Long Island

Mai 2003

Einen Tag vor unserem Rückflug nach Hamburg unternahmen mein Großvater und ich einen langen Spaziergang. Er wollte anschließend noch einmal mit Jim in das Walfängermuseum, ich verabredete mich lieber mit Tante Marie, um ein letztes Mal ihren Erzählungen zu lauschen. Doch als ich durch die geöffnete Verandatür in das Häuschen eintrat und durchs Wohnzimmer in die angrenzende Küche sah, schwante mir, dass sie heute etwas anderes vorhatte. Auf der Arbeitsfläche eines Küchenblocks in der Mitte des Raumes standen Backzutaten. Tante Marie saß am kleinen Küchentisch am Fenster und löste Kreuzworträtsel. Sie hatte sich eine gestärkte weiße Schürze umgebunden. Als sie mich hörte, stand sie umständlich auf.

»Ah, da bist du ja, mein Kind!«, sagte sie. »Komm her, ich will dir etwas zeigen.«

Ich kam näher, warf einen Blick auf die Zutaten: Frischkäse, Schmand, Sahne, Eier, Butter, eine Orange, zwei Zitronen, eine Vanilleschote, eine Keksdose, eine Reibe … Kein Zweifel, das hier konnte nur auf eines hinauslaufen: den einzig wahren Cheese Cake.

»Nein, Tante Marie!«, rief ich aus. »Bitte nicht ich. Das ist zu viel der Ehre!« Um Gottes willen, ich taugte doch nicht als Hüterin des Familienrezeptes. Das ging gar nicht. Wenn früher bei Familienfesten die Frauen anfingen, sich über Kuchenrezepte auszutauschen, hatte ich die Flucht ergriffen. Zumindest mental. Das war einfach nicht meine Welt. »Ich kann nicht backen, Tante Marie, ich mag auch nicht gern backen.«

Sie verzog kurz ihren Mund, ließ sich aber nicht weiter irritieren. »Papperlapapp, das soll so sein«, erwiderte sie. »Ich bin mir sicher.« Entschlossen stöpselte sie ihren Mixer ein und stellte eine Teigschüssel bereit, gab ein Stück Butter in einen Tiegel und schob ihn auf den Herd. »Du musst für jeden Backofen wieder neu die Garzeiten austesten«, sagte sie, »man kann es einfach nicht verallgemeinern. Das ist wie mit Geigen, da gibt’s auch Stradivaris und andere.« Sie schaltete ihren Backofen ein. »Es ist wichtig vorzuheizen. Nachdem du den Kuchen hineingeschoben hast, lässt du es die ersten zehn Minuten bei der Temperatur hier, dann reduzierst du die Hitze um ein Drittel.«

»Nein, ehrlich, ich bin völlig ungeeignet«, wehrte ich weiter ab. »Ich verbrenn mir immer nur die Finger.«

Tante Marie öffnete die Keksdose, darin lagen die Lieblingskekse meiner Kindheit. Ich konnte nicht widerstehen, nahm ein paar stark gebräunte, denn die schmeckten mir am besten.

»Siehst du!«, triumphierte Tante Marie, »du hast genau die richtigen gewählt.«

Während sie die Kekse in einen Gefrierbeutel füllte und mit einer Rolle krümelig walzte, protestierte ich mit vollem Mund – hm, was schmeckten die lecker … – weiter. »Ich bin nicht wie du, Tante Marie«, erklärte ich. »Ich bin getrieben, unruhig, ich kann zickig sein. Mein Leben ist nicht geordnet, und ich hab bald kein Geld mehr …«

»Na und?« Der Altersstarrsinn war bei ihr schon sehr weit fortgeschritten. Sie schüttelte die Kekskrümel in die Schüssel, goss die geschmolzene Butter darüber und verknetete beides. Ruck, zuck legte sie mit dieser Masse den Boden einer Springform aus. »Ganz dünn«, sagte sie, »sonst schmeckt die Butter zu penetrant durch. Aber wenn du weniger Butter oder stattdessen anderes Fett nimmst, wird es fad.«

»Das will ich überhaupt nicht wissen!«, versuchte ich ihr klarzumachen.

Sie drückte mit den Daumen den Boden glatt. »Das muss jetzt im Kühlschrank richtig fest werden.« Sie nahm eine Rührschüssel, in die sie nach und nach die ersten Zutaten für die Füllung gab, die offenbar schon abgewogen waren, und vermixte sie auf niedriger Stufe.

»Die dürfen aber nicht direkt aus dem Kühlschrank kommen«, erklärte Tante Marie unbeeindruckt weiter. »Der Doppelrahmfrischkäse, die Crème double und der Schmand, das alles muss Zimmertemperatur haben. Oder … wie nennt man half’n cream, gibt’s das überhaupt in Deutschland?«

»Keine Ahnung, ich kann ja nicht einmal Schmand von Crème double unterscheiden«, gestand ich. »Was ist Crème double überhaupt?«

Das würde sie hoffentlich abschrecken. Wieso wollte sie ausgerechnet mir diese große Verantwortung übertragen?

»Crème double ist süßer, fester Rahm«, sagte Tante Marie. »Kannst du bitte mal die Schalen der beiden Zitronen und der Orange abreiben?«, bat sie.

Höflich und etwas verwirrt folgte ich ihrer Aufforderung. Gleich stieg mir ein wunderbar frischer Zitrusduft in die Nase. Gute Qualität!

»Dafür nimmt man natürlich nur ungespritzte Früchte!«, erklärte Tante Marie, während sie den restlichen Zucker und einen gestrichenen Löffel eines gelblichen Pulvers in die Mixtur rieseln ließ. Dabei verschüttete sie ein wenig von dem Pulver.

»Das macht nichts«, winkte sie lässig ab, »wichtiger ist, dass alles schön cremig wird.« Auf einmal seufzte sie tief. »Ursprünglich dachte ich ja immer, Anna würde das Rezept erben«, sagte sie dann. Ja klar, das verstand ich, ihre Tochter wäre naturgemäß die geeigneteste Nachfolgerin gewesen.

»Und später? Nach Annas Tod?«, wollte ich wissen. »Hättest du da nicht eine andere Verwandte aussuchen können? Es gibt schließlich einige, die infrage gekommen wären, wie wir auf deiner Geburtstagsfeier gesehen haben …«

Tante Marie wiegte den Kopf hin und her, gleichzeitig schlitzte sie die Vanilleschote der Länge nach auf. »Schwer zu sagen. Ich weiß es selbst nicht so genau.«

Sie kratzte nun das Mark heraus, das ebenfalls verheißungsvoll duftete, und mixte die kleinen schwarzen Körnchen mit der Zitronenschale gründlich unter die Creme. Offenbar erforderte der Kuchen ihre volle Konzentration. Schweigend schlug sie mehrere Eier auf und hob sie einzeln langsam, aber sorgfältig unter die Masse. Vom letzten Ei nahm sie nur das Dotter.

Dann kehrten ihre Gedanken zum Thema zurück. »Also, Cora, meine Schwiegertochter, war Ärztin mit Leib und Seele. Das passte irgendwie nicht.«

Ihr jüngerer Sohn war homosexuell, das wusste ich von Tini. Auch ungünstig, wenn man weibliche Verwandte suchte.

»Na, vielleicht Kinder oder Enkelinnen von Tante Elisabeth, von Onkel Willi, Fritz oder Engelbert?«, schlug ich vor.

»Tja …« Tante Marie rührte mit dem Mixer die letzten Zutaten unter. »Und merke dir, die niedrige Stufe ist am besten, dann kommt nicht so viel Luft hinein. Die Füllung fällt sonst beim Backen leicht in sich zusammen.«

Ich nickte abwesend. »Warum jetzt erst und warum ich?«, wollte ich wissen.

Sie sah mich über die Brillengläser an. »Also, es ist ja ein bisschen so was wie das Zepter weitergeben. Wer lässt es sich schon gern vorzeitig aus der Hand nehmen? Ich fühlte mich ja noch ganz fit … bis mein Mann starb.«

Ich tippte mit dem Finger etwas von dem verschütteten gelblichen Pulver auf und leckte mit der Zungenspitze daran. Was mochte das sein?

»Was ist das?«, fragte ich unwillkürlich.

»Maisstärke.«

»Aha. Ist das die Zauberzutat?«

Tante Marie schüttelte den Kopf. Spitzbübisch kräuselte sie ihre Nase. »Die kommt noch.«

Nun war ich doch langsam gespannt.

»Rona, vorher möchte ich dir etwas ans Herz legen.«

»Ja, bitte?«

»Tu, was du tust, mit Liebe, Freude und Sorgfalt. Wenn es nicht gelingt, dann mach es anders, oder mach etwas ganz anderes.«

»Hm …« Ich wusste nicht so recht, was ich dazu sagen sollte.

»Dieses Rezept wird dein Leben verändern«, prophezeite Tante Marie. »Bitte versprich mir, dass du es nicht übertreibst. Halte die Gier unter Kontrolle, ja?«

Ich zuckte nur mit den Schultern. Nicht zu gierig werden, was Käsekuchen anging? Na, das sollte nicht zu schwierig sein. Ich würde mich wohl beherrschen können.

»In Ordnung«, sagte ich.

»Und versprich, dass du das Rezept niemals komplett aufschreibst und dass du es nur an eine weibliche Verwandte weitergibst!«

»Ich hab aber keine Kinder …und ich bin schon Mitte vierzig«, erwiderte ich, plötzlich betrübt.

»Na ja. Das findet sich schon«, sagte Tante Marie tröstend. Sie lächelte. »Sieh mich an, ich musste neunzig werden, bis ich die Richtige gefunden hatte. Du wirst es schon spüren, wenn’s so weit ist.«

»Aber ich hab mir nicht mal merken können, wie viel man wovon nimmt. Bestimmt krieg ich das ohne schriftliche Anleitung nicht hin.«

Tante Marie ließ auch diesen Einwand nicht gelten. »Du wiederholst das Ganze gleich unter meiner Aufsicht. Da vorne stehen noch einmal sämtliche Zutaten für einen zweiten Kuchen.« Sie bohrte ihren Zeigefinger in meinen Bauch, beschwörend sah sie mir in die Augen. »Ich will dir mal was sagen: Es scheitern mehr Träume durch Zweifel als durch Fehler. Wenn’s nicht gleich klappt, dann probierst du eben so lange, bis es funktioniert. Manchmal liegt es nur an einer Kleinigkeit. Keine Angst vor Fehlern! Versprochen?«

Nun war mir doch ein wenig feierlich zumute. Ich musste schlucken.

»Okay, ich verspreche es.«

Tante Marie sah mich prüfend an. »Was genau versprichst du jetzt?«

»Ich verspreche, dass ich Fehler in Kauf nehme und das Rezept bewahre, wie du es wünschst.«

»Schön!« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. Unser Pakt war besiegelt.

Tante Marie nahm die Springform aus dem Kühlschrank und goss die Füllung hinein, bis fast an den Rand. Ich war wirklich gespannt, was sie jetzt noch hinzufügen würde.

Sie lachte leise. »Wenn du es richtig machst, wirst du bestimmt auch neunzig Jahre alt.«

Nun demonstrierte sie es, und als sie mir ihr Geheimnis anvertraute, lag auf ihrem Gesicht ein Ausdruck voller Liebe und Zufriedenheit.

Ich staunte ungläubig. »Dass es so einfach ist! Das hätte ich nicht gedacht, Tante Marie!«