Ostfriesland

Juli bis Oktober 2003

Zucker und Alkohol sind eine teuflische Mischung. Jedenfalls hatte ich am Morgen meines Umzugs fürchterliche Kopfschmerzen, die ich auf den Genuss der Ostfriesischen Bohnensuppe am Vorabend zurückführte. Ein unguter Zustand, durch den sich meine Zweifel auch nicht gerade verringerten. Ich fuhr hinter dem Umzugswagen her. Die Alster glitzerte zum Abschied in der Sonne, die Segelschiffe glitten dahin wie in einem Werbespot. Wie dumm oder verzweifelt musste man eigentlich sein, um freiwillig die schönste Stadt Deutschlands zu verlassen?

Ich schaltete das Denken aus und mein Autoradio ein – NDR 1, den Radiosender, den mein Onkel Hans im Stall laufen ließ, weil er glaubte, dass seine Kühe dadurch mehr Milch gäben. Die Oldies lullten mich ein, und ich zuckelte einfach immer hinter dem Umzugswagen her. Doch hinter Oldenburg, auf der Autobahn, passierte es wieder. Etwas in mir lockerte sich, unwillkürlich atmete ich freier durch. Vielleicht erinnerte sich irgendetwas in meinen Zellen? Vielleicht reagierten sie ja doch auf eine uralte geomantische Prägung. Keine Ahnung, jedenfalls fühlte ich mich erleichtert. Und als ich wenig später auf Landstraßen unter einem unglaublich hohen Himmel durch die weite Landschaft Ostfrieslands fuhr, kehrte mein Optimismus zurück. In dieser Idylle mit Windschutzwällen, Eichen, Backsteinhäusern, Weiden und Heuwiesen, Getreidefeldern mit Kornblumen und Margeriten am Wegesrand ging mir das Herz auf.

Schon verrückt. Da reist man durch die ganze Welt, weil man immer hofft, irgendwo den Ort zu finden. Ich erinnerte mich an eine Kollegin, die in Kenia ihr Déjà-vu hatte und seitdem überzeugt war, dort in einem früheren Leben zu Hause gewesen zu sein. Sie träumte davon, sich einmal dort niederzulassen und verbrachte vorerst jeden Urlaub in Kenia. Der Art Director eines Magazins erzählte mir einmal, dass er seinen Platz in Norwegen an einem blauen See in einer schlichten, er sagte leeren, grünhügeligen Landschaft gefunden habe. Er baute sich dort ein Ferienhaus.

Ich hatte auf meinen Reisen in all den Jahren vergeblich nach diesem einen Ort gefahndet, der das »Hier will ich leben, hier gehöre ich hin«-Gefühl auslöste. Dabei war die Suche danach unterschwellig immer eine starke Antriebsfeder gewesen. Und ich lernte ja auch einmalige, atemberaubende Regionen kennen – nur keine, die so sehr meiner Seelenlandschaft entsprach wie diese!

Wir erreichten Leer. Das Möbelwuchten und Bücherkistenhineintragen würden die Umzugsexperten noch übernehmen. Mir grauste schon davor, anschließend alles allein auszupacken. Doch als wir ankamen, stand vor dem Haus gelassen grinsend die Hälfte meiner ostfriesischen Verwandtschaft parat, alle in Räuberzivil. Vorneweg mein Großvater.

»Opa, was machst du denn hier?« Wir umarmten uns. »Und ihr! Hey, toll, euch zu sehen!«

Mein Großvater hatte alles, was einen Karton wuchten oder belegte Brote schmieren konnte, mobilisiert. Handwerklich versierte Onkel, zupackende Tanten, Cousinen und Cousins. Ein knappes Dutzend. Ich war überwältigt.

Weil die neue Wohnung kaum fünfzig Quadratmeter groß war, dirigierte ich einige der Möbel in die zukünftige Teestube. Die Wände waren frisch gestrichen, in einem angenehmen Cremeton, der sich auch bei der Innenausstattung oft wiederholte, nur eine Wand schimmerte ochsenblutrot – davor würden Schwarz-Weiß-Fotos gut zur Geltung kommen. Ich wollte nämlich in der Teestube auch wechselnde Ausstellungen präsentieren. Den alten Holzboden, der unter einem Kunststoffbelag verborgen gewesen war, hatte ich abschleifen und neu versiegeln lassen.

Wegen der wiederentdeckten Delfter Kacheln wollte ich auch stilgerecht einen großen gusseisernen Herd an der früheren Kochstelle haben. In einer Fachzeitschrift hatte ich ein phänomenales Exemplar entdeckt, außen nostalgisch, innen supermodern, sehr schwer, aus Frankreich. Eine Anschaffung fürs Leben und entsprechend kostspielig, aber ich bestellte das Teil. Neben dem Cheese Cake, so hatte ich mir überlegt, wollte ich selbst gemachten Blechkuchen mit extraviel Butter und Obstbelag anbieten. Dafür brauchte ich breite, tiefe Backöfen, auch die hatte ich erstanden und ließ sie einmauern.

Weil die Küche somit kostspieliger geworden war als vermutet, musste ich notgedrungen bei der Inneneinrichtung des Gastraumes sparen. Mein Plan war, eine schöne Mischung aus Trödel und Antiquitäten zusammenzubringen.

Viel schneller als erwartet stand alles, hingen die Gardinen, Lampen und Bilder, waren die Bücher und Schränke eingeräumt. Die Verwandten erzählten Ostfriesenwitze. Gegen Abend weihten wir die Teestube inoffiziell ein, zum Teil auf Umzugskartons und anderen improvisierten Sitzgelegenheiten hockend, und verspeisten mit Riesenappetit, was meine Tanten vorbereitet hatten. Zu Brot und Gulaschsuppe gab es Bier und Tee. Während wir schmausten, klopfte es an der Eingangstür.

»Ich bin Aalke, die mit dem Esoterikladen«, stellte sich eine wohlgenährte Frau Mitte dreißig vor.

Ihre selbst gehäkelte lila Weste stach als Erstes ins Auge, dann bunte Cowboystiefel. Die langen Haare hatte sie schwarz gefärbt. Ich fand sie schrill, aber nicht unsympathisch. Sie schenkte mir einen kleinen Schutzengel.

»Danke, Aalke. Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«, lud ich sie ein.

Doch sie ging erst einmal mit großen Schritten von einer Ecke des Raumes in die gegenüberliegende. Sie schloss die Augen, streckte die Hände vor, als würde sie Schwingungen wahrnehmen. Die Verwandten grinsten verstohlen. Einige schauten auch respektvoll oder misstrauisch.

Nach ihrer Kontaktaufnahme mit den Energien kam Aalke ernst auf mich zu. »Wenn du möchtest, komme ich morgen wieder, und wir räuchern die Räume aus«, bot sie an. »Das Haus sollte unbedingt von seinen Altlasten befreit und gereinigt werden.«

Schaden kann das sicher nicht, dachte ich. Außerdem wollte ich meine neue Nachbarin nicht gleich am Anfang vor den Kopf stoßen. Sonst würde sie sich womöglich noch mit irgendeinem unguten Zauber rächen.

»Ja, gern. Das würde mich freuen«, erwiderte ich deshalb.

Aalke setzte sich auf einen Koffer und trank mit uns Tee. Dann klopfte es wieder an der Tür. Es war der Nachbar von der anderen Seite, der Goldschmied. Mit Pferdeschwanz und Ohrring sah er aus wie ein Harley-Chopper-Fahrer, born to be wild, aber er überreichte mir ganz traditionell Brot und Salz.

»Willkommen in unserer Straße!«, sagte er, gab mir die Hand und machte einen Diener. »Ich bin Enno Meyer. Sie wollen also Cheese Cake verkaufen?«

»Nanu, das hat sich ja schnell herumgesprochen!« Gab es hier denn kein Bankgeheimnis?

»Ich liiiebe Cheese Cake«, schwärmte Enno Meyer.

Verblüfft bot ich ihm meinen Stuhl an. »Prima … Was möchten Sie trinken? Tee, Bier, Wasser?«

»Tee, bitte. Immer wenn ich mit meinem Lebensgefährten in den Staaten bin, stürzen wir uns auf den sagenhaften Cheese Cake dort. Ich hab nie verstanden, warum man den bei uns nur in diesen Coffee-Shop-Ketten und nur in abgestandenen Sparversionen kriegt!«

Glücklich schlief ich an diesem Abend ein. Keine Spießer als Nachbarn und schon alles eingeräumt, ein super Start! Allerdings schlief ich schlecht. Dunkle Träume, Schatten einer Verfolgung, bedrückten mich. An Genaues konnte ich mich am Morgen nicht erinnern.

Ich war direkt froh, dass Aalke tatsächlich in ihrer Mittagspause herüberkam. Sie wandelte wieder durch die Räume, jetzt auch im oberen Stockwerk, und spürte dem Unsichtbaren nach.

»Hier sind Menschen sehr glücklich und sehr unglücklich gewesen«, sagte sie schließlich. »Ihnen ist großes Unrecht geschehen, das hat Spuren hinterlassen …«

Ich bekam eine Gänsehaut. Jetzt musste ich mich dringend um Tante Friedas Biografie kümmern. Es war nur so viel auf einmal zu tun. Doch Tante Marie wartete, und sie war schon neunzig.

»Dieses Kräuterbündel«, Aalke hielt mir getrockenes, unterarmdickes, eng verschnürtes Gesträuch unter die Nase, »das habe ich von einer Navajo-Schamanin aus dem Wilden Westen, persönlich von ihr gebunden und feierlich an mich weitergereicht.«

Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Wir lüfteten zunächst alle Zimmer gründlich, dann schlossen wir die Fenster. Aalke entzündete ihr Bündel, wartete, bis es vorne langsam vor sich hin glomm und ging dann, einem mir unbekannten Ritus folgend, murmelnd und wedelnd durch jeden Raum, besonders in die Ecken. Ich glaubte, Salbei und Zeder aus dem Duftmix herausriechen zu können. Angenehm, aber sehr konzentriert.

Deshalb verzogen wir uns in den Garten, den einer meiner Cousins mit Sense und Heckenschere schon grob entzaust hatte, und ließen den Rauch eine Weile wirken. Aalke erzählte, sie sei verheiratet, habe zwei Kinder und wohne in einem Haus am Stadtrand. »Ich war schon als Kind übersensibel«, sagte sie, »das ist Segen und Fluch zugleich. Übrigens biete ich auch Reiki an, falls du mal Entspannung möchtest. Oder eine Feng-Shui-Beratung?«

»Danke. Meine esoterische Phase hatte ich vor zehn Jahren. Im Moment brauch ich Tische, Stühle und Bänke.«

Auch das war kein Problem für Aalke. Bereitwillig gab sie Tipps, wo ich Möbel für meine Teestube finden könnte. Sie empfahl mir Flohmärkte in der Umgebung und eine Straße, die von Ostfriesland bis nach Groningen in Holland verlief, an der auf diversen alten Bauernhöfen Trödel und Antikes angeboten wurde.

Nach einer Weile gingen wir zurück und lüfteten wieder kräftig durch. Tatsächlich wirkte die Atmosphäre gereinigt. Ich wollte Aalke für ihre Dienste bezahlen, doch sie sagte, das sei ihr Willkommensgeschenk.

»Die verbesserte Aura strahlt nach nebenan aus, sie steigert auch mein Wohlbefinden.«

»Weißt du eigentlich etwas über die jüdische Familie Levy, die hier vor dem Krieg gelebt hat?«, fragte ich sie.

Aalke schüttelte den Kopf. »Aber Oma Henny weiß bestimmt was. Sie ist in dieser Straße aufgewachsen und erst letztes Jahr ins Altersheim gezogen. Wir können sie mal zusammen besuchen.«

»Das wäre super!«

Einige Tage später, als ich gerade auf dem Wochenmarkt Mirabellen kaufte, um damit den Obstblechkuchen zu üben, hörte ich jemanden erstaunt meinen Namen rufen.

»Rona, bist du das?«

Eine Frau meines Alters in Jeans und T-Shirt stand hinter mir. Sie kam mir bekannt vor. Die von Natur aus karottenroten Haare, die klare Stimme mit dem breiten ostfriesischen Tonfall, das gerollte »r«, die durchscheinende glatte Haut, immer noch glatt …

»Mensch Rona, du hier? Ich bin’s, Elfriede!« Sie lächelte einnehmend. »Erkennst du mich etwa nicht? Früher hatte ich ’nen Pferdeschwanz.«

Jetzt wusste ich es wieder! Wir waren zusammen eingeschult worden, sie hatte in der großen Pause meine Topflappen für den Handarbeitsunterricht fertig gehäkelt. Elfie mit dem Pferdeschwanz! Jetzt trug sie die Haare kinnlang und durchgestuft. Sie war immer bescheiden, grammatisch nie ganz sicher gewesen und hatte schon damals eine Million Sommersprossen und einen unglaublich lieben Charakter gehabt.

»Natürlich … Elfie! Wie geht’s dir?«

Ich erinnerte mich dunkel, dass sie später bei einem Steuerberater gelernt hatte.

Wir tranken in einem Marktlokal Cappuccino und erzählten uns gegenseitig in Kurzversionen, wie unser Leben seit der Volksschule verlaufen war. Elfie hatte drei Kinder, zwei waren schon aus dem Haus, vor fünf Jahren hatte sie ihren an Krebs erkrankten Mann verloren, anschließend ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt.

»Ich hab Kapazitäten frei«, sagte sie. »Wenn du willst, greif ich dir ein wenig unter die Arme.«

»Echt, das würdest du tun?«

Es stellte sich heraus, dass Elfie sich in der Zeit, als sie wegen der Kinder, wegen ihres kranken Mannes und der Mutter das Haus nicht so einfach hatte verlassen können, zum ebay-Profi entwickelt hatte. Das war meine Rettung. In den Wochen bis zur Eröffnung half sie mir, auf dem Onlinemarktplatz die herrlichsten Möbel zu ersteigern: Tische und Stühle mit gedrechselten Beinen, eine alte Kirchenbank aus dem Rheiderland, zwei Friesensofas, die ich mit neuem Stoff in Ochsenblutrot beziehen ließ, ein organisch geschwungenes Fünfzigerjahrebüfett aus einem Kino, Vitrinen und Lampen mit Charme.

Elfies Schwager und dessen Kumpel lackierten für mich all jene Teile, die nur von der Form, aber nicht vom Material her schön waren, in Graugrün. Das brachte eine einheitliche Linie in die Einrichung und sorgte dafür, dass der Materialmix nicht zu unruhig wirkte. Die Teestube bot Sitzplätze für vierzig Gäste.

Elfies Männer arbeiteten sorgfältig und zum Freundschaftspreis nach Feierabend. In dieser Zeit durfte ich wieder erfahren, dass sich selbst der schlichteste ostfriesische Handwerker gern in trockenem Humor und der Kunst der Untertreibung übt, zwei heimattypischen Disziplinen, die vom Rest der Welt oft nicht als solche erkannt werden.

Ständig tauchten nun neue alte Bekannte auf. Eine frühere Mitschülerin, die Lehrerin geworden war, hatte es ebenfalls nach Leer verschlagen. Ina unterrichtete Deutsch und Französisch. Sie war ein unkomplizierter Typ, blond mit rosa eingefärbter Strähne und einer Vorliebe für Ringelshirts. Wir verstanden uns auf Anhieb, als hätte es nicht ein Vierteljahrhundert Sendepause gegeben. Eine andere Jugendfreundin, Stefanie, hatte in unserem gemeinsamen Heimatort die Tierarztpraxis ihres Vaters übernommen. Wir trafen uns und hatten uns immer noch viel zu erzählen.

Es war einfach unglaublich, wer mir alles begegnete! Ein Discoflirt aus meiner Sturm- und Drangzeit, die beste Freundin meiner Schwester, ein Schulfreund meines Vaters, eine frühere Verkäuferin aus unserem Textilgeschäft, der Orgelkonzerte gebende Sohn jenes Pastors, der mich konfirmiert hatte, die Frau des Denkmalpflegers, die von den Delfter Kacheln wusste, die Sekretärin des vom Cheese Cake schwärmenden Bankfilialleiters …

Es war wie ein Schneeballsystem: Kennst du einen, kennst du plötzlich ganz viele. Oder sollte ich besser sagen, kennen dich plötzlich viele? Denn oft wurde ich auch angesprochen von Leuten, die alles über mich zu wissen schienen, während ich nicht mal ihren Namen kannte. Aber das gefiel mir. Ich empfand die Nähe nicht mehr wie als Teenager bedrückend, die Informiertheit der Nachbarn als einengend. Wenn jemandem irgendwas nicht passte, sollte er gefälligst woandershin gucken!

Schnell entwickelte ich einen neuen Rhythmus. Die Leda, die mitten durch die Stadt floss, wurde mein Ersatz für die Alster. Hier joggte ich morgens, am liebsten ganz früh, immer parallel zum Wasser. Manchmal walkte ich auch nur. Dann konnte ich die Schiffe besser betrachten, die im lang gestreckten Freizeithafen lagen. Schicke Yachten, Segelschiffe, alte Hausboote. Besonders eines mit Gardinen, das Hendrike hieß, sah gemütlich aus, auf dem Deck standen Kübel mit Lavendelbüschen und ein bequemer Sonnenstuhl.

Selbst für gelernte Hamburger gab es in Leer maritime Schätze zu entdecken. Immerhin galt die kleine Ostfriesenstadt als zweitgrößter Reedereistandort Deutschlands. Und an der Hochschule im Ort studierten angehende Kapitäne.

Alles entwickelte sich prima. Ich entdeckte wunderbares altes Geschirr mit Goldrand oder Blümchen auf Flohmärkten und bei Haushaltsauflösungen, stellte alles kunterbunt durcheinander und freute mich, dass der Mix doch irgendwie zusammenpasste, dank guter Qualität und Größe – Vintage-Look eben. Ich fand vier junge Frauen, die stundenweise als Küchenhilfe oder Serviererin arbeiten wollten. Außerdem hatte ich Elfie überzeugen können, regelmäßig an drei halben Tagen pro Woche als meine Stellvertreterin in die Teestube zu kommen und mich bei der Buchhaltung zu unterstützen. Nur der neue gusseiserne Herd aus Frankreich ließ auf sich warten. Die Lieferung verzögerte sich, immer wieder wurde ich hingehalten.

Als meine Freundin aus Altona anrief, um zu fragen, wie es mir ging, wusste ich keine Antwort.

»Es ist spannend«, sagte ich, »wie ein neuer Auftrag: Fotografieren Sie mal Grizzlybären bei Sonnenaufgang im Yellowstone Park.« Das hatte ich vor Jahren gemacht, fünf Wochen lang hatte ich Morgen für Morgen im Frühnebel auf der Lauer gelegen, bis die Geschichte im Kasten war. »Aber ich kann mir noch nicht vorstellen, dass das hier jetzt für immer sein soll …« Manchmal beschlich mich ein unbestimmtes Gefühl, als lauerte unter der Idylle noch etwas Bedrückendes.

»Und die Trennung von Robert?«, fragte sie, »wie wirst du damit fertig?«

Nachts fehlte er mir manchmal. Dann fühlte ich mich klein, traurig und allein. Aber ich bereute die Trennung nicht. Männer spielten für mich aktuell überhaupt keine Rolle. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich mich jemals wieder verlieben würde.

»Ach, du«, erwiderte ich, »ich hab so viel um die Ohren, da komme ich überhaupt nicht dazu, über Privates nachzudenken. Aber jetzt erzähl mal, wie’s dir geht. Du kommst doch zur Einweihung, oder?«

»Tut mir leid, hab dann gerade einen Auftrag und kann nicht weg. Ich komme lieber, wenn wir beide ein bisschen Zeit füreinander haben, okay?«

Zwei Wochen vor der Eröffnung wurde ich unruhig, weil der Herd noch immer nicht da war, eine Woche vorher war ich schon mittelpanisch. Fünf Tage vorher wurde das kostbare Monstrum endlich geliefert, montiert und angeschlossen. Ich erwartete eine Einweisung in die Benutzung, bekam aber nur eine französische Gebrauchsanweisung in die Hand gedrückt. Merde! Mein Französisch war nie besonders gut gewesen. Also mit Intuition.

Ich schob einen Cheese Cake in den neuen Backofen – das Ergebnis war außen braun, innen Brei. Zwei weitere Versuche, mit jeweils anderen Temperatur- und Sondereinstellungen missglückten ebenso grandios. Auch mein Pullover war ruiniert, völlig verkleckert und bemehlt. Die Fehlversuche brachten mich jedoch von der Idee her der Lösung näher. Glaubte ich jedenfalls.

Am späten Nachmittag meinens Versuchstages zog ich den vierten Cheese Cake aus dem Backofen – und schrie auf vor Enttäuschung. Viermal merde! Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Erst mal den Adrenalinschub abreagieren, bevor irgendwas zu Bruch ging. Ich beschloss zu joggen, zog mir nicht mal extra Sportklamotten an, sondern nur die Laufschuhe, und rannte los durch die Altstadt, was hier nicht ganz so üblich zu sein schien wie in Hamburg.

Es roch nach Regen auf warmem Asphalt, der Himmel war bedeckt und gräulich. Die Schleusenwärterin vor der Rathausbrücke, wo ich nach links an die Leda abbog, schlug in aller Gemütsruhe mit einer Fliegenpatsche gegen das Fenster ihres Kabuffs. Sonst grüßten wir uns immer, jetzt flitzte ich um die Ecke, bevor sie mich wahrnehmen konnte, und rannte am Flussufer entlang.

Mann, war ich geladen! Ich hatte keinen Blick für die Linden- und Pflaumenbäume, Haselnuss- oder Holundersträucher auf der linken Seite, sah weder Efeu noch Katzenminze, ich hörte nicht das Vogelzwitschern, das mich sonst immer erfreute, sondern lief einfach vorbei an sinnlos auf dem Weg herumstehenden Passanten, scheuchte Tauben und Flugenten auf – und rammte einen Mann. Es tat richtig weh. Er kam ins Stolpern, ich konnte mich während der unfreiwilligen Vollbremsung gerade noch vor einem Sturz retten, indem ich mich an ihm abstützte und ihn damit endgültig zu Fall brachte.

»Aua!«, brüllte er und fasste an seinen Knöchel, dann sah er wütend hoch. Er durchbohrte mich mit seinem Blick. »Können Sie nicht aufpassen, verdammt!«

In Momenten wie diesen bewegt sich das Außen in Zeitlupe. Es ist erstaunlich, wie viel man dabei registriert! Ich sah einen Mann, sehr gut aussehend, eine Mischung aus Professor, Abenteurer und Skipper, graues Haar mit Dreitagebart, vielleicht Anfang fünfzig. Und sehr verärgert.

»Oh, das tut mir wahnsinnig leid!«, rief ich bestürzt. »Das wollt ich nicht! Entschuldigung! Es ist mir wirklich sehr unangenehm…«

Er versuchte aufzustehen, offenbar schmerzte sein Knöchel stark. Ich reichte ihm meine Hand und half ihm. Meine Schulter tat auch ziemlich weh, doch er hatte wohl den größeren Schaden aus unserer Karambolage davongetragen. Ich stützte ihn, er musste widerstrebend einen Arm um meine Schulter legen, und so hinkte er zur nächsten Parkbank. Ich kniete mich vor ihn. Vorsichtig versuchte ich durch Betasten herauszufinden, ob er sich etwas gebrochen hatte.

»Au! Es reicht!« Er schob meine Hand weg.

»Ich wollte nur …«

Er presste die Lippen aufeinander, was mein schlechtes Gewissen noch schlimmer machte.

»Ich rufe schnell einen Notarzt«, sagte ich besorgt. Aber ich hatte mein Handy nicht eingesteckt. »Äh … hätten Sie vielleicht ein Mobiltelefon dabei?«

Der Mann musterte mich, als wäre ich eine gefährliche Irre. »Nein, hab ich nicht«, sagte er unfreundlich und befühlte selbst den Knöchel.

»Ich kann ja schnell zurücklaufen, um zu telefonieren«, schlug ich vor.

Er atmete heftig aus. »Nein, danke!« Abschätzend musterte er mich. »Wahrscheinlich nur verstaucht«, sagte er knapp. »Aber Sie können mir aufs Boot helfen.« Er zeigte auf das Hausboot, das ich so gemütlich fand. Es waren vielleicht hundert Meter bis dahin.

Froh, dass ich etwas tun konnte, verbiss ich mir den Schmerz in der Schulter und stützte ihn. Er hinkte mühsam bis an Deck und ließ sich ächzend in den Liegestuhl fallen.

»Da in der Kombüse ist ein Kühlschrank mit Eiswürfeln«, sagte er unfreundlich, »Plastiktüten hängen hinter der Tür.«

Ich verstand und machte ihm eine Kühlpackung. Verlegen überreichte ich sie ihm. Mein verdreckter Aufzug wurde mir bewusst. Wie peinlich! Er hatte inzwischen Schuh und Strumpf ausgezogen, der Knöchel war bereits deutlich angeschwollen.

»Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte ich. »Sind Sie sicher, dass ich nicht doch einen Arzt holen soll? Brauchen Sie vielleicht ein Schmerzmittel?« Unwillkürlich ging ich, um ihm bloß nicht wieder auf irgendeine Weise zu nahe zu treten, ein paar Schritte zurück … und warf den Lavendelkübel um, der ins Rollen geriet und über Bord ging. »O Gott, sorry, das tut mir ja soo leid!«

Ich überlegte, wie ich den Kübel retten könnte, suchte mit den Augen nach einer Stange mit Haken. So was gab es doch meistens auf Schiffen. Doch der Mann wurde jetzt richtig ungehalten.

»Tun Sie bitte, bitte nichts mehr für mich!«, rief er entsetzt. »Gehen Sie einfach, gehen Sie!«

Ich murmelte noch halbherzig Entschuldigungen vor mich hin, aber es hatte keinen Zweck. Also ging ich von Bord.

»Tschüss, und gute Besserung!«

Er erwiderte meinen Abschiedsgruß nicht.

Was für ein Tag! Zu joggen traute ich mich nicht mehr, den Rest meiner Trainingsstrecke brachte ich in zügigem Walkschritt hinter mich. Fünfmal merde, mindestens! Und jetzt? Plötzlich fiel mir Ina ein, die Lehrerin für Deutsch und Französisch.

Kaum zu Hause, rief ich meine Schulfreundin an. Ina, die gerade eine Klassenarbeit fertig korrigiert hatte, kam umgehend, um mir aus der Herdbroschüre zu übersetzen. Jetzt begriff ich endlich, was ich verkehrt eingestellt hatte.

»Willst du es gleich ausprobieren?«, fragte Ina.

»Nee, morgen ist auch noch ein Tag! Für heute reicht’s mir. Darf ich dich zu einem Glas Wein einladen?«

Es wurde dann noch ein sehr lustiger Abend. Und am nächsten Vormittag gelang mein Cheese Cake! Ich war sehr erleichtert und musste an mein Unfallopfer denken. Vielleicht sollte ich noch einmal nach dem Mann schauen? Vielleicht nahm er ja heute meine Entschuldigung an. Ich packte ein großes Stück Cheese Cake für ihn ein.

Diesmal sah ich auch nicht so verschwitzt aus, sondern hoffte, geschminkt und mit Sommerrock und Pünktchenbluse einen gepflegteren Eindruck zu machen. Außerdem kaufte ich einen schönen Ersatz für den Lavendelkübel. Als ich auf das Hausboot zukam, sah ich den Mann schon von Weitem an Deck im Sonnenstuhl sitzen, sein Fuß war bandagiert.

»Moin!«, rief ich möglichst fröhlich. »Wie geht’s Ihnen heute?«

Er schien mich erst jetzt zu erkennen. »Sie?« Der Unterton war nicht gerade schmeichelhaft.

»Darf ich an Bord kommen?«, fragte ich höflich. »Ich hab Ihnen ein Stück Kuchen mitgebracht. Und einen neuen Blumenkübel.«

Er fuhr aus seiner entspannten Haltung hoch, schob sich die Mütze aus der Stirn und raunzte mich an. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«

»Aber ich möchte doch nur …«

»Sie haben schon genug für mich getan.« Seine an sich sympathische tiefe Stimme triefte nun vor Spott. »Mehr als genug! Vielen Dank, tschüss und guten Tag.«

Das fand ich übertrieben. Gekränkt stellte ich den Kübel am Ufer ab, das eingepackte Kuchenstück legte ich daneben. Blöd, dass ich es auf einem hübschen Porzellanteller angerichtet hatte.

»Na ja«, sagte ich achselzuckend und ein wenig schnippisch, »dann eben nicht.«

Ich hatte alle Hände voll zu tun so kurz vor der Eröffnung. Und deshalb dachte ich bald nicht mehr an den kleinen Zwischenfall. Einer meiner Onkel mauerte mir an diesem Tag in der Küche noch die Abtrennung für meinen Arbeitsplatz – so, dass ich dabei akustisch mit dem Rest verbunden blieb und durchs Fenster in den Garten sehen konnte. Der Rentner, den mir die Maklerin empfohlen hatte, widmete sich gerade der botanischen Restaurierung. Er schien allerdings mehr Kulturpflanzen herauszureißen, als Unkraut zu jäten. Ich lief hinaus und beschwor ihn, die alte Rose nicht zu beschädigen. Er sagte, sein Schwiegersohn sei Rosenexperte, den brächte er nächstes Mal mit. Der würde die Rose schon wieder aufpäppeln.

Ja, dachte ich, das ist doch ein gravierender Unterschied zum Großstadtleben. In Hamburg ging man in einen Laden oder rief einen Experten an und orderte, was man wollte, ganz sachlich bis knallhart. Hier aber kannte immer einer jemanden, es gab ein endloses Geflecht von Beziehungen. Oder man selbst war in der Pflicht, sich bei einem guten Kunden mit einem Gegenauftrag zu revanchieren. Man suchte nicht einfach irgendwen aus dem Telefonbuch heraus. Und dann musste man auch noch vorher, während und nach der Arbeit nett klönen und Tee anbieten. Ich will nicht behaupten, dass das eine oder andere besser wäre, es ist eben nur anders. Und ich musste mich erst einmal wieder umgewöhnen.

Am frühen Nachmittag machte ich mich mit Elfies Hilfe mit den Feinheiten einer modernen Ladenkasse und der Buchhaltung vertraut. Danach belohnten wir uns mit einem Stück Cheese Cake. Ich brachte auch meinen netten Nachbarn in die Läden rechts und links je ein Stück. Es waren für mich große Momente, die Veränderungen in ihren Gesichtern oder in ihrer Haltung zu beobachten. Eine kleine Glückswoge flutete mein Inneres, jetzt verstand ich Tante Marie! Dass man diese Macht hatte, mit einer Kleinigkeit nicht nur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern Menschen sofort und sichtbar etwas Gutes zu tun, das konnte ganz bestimmt süchtig machen.

»Moin, Rona!« Aalke kam durch die Hintertür von der Gartenseite ins Haus. »Ach, du machst ja auch Reiki!«, sagte sie ein wenig erstaunt. Sie hatte mich ganz offensichtlich von draußen an meinem Arbeitsplatz gesehen. Ich spürte einen Hitzeflash. »Äh … ja …«, stammelte ich, »ich hab dir doch gesagt, dass ich vor zehn Jahren meine esoterische Phase hatte. Damals bin ich in den ersten Reiki-Grad eingeweiht worden.«

Die Lebensenergie durch die Hände zu kanalisieren, war kein Hokuspokus, jede Mutter machte es, wenn sie ihrem Kind, das Bauchweh hatte, die Hände auf die schmerzende Stelle legte. Zum Glück gab Aalke sich mit meiner Erklärung zufrieden. Sie lobte noch einmal meinen Cheese Cake.

»Ich wollte dir vorschlagen, Oma Henny einen kleinen Besuch abzustatten.«

»Wie, jetzt gleich? Muss man sich nicht vorher anmelden?«

»Ach was«, beruhigte mich Aalke, »wir gucken schnell vorbei, und wenn’s nicht passt, gehen wir eben wieder.«

»Na gut. Warte, dann bringen wir ihr auch ein Stück Kuchen mit.«

Oma Henny hieß Henriette Krumminga. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten, das merkte man ihren Bewegungen und ihrem Sprachfluss an. Aber im Kopf war sie noch klar. Sie saß in einem breiten Polstersessel in ihrem Zimmer im Altersheim, wir tranken Tee. Nach dem ersten Bissen vom Cheese Cake sagte sie spontan: »Wie von Frieda Levy! Fast noch besser!« Sie hatte sie also gekannt. Sie ließ sich Zeit mit dem Kuchen, was mich auf eine harte Geduldsprobe stellte. »Jesses, diesen Geschmack hatte ich zuletzt vor fünfundsechzig Jahren auf der Zunge!« Unruhig rutschte ich neben Aalke auf dem kleinen Ledersofa hin und her.

Endlich war sie fertig. Mit wachen, neugierigen Augen fragte sie mich, woher ich denn dieses Rezept hätte.

»Können Sie sich noch an Frieda Levy erinnern?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage. »Sie war meine Urgroßtante. Ich wüsste gern, was aus ihr geworden ist.«

Frau Krumminga war bewegt. Sie erzählte einiges, das ich schon wusste. »Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht …«, sagte sie dann. »Alle Juden mussten ja bald nach Kriegsanfang raus aus Ostfriesland. Wir waren schon im Frühjahr 1940 judenfrei.«

Aalke und ich zuckten bei diesem Wort zusammen.

»Ja, so sagte man damals.« Henriette Krumminga sah uns nachdenklich an. »Das hat man alles so nachgeplappert als Kind. Und die Erwachsenen hatten Angst. Wenn sie nicht dafür waren. Ich erinnere mich noch gut an die Reichspogromnacht in Leer. Meine Eltern waren entsetzt.«

Ich bat sie, uns mehr zu erzählen. Auch Aalke lauschte gespannt.

»Ich war damals acht Jahre alt. Ich weiß noch, wie Männer in Uniform die Juden aus ihren Häusern holten. Mitten in der Nacht, so gegen drei Uhr morgens, wurden wir wach davon. SA-Männer schlugen mit der Axt die Haustür unserer Nachbarn ein. Überall klirrten Glasscheiben, und Sachen gingen zu Bruch. Brandgeruch lag in der Luft. Es war ein Jammern und Befehleschreien … Gespenstisch! Meine Mutter sagte, wir sollten alle im Haus bleiben.« Der Schrecken von damals spiegelte sich in ihrem alten Gesicht wider. »Da klopfte Tante Levy an unser Fenster. Sie stand in der Gruppe von Juden, die später aus der Altstadt zur Nesse-Halbinsel getrieben wurde. Es war kalt und windig. Meine Mutter öffnete das Fenster. ›Ich frier so‹, sagte Tante Levy, und meine Mutter reichte ihr schnell ihre Strickjacke durchs Fenster.«

Tränen schimmerten in Frau Krummingas Augen. Sie nahm einen Schluck Tee. »Am nächsten Tag kamen die Frauen und Kinder zurück, auch Tante Levy. Sie brachte meiner Mutter in der Dunkelheit ihre Strickjacke zurück.«

»Warum in der Dunkelheit?«, fragte Aalke.

»Sie wollte uns wohl nicht in Schwierigkeiten bringen. Leute, die noch bei Juden einkauften oder nett zu ihnen waren, wurde ja als Judenknechte bespuckt und gemeldet.«

Ich atmete schwer. Frau Krumminga hangelte sich aus ihrem Sessel hoch. »Kann ich helfen?«, fragte ich. »Soll ich etwas holen?«

Sie schüttelte den Kopf und arbeitete sich mit einer Gehhilfe zu ihrer Schrankwand vor. Sie öffnete eine Schublade, wühlte darin herum und redete dabei auf Plattdeutsch mit sich selbst.

»Wor sünd denn bloot de Leepels?«

Leepel war das plattdeutsche Wort für Löffel. Ich rätselte, was das jetzt mit der Geschichte zu tun haben könnte. Endlich wurde Frau Krumminga fündig, sie nahm zwei kleine Kästchen aus der Schublade. Das eine war ein Besteckkarton. Sie reichte ihn mir. Ich hob den Deckel. Darunter lagen auf schwarzen Samt gebettet fünf versilberte Teelöffel im Friesendekor. Vorsichtig nahm ich einen heraus. Auf der Rückseite waren die Initialen FL eingraviert. Fragend schaute ich Frau Krumminga an.

»Die hat Tante Levy damals meiner Mutter zum Dank geschenkt«, sagte sie. »Dafür, dass sie es gewagt hatte, freundlich zu ihr zu sein.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange und kehrte zu ihrem Sessel zurück. Schwer ließ sie sich hineinfallen. Geradezu zärtlich öffnete sie den zweiten, kleineren Karton. »Aus dem sechsten Löffel hat mir meine Mutter damals einen Armreif anfertigen lassen.«

Jetzt standen auch mir Tränen in den Augen.

»Hier!« Frau Krumminga reichte mir das Schmuckstück, das nur um einen Kinderarm passte. »Friedas Leepel. Den schenk ich Ihnen.«

Nach diesem Besuch wusste ich, wie ich meine Teestube nennen wollte: FRIEDAS LEEPEL. Alle Geschäfte in der Altstadt hatten traditionell über oder neben der Tür ein Aushängeschild. Ich fragte Enno Meyer, ob er einen Entwurf anfertigen könne, in dem der Originallöffel von Tante Frieda sichtbar und sicher zur Geltung käme. Das war nicht ganz sein Metier, aber natürlich kannte er einen … Innerhalb von drei Tagen entstand nach einem genialen Entwurf von Enno Meyer ein schönes, würdiges Schild für die Teestube.

Es war mir ein Bedürfnis, noch vor der Eröffnung einen Brief an Tante Marie nach Long Island zu schicken. Darin fasste ich zusammen, was ich inzwischen in Erfahrung gebracht hatte.

Liebe Tante Marie, was ich über das weitere Schicksal von Frieda Levy und ihrer Familie herausgefunden habe, ist nicht sehr viel, obgleich es in Leer eine umfangreiche Dokumentation jüdischer Schicksale gibt. Aber schon das Wenige ist so bedrückend, dass ich nicht weiß, wie ich meine Betroffenheit und Scham darüber in angemessene Worte fassen kann. Deshalb werde ich alles so nüchtern und sachlich wie möglich formulieren.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der Reichspogromnacht, brannte auch die Synagoge in Leer. Jüdische Geschäfte wurden zerstört und jüdische Familien aus ihren Häusern geholt, auf den Viehhof getrieben und ins Schlachthaus gesperrt. Sie wurden gedemütigt und drangsaliert. Am nächsten Tag durften die Frauen, Kinder und Gebrechlichen wieder nach Hause gehen. Die arbeitsfähigen Männer kamen ins KZ Sachsenhausen, wurden damals noch nach einigen Wochen wieder entlassen.

Ende 1938 wurden alle Häuser von Juden »zwangsarisiert«. Auch das Haus der Levys konnte ein hiesiger Geschäftsmann zu einem Einheitspreis kaufen. Das Geld erhielt der Fiskus, nicht die Familie Levy. Die Juden mussten fortan in sogenannten Judenhäusern wohnen. Viele wanderten damals noch aus, beliebt waren die benachbarten Niederlande. Dahin zogen auch die Söhne von Tante Frieda. Anfang 1940 beschloss die Gestapo-Leitstelle in Wilhelmshaven, dass Ostfriesland als Grenzgebiet zum Feindesland von potenziellen Spionen zu säubern sei. Da man Juden grundsätzlich alles Schlechte zutraute, bedeutete das, dass alle Juden sich einen neuen Wohnsitz außerhalb Ostfrieslands, aber innerhalb Deutschlands, suchen mussten. Bestimmte Regionen wie Hamburg und die linksrheinischen Gebiete waren für sie aber verboten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lebten seit April 1940 keine Juden mehr in Ostfriesland. Angehörige mosaischen Glaubens, wie es damals hieß, die vor dem Krieg in die Niederlande umgezogen waren, wurden nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 systematisch erfasst, in Güterzügen in Konzentrationslager in den Osten gebracht und ermordet. Jacob Levy wurde im März 1940 nach Berlin verwiesen, Frieda begleitete ihren Mann. Ich weiß nicht, wie es dann für sie weiterging. Vielleicht sind sie bei Bombenangriffen auf Berlin ums Leben gekommen. Vielleicht starben sie in einem Konzentrationlager. Da Frieda und ihr Mann in einer Mischehe lebten, besteht eine kleine, eine geringe Chance, dass sie die NS-Zeit überstanden haben. Sie und ihre Söhne waren aber nach dem Krieg nicht wieder in Leer gemeldet.

Zur Erinnerung an Tante Frieda möchte ich meine Teestube nach ihr benennen.

Ich schrieb weiter von der Begegnung mit »Oma Henny« und dem silbernen Löffel von Tante Frieda, den die alte Dame mir vermacht hatte, und versprach, sie weiter auf dem Laufenden zu halten.

Die Eröffnung war aufregend. In der Teestube drängten sich die Menschen. Natürlich ging es nicht ganz ohne Pannen ab, aber alles in allem war dieser Start ein Erfolg. Die Lokalzeitung brachte einen großen Bericht, in dem auch die Geschichte von »Friedas Leepel« geschildert wurde. Einige Leute sagten mir direkt oder indirekt, dass sie es unpassend fänden, »die alten Geschichten wieder aufzuwärmen«. Einmal müsse doch Schluss sein. Andere lobten es ausdrücklich.

Das gehört übrigens zu den schönsten Dingen beim Älterwerden, dass Kritik einen nicht mehr gleich aus der Bahn wirft. Sollen sie doch reden!, dachte ich.

Wenige Tage nach der Eröffnung sprach ganz Leer über meinen Cheese Cake. Ich kam mit der Herstellung kaum nach – und war darüber unglaublich froh. Schließlich steckten all meine finanziellen Reserven in diesem Projekt, und außerdem noch das Geld der Bank … Zwar arbeitete ich wieder rund um die Uhr, aber es machte mir Spaß!

An einem milden Septembertag kurz vor Feierabend betrat der Hausbootmann die Teestube. In der Hand hielt er meinen Kuchenteller.

»Guten Abend!« Er lächelte freundlich, meine Güte! Nun sah er gleich noch dreimal besser aus als ohnehin schon. »Ich wollte Ihnen den hier zurückbringen. Hat übrigens hevorragend geschmeckt.«

Reflexartig fuhr ich mir durchs Haar und lächelte zurück. In diesem Augenblick floss so viel Sympathie zwischen uns hin und her!

»D… das freut mich«, stammelte ich perplex.

Woher kam sein plötzlicher Stimmungswandel? Ging der etwa auch auf das Konto des Cheese Cake? Halleluja! Danke Tante Marie, danke Tante Frieda! Allmählich fing ich an zu begreifen, in welchem Ausmaß dieses Rezept mein Leben veränderte.

»Bitte entschuldigen Sie mein ruppiges Verhalten von neulich«, sagte er. »Kurz vor unserem Zusammenstoß hatte ich erfahren, dass mein Hausboot wegen Rostbefalls generalüberholt werden muss. Ich bin sonst nicht so.«

Er hatte kluge grünbraune Augen. Die kräftigen buschigen Brauen waren noch dunkel, der kurz geschorene Vollbart und die Haare schon überwiegend silbergrau. Er hatte einen kleinen Bauch, der aber nicht störte.

»Es war ja meine Schuld«, sagte ich. »Muss ziemlich wehgetan haben. Ist alles wieder in Ordnung?« Ich band meine Schürze ab.

»Ja, hat ’ne ganze Woche gedauert, aber jetzt spring ich wieder wie ein junger Hirsch herum.« Er lächelte verschmitzt. »Haben Sie Lust, in der Waage draußen am Hafen ein Glas Wein mit mir zu trinken?«

Er schien ein interessanter Gesprächspartner zu sein, und ich war aus dem Alter heraus, in dem man sich ziert. »Ja, warum nicht?«, erwiderte ich deshalb. »Gern.«

Wir fanden ein geschütztes Plätzchen und unterhielten uns wirklich außerordentlich gut. Wir lagen auf einer Wellenlänge. Ich mochte sein tiefes Lachen, es kam aus dem Bauch heraus und klang durch und durch gutmütig. Schnell duzten wir uns, das ergab sich ganz selbstverständlich. Er hieß Jan. Ich erkannte in ihm noch etwas Revoluzzerhaftes, etwas, das mir aus meiner Schulzeit vertraut war, und zugleich strahlte er etwas über die Jahre Gereiftes und Weitgereistes aus.

Wir hatten in unserer Jugend die gleichen Discotheken besucht, Brüggemann in Augustfehn und Meta in Norddeich, waren uns aber nie begegnet.

»Wahrscheinlich, weil du einige Jahre jünger bist als ich«, meinte Jan.

»Oder weil du dich damals für so junge Mädchen nicht interessiert hast«, erwiderte ich.

»Das tu ich auch heute noch nicht«, antwortete er mit einem charmanten Lächeln. »Ich möchte mich mit einer Frau unterhalten können, ohne ihr erklären zu müssen, wer die Beatles waren.«

»Ja, je älter ich werde«, frotzelte ich, »desto wichtiger wird mir auch die geistige Ebene.«

»Auf jeden Fall«, brummte Jan. »Es geht doch nichts über die inneren Werte. Und eine gute Figur.«

Wir lachten. Beim nächsten Schoppen Wein kamen wir im Gespräch auf einige ferne Orte, an denen wir beide gewesen waren. Zum Beispiel im australischen Tasmanien, in Honolulu und im nordnorwegischen Kirkenes. Das schuf eine Stimmung, wie sie auch schnell unter Rucksackreisenden entsteht. Ach, kennst du den? Warst du auch dort? Und da musst du unbedingt mal hin!

»Früher wollte ich immer nur neue Länder kennenlernen«, sagte Jan und strich sich über den Bart, »aber seit meiner Scheidung beschäftigt mich das Thema Heimat wieder.«

»Ach, das ist ja interessant!« Wollte er sich bei mir einschmeicheln, weil er wusste, dass ich erst vor Kurzem aus Hamburg hierhergezogen war? »Mir geht’s genau so. Vielleicht liegt das ja auch einfach am Alter …«, sagte ich dennoch.

»Kann schon sein.«

Ich erzählte ihm von meinen Nachforschungen zur Geschichte von »Friedas Leepel«. »Es ist doch merkwürdig«, schloss ich, »dass ein einzelnes Schicksal und selbst davon nur ein Ausschnitt, ein kleines Detail wie ein Löffel, einen mehr bewegt als das allgemeine theoretische Wissen.«

»So ist der Mensch nun mal gestrickt«, sagte Jan nachdenklich. »In Hamburg hättest du sicher sehr viel mehr solcher Schicksale von Juden im Dritten Reich ausgraben können, aber wenn man eine persönliche Verbindung hat, so wie du zu dieser Frieda Levy, dann bewegt es einen natürlich auf andere Art und Weise.«

»Es gibt Leute, die mir geraten haben, zu dem Thema zu schweigen«, sagte ich.

»Ich finde Heimatliebe ohne das Bewusstsein der NS-Vergangenheit nicht ehrlich«, meinte Jan. »Ich hab zwar damals nicht gelebt, aber trotzdem sind wir doch mit den Schatten dieser Zeit aufgewachsen. Mein Rektor zum Beispiel war ein alter Nazi.«

Wir unterhielten uns über den Widerstreit zwischen Freiheit und Sicherheit, Aufbruch und Ankommen. Jan verstand sofort, was ich meinte, als ich nach dem vierten Schoppen von der Klammer sprach, die ich so oft um mein Herz fühlte.

»Ich stelle sie mir immer so vor wie eines dieser Drahtgestelle, in die man Rouladen klemmt«, sagte ich, »nur in Herzform.«

Jan sah mich nachdenklich an. »Du scheinst dich zu fragen: Kann ich es wagen?«, sagte er. »Dabei hast du es doch längst gewagt.«

Die Zeit flog dahin, und als das Lokal schloss, lud Jan mich auf einen Absacker an Deck seines Hausbootes ein. Es war einer dieser angenehm warmen Abende im Altweibersommer. In der Luft schwebten Düfte reifer Früchte herüber zur Hendrike – vor allem von Pflaumen. Ich durfte im bequemen Liegesessel Platz nehmen, Jan holte Wein und Gläser. Durch die geöffnete Tür konnte ich erkennen, dass im Wohnraum eine Gitarre lehnte.

»Spielst du?« Dumme Frage.

»Ein bisschen.«

»Was denn so?«

»Was möchtest du hören?«

»Egal, wozu du Lust hast …«

Er schenkte uns ein, stellte ein Windlicht auf das Tischchen und setzte sich auf einem einfachen Stuhl zu mir.

»Magst du klassische Gitarre?«, fragte er.

Ich nickte. Er begann ein langsames Stück zu spielen, das ganz leicht und zärtlich klang.

»Schööön«, sagte ich, während ich Schluck für Schluck den Wein genoss. »Wie heißt es?«

»A day in May … Und dies hier ist Adelita.«

Es war anfangs etwas wehmütig, dann perlten die Töne dahin wie der Nachhall eines unbeschwerten Sommertages.

Ich seufzte. »Hast du auch so was richtig Kitschiges drauf?«

»Klar!« Er grinste. »Erinnerungen an die Alhambra!«, kündigte Jan im Stil eines schmalzigen Ansagers an.

Er beugte sich über seine Gitarre und begann eine herzzerreißende Melodie, die er mit viel Tremolo spielte. Ich lehnte mich zurück und schaute in den Himmel. Wenn man nicht hinsah, glaubte man, zwei Gitarren spielen zu hören.

»Noch eins!«, bat ich.

»Spanische Romanze!«, anonncierte Jan ironisch.

Bislang hatte ich seine Kunstfertigkeit bewundert. Bei diesem Lied jedoch berührten die Saiten etwas in meinem Innern. Die Töne tropften wie ein nach langer Dürre einsetzender Sommerregen an eine Fensterscheibe – hell, voll, harmonisