn Sie vielleicht schon mal im Billardzimmer Platz nehmen wollen …« Sie wies mit dem Kopf auf die Tür zum angrenzenden Raum. »Einen Moment noch bitte. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Schwarz.«
Marie sagte in der Küche Bescheid, Trudie solle den Tresendienst übernehmen. Dann schenkte sie Kaffee in zwei Becher, lief ins Billardzimmer und nahm Mr. Donague gegenüber Platz.
Unter seinem Blick fühlte Marie sich, als hätte sie ihren Kopf unter eiskaltes Wasser gehalten. Alles an ihr war angespannt, doch sie bemühte sich, weder ihre Aufregung noch ihre Neugier zu zeigen.
»Sie wissen, wer ich bin?«, fragte er kurz, doch nicht unfreundlich.
»Sie waren einmal mein Arbeitgeber, Mr. Donague.«
Erstaunt sah er sie an. »Ach … War ich das?«
Es schien ihn aber nicht weiter zu interessieren. Er kam sofort auf sein Anliegen.
»Miss Wiemkes, ich will Ihren Cheese Cake.«
Irritiert fragte Marie, wie viele Stücke oder Cakes er denn wolle. »Auf Vorbestellung können wir Ihnen auch ein Spezialbackblech voll …«
Er unterbrach sie. »Nein, Sie verstehen nicht. Ich biete Ihnen Geld dafür, dass Sie mir Ihr Rezept, alle Rechte und den Namen für ›Marie’s Cheese Cake New York Style‹ überlassen.«
Verblüfft schaute Marie Donague senior an. Sie nahm einen Schluck Kaffee und überlegte kurz. »Nein, vielen Dank, Mr. Donague.«
»Sie begreifen offenbar nicht …«
»Doch, doch«, sagte Marie. »Es haben schon mehrere Restaurants versucht, mir das Rezept abzukaufen, aber …«
»… die haben Ihnen garantiert nicht so viel Geld geboten wie ich: fünfhundert Dollar!«
»Fünfhundert Dollar!«
So viel! Marie versuchte auszurechnen, wie viel das in deutscher Währung war und wie lange sie dafür normalerweise arbeiten müsste …
»Sehen Sie«, erklärte der Fabrikbesitzer, »wir wollen das Sortiment von Frozen Food um etwas Süßes erweitern, und Käsekuchen ist gegenwärtig, aus welchen Gründen auch immer, der große Verkaufsschlager. Das wissen Sie ja selbst am besten.«
Marie war plötzlich hellwach. »Woher wollen Sie denn wissen, ob es funktioniert? Ob man meinen Cheese Cake überhaupt einfrieren und wieder auftauen kann, ohne dass der Geschmack leidet?«
Donague senior zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Das haben wir selbstverständlich getestet.« Er klang eine Spur herablassend.
»Ach!«
»Mein Sohn war vor einigen Tagen hier, da war der Kuchen ausverkauft.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Einen Tag später haben wir eine ganze Torte bestellt und neben fünf weiteren Käsekuchen von anderen Herstellern verkostet.« Für Sekunden trat ein entrückter Ausdruck in sein Gesicht. »Wirklich her-vor-ragend, deliziös! Ihr Cheese Cake ist ein Erlebnis für den Gaumen! Es blieb kein Krümel übrig!«
Mr. Donague lachte sogar – kurz und jovial. Ob gespielt oder nicht, vermochte Marie nicht einzuschätzen. Gleich darauf war er wieder ganz der Geschäftsmann.
»Deshalb haben wir uns erneut eine Torte bringen lassen, sie eingefroren, drei Tage später wieder aufgetaut und probiert. Ich kann Ihnen versichern: Es funktioniert.«
Marie staunte. Schade, dass ihr die Bestellungen für die Donagues nicht aufgefallen waren, aber vielleicht hatten sie ja auch nur ihre Büroadresse angegeben, oder einer ihrer Brüder hatte die Order aufgenommen. Marie wäre gern mitgefahren, um sich das Haus der Donagues näher anzusehen.
»Nun, was sagen Sie?«, fragte Mr. Donague. »Sie können ihn nicht einfrieren. Aber wir haben die modernste Gefriertechnik, Fließbänder für die Verpackung, den Vertrieb in zehn US-Staaten. Wir stellen unseren Vertragseinzelhändlern sogar kostenlos einen Gefrierschrank in den Laden.« Er schien keine Zweifel daran zu haben, dass Marie auf den Handel eingehen würde.
»Das Rezept ist ein Familiengeheimnis«, sagte Marie mit fester Stimme. »Es muss in der Familie bleiben.«
Nun senkten sich Mr. Donagues Hängelider. Seine Nasenflügel weiteten sich. Er machte ein Pokerface, doch in seinen dunkelbraunen Augen glitzerte Jagdfieber.
»Gut, ich biete Ihnen tausend. Ein-tau-send Dol-lar!«
Marie schüttelte nur den Kopf.
Mr. Donague legte nach. »Also, unter Schmerzen, aber weil Ihnen so viel daran liegt, könnte ich mich sogar damit einverstanden erklären, dass Sie weiterhin Ihren Cheese Cake herstellen und verkaufen. Also bitte … Das ist doch wohl ein Angebot, das Sie nicht ablehnen können!«
Marie merkte, dass sie inzwischen kein bisschen aufgeregt mehr war. Für sie lag der Fall völlig klar.
»Nein, Mr. Donague, es tut mir leid. Ich habe es meiner Tante in Deutschland versprochen. Für alles Geld der Welt werde ich mein Versprechen nicht brechen.«
Walter Donague wusste offenbar, wann er mit einer Verhandlung nicht weiterkam. Er atmete stoßartig aus und erhob sich.
»Sie machen einen Fehler, glauben Sie mir …« Er legte seine Visitenkarte auf den Tisch. »Falls Sie es sich anders überlegen, Miss Wiemkes, rufen Sie mich direkt an. Das ist meine private Leitung im Büro.«
Willi, der am Vorabend die Spätschicht gehabt hatte, kam verschlafen die Treppe herunter, als Mr. Donague gerade abgefahren war.
»Wem gehörte denn der große Schlitten, der vorhin bei uns vor der Tür stand?«, fragte er in die Küche hinein.
»Was fürn Schlitten?«, fragte Fritz, während er mit einem Holzlöffel die Tagessuppe abschmeckte.
Mist, dachte Marie. Das gibt Ärger. Lieber hätte sie ihren Brüdern das Angebot von Mr. Donague unterschlagen. Doch sie konnte einfach nicht lügen. Also gab sie das Gespräch wahrheitsgetreu wieder.
Willi stützte beide Arme gegen den Türrahmen. »Spinnst du?!«, brüllte er. Sein Kopf lief rot an. »Wieso hast du das Angebot nicht angenommen? Wir könnten dann zu den Brauereien gehen und ein Lokal in einer besseren Gegend …«
Fritz warf empört den Holzlöffel in den Suppentopf. »Ich könnte endlich mein eigenes Business aufmachen, endlich könnten Hildy und ich heiraten!« Vorwurfsvoll sah er sie an. »Marie! Warum hast du nicht nachgedacht!« Fritz verdrehte die Augen. »Wie kann ein einzelner Mensch nur so blöd sein?«
»Ich habe nachgedacht!«, rief Marie entrüstet. »Ein Versprechen bricht man nicht. Das ist ganz einfach.«
»Mensch, Marie! Man hätte doch verhandeln können!« Willi schlug sich mit der Hand vor den Kopf. »Ein bisschen was tricksen, das geht doch immer … Du hättest ihm einfach das Rezept mit einer kleinen Abweichung vom Original …«
»Genau!«, rief Fritz. »Das hätte doch kein Schwein gemerkt!«
Marie wirbelten nur mehr Bruchstücke von Gedanken und Argumenten durch den Kopf, sie fühlte sich missverstanden, und sie überhörte, was ihre Brüder ihr gerade klarzumachen versuchten.
»Ein Versprechen bricht man doch nicht«, wiederholte sie unglücklich.
»Es ist vielleicht noch nicht zu spät«, versuchte Willi, der sich ein wenig beruhigt hatte, nun einzulenken. Er nahm am großen Esstisch Platz. »Kommt, setzt euch.«
Fritz dachte angestrengt nach. Er kratzte sich hinterm Ohr. »Vielleicht kann man ja aushandeln, dass wir Frozen Food zwar die Rechte verkaufen, aber trotzdem noch den Cheese Cake selbst herstellen und anbieten dürfen.« Ganz stolz über seinen konstruktiven Vorschlag blickte er in die Runde.
Genau das hatte Mr. Donague Marie ja bereits angeboten, aber sie hatte abgelehnt. Das erzählte sie ihren Brüdern nun nicht mehr. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen … Ihr Verstand sagte ihr gerade, dass sie jetzt besser den Mund halten sollte.
Marie lauschte einfach nur noch, wie die Brüder über den möglichst einträglichen Verkauf des Rezeptes redeten, und sie dachte an Tante Frieda in Leer, die sie davor gewarnt hatte, zu gierig zu werden.
»Wenn unser Cheese Cake bei Frozen Food in die industrielle Massenproduktion ginge«, wandte Willi nun gegen den Vorschlag seines Bruders ein, »würde er so billig werden, dass wir mit unseren Preisen gar nicht mehr dagegen anstinken könnten …«
In Maries Schläfen hämmerte es. Wie schrecklich, sie verabscheute Auseinandersetzungen! Am liebsten wäre sie einfach davongelaufen. Es war ihr Rezept! Tante Frieda hat es ihr geschenkt. Ihre Brüder hatten davon nicht schlecht profitiert, aber es gehörte ihr!
Doch sie traute sich nicht, das alles laut zu sagen. Wahrscheinlich hätten Willi und Fritz ihr dann unter die Nase gerieben, dass sie bereits in der ersten Nacht in Amerika unter einem Federbett hatte schlafen dürfen – dank ihrer Vorarbeit. Marie war den Tränen nahe. Immerzu schuldete sie jemandem etwas. Erst den Eltern, dem Pfarrer, dann den Brüdern … Sie wollte ja auch nicht undankbar sein.
»Oder wir bieten es der Konkurrenz an, und die beiden schaukeln sich gegenseitig hoch!«, überlegte Fritz.
»Ich muss Trudie ablösen«, sagte Marie schroff.
Sie sprach den ganzen Tag über kaum mehr ein Wort und brachte keinen Bissen hinunter. Sie schlief schlecht, rang mit sich und überprüfte ihre Entscheidung noch einmal.
Sollte sie Mr. Donague vielleicht doch anrufen?
Am folgenden Tag konnte Marie ihren Brüdern kaum in die Augen sehen. Wie wandelnde Vorwürfe liefen sie durch die Gegend. Ihr wurde ganz schwummrig. Sie tastete nach der Visitenkarte in ihrer Schürzentasche, drehte sie hin und her.
Es stimmte, niemand außer ihr, und Tante Frieda natürlich, kannte das Originalrezept, sie könnte Mr. Donague einfach eine andere Rezeptur aufschreiben. Aber das wäre dann ihre erste vorsätzliche Unehrlichkeit. Und mit so etwas wollte sie gar nicht erst anfangen. Wenn sie andererseits tatsächlich das Original verkaufen würde – was sie sich schon rein praktisch überhaupt nicht vorstellen konnte, denn wie sollte dieser Käsekuchen wohl in einer Fabrik hergestellt werden können? –, aber wenn, dann würde sie auch sich selbst einer großen Freude berauben. Obwohl das Backen ihr gelegentlich auf die Nerven ging, genoss sie es doch sehr zu beobachten, wie zufrieden ihr Cheese Cake die Gäste machte.
Nein, es ging nicht anders.
Marie mochte selbst zum Abendbrot noch nichts essen, vom vielen Kaffee, den sie auf nüchternen Magen getrunken hatte, war ihr übel. Blass saß sie mit den Brüdern am Tisch. Auch Willi und Fritz hatten sich seit ihrer Auseinandersetzung wohl ihre Gedanken gemacht, denn sie gaben sich sogar Gästen und Mitarbeitern gegenüber wortkarg. Und erst jetzt fiel ihnen offenbar auf, wie mitgenommen Marie war. Besorgt wechselten sie einen Blick.
»Du machst doch nicht schlapp, oder?«, fragte Fritz.
Willi verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. Er blinzelte und schob seine Unterlippe vor. »Ach, Kinder! Wenn ich’s mir recht überlege: Wir haben es doch gar nicht so schlecht miteinander, oder? Sollten wir denn wirklich schon getrennte Wege gehen?«
Fritz grummelte noch. Er wünschte sich inständig, endlich Tag und Nacht mit Hildy zusammenleben zu können.
Willi stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Und deine Hildy ist gerade erst achtzehn, Bruderherz. Wenn ihr jetzt heiratet, kommen ganz schnell viele kleine Wiemkes und deine Jugend ist vorüber … Willst du das?«
Fritz nickte heftig. Seine Augen leuchteten. »Ja, ja, ja! Das will ich!«, rief er aus vollem Herzen.
Marie wusste, dass er und Hildy davon träumten, ein Lokal für Sportler und Sportfreunde zu eröffnen.
Fritz überlegte. Schließlich zuckte er mit den Achseln. »Aber wir schaffen das auch ohne diesen Donague!«
»Versprochen?«, fragte Marie erleichtert.
»Versprochen!« Die Brüder legten ihre Hände auf Maries Rechte.
Sie lächelte mit einer ganz feinen Prise Ironie. »Und was man verspricht, das muss man auch halten.«
Fritz und Willi schenkten ihrer Schwester ihr breitestes Wiemkes-Lächeln.
Als wenige Tage nach der Versöhnung mit ihren Brüdern der junge Walter Donague das Wiemky’s betrat, zuckte Marie zusammen.
»Guten Tag, Mr. Donague«, sagte sie steif, »äh … willkommen.«
»Kein Grund, sich formell zu verhalten«, antwortete er mit einem Augenzwinkern. »Ich habe friedliche Absichten.«
Marie lächelte, er war wirklich sympathisch. Sie entspannte sich. »Na, wenn das so ist …«
»Da es Ihren wunderbaren Kuchen nur hier gibt, muss ich mich ja wohl zu Ihnen bemühen.«
»Heute haben wir auch genug da. Sie können essen, so viel Sie mögen«, versprach Marie.
Unauffällig musterte sie die Kleidung ihres ehemaligen Juniorchefs. Er trug eine Baumwollhose, einen Kaschmirpulli über einem Polohemd und Turnschuhe. Signalisierte er damit nicht unmissverständlich, dass er zum Privatvergnügen hier war? Lässig setzte er sich an einen Tisch.
»Dann bringen Sie mir doch bitte ein richtig großes Stück. Empfehlen Sie Schlagsahne dazu?«
»Auf jeden Fall. Mögen Sie auch etwas Obst und Fruchtsoße?«
»Gern. Und schwarzen Kaffee, bitte.«
Beim Servieren überlegte Marie, ob sie den Besuch und das Anliegen seines Vaters erwähnen sollte. Oder dass sie von der Cheese-Cake-Verkostung bei den Donagues wusste. Sollte sie ihm vielleicht noch mal die Gründe für ihre Ablehnung auseinandersetzen? Sie entschied sich, lieber nichts zu sagen.
»Hmm …« Beim ersten Bissen schloss Walter Donague die Augen. Es schien ihm hervorragend zu schmecken. »Ich bin nicht nachtragend«, sagte er freundlich, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Und damit war das Eis zwischen ihnen gebrochen.
Walter Donague kam nun häufiger ins Wiemky’s. Er traf bald auf die Fire-Island-Clique. Frank, Rita und die Pressefotografin Ginger hatte er schon vorher flüchtig gekannt, von irgendwelchen Events in Manhattan und von Pferderennen auf Long Island. Sie lagen auf einer Wellenlänge, er teilte ihren Sinn für Humor und ihren Wortwitz. Walter gehörte bald zu ihrem Kreis. Sie spielen gemeinsam Poker oder Gesellschaftsspiele, schlürften Cocktails und unterhielten sich prächtig.
Walter hatte auch immer ein Kompliment für Marie und ein freundliches Wort für Trudie. Das junge Mädchen dankte es ihm mit größter Aufmerksamkeit.
»Darf ich Ihnen etwas nachschenken, Mr. Donague? Möchten Sie die Zeitung lesen, Mr. Donague? Wie geht es Ihnen heute, Mr. Donague?« Trudie himmelte ihn regelrecht an.
Marie freute es natürlich, angenehme Gäste wie ihn zu haben, sie sagte sich aber auch, dass es ihr völlig egal wäre, wenn er nicht käme. Insgeheim begrüßte sie es, dass er das Covergirl mit dem Kalorientick nicht mehr mitbrachte. Rita kannte die Frau und lästerte, als Walter außer Hörweite war.
»Sie heißt Peggy«, sagte sie. »Ich hab sie mal in einem Musical gesehen. Sie beherrscht die ganze Bandbreite der Schauspielkunst von A bis B.«
Da die Wiemkes-Geschwister mit allen aus dem Freundeskreis um Frank per Du waren, nannten sie und Walter sich auch bald beim Vornamen. Es kostete Marie anfangs einige Überwindung. Wenn sie wieder auf die Ansprache »Mr. Donague« verfiel, bat er, das Formelle doch endlich zu unterlassen. Irgendwann gewöhnte sie sich daran, ihn zu duzen.
»Pass bloß, auf Marie!«, sagt Willi dann eines Abends beim Stühlehochstellen. Mit einer steilen Falte zwischen den Augenbrauen redete er abfällig über Walter und dessen »friedliche Absichten«. »Die Donagues lassen sich nicht so einfach eine Abfuhr erteilen. Der Alte hat seinen Sohn auf dich angesetzt. Wetten? Der ist doch bekannt als Frauenheld. Rita weiß da einige Geschichten über ihn zu erzählen … Nimm dich in Acht!«
»Also, du bist manchmal wirklich krankhaft misstrauisch«, erwiderte Marie nur.
Doch mit leisem Bedauern musste sie an Willis Worte denken, als Walter nach einiger Zeit ganz offen mit ihr flirtete. Es begann damit, dass er Marie zur Begrüßung die Hand küsste. Die Berührung seiner Lippen löste auf ihrer Haut ein unerwartetes Rieseln aus. Aber Marie ließ sich nichts anmerken, sie lachte nur leichthin, als hätte er einen Scherz gemacht.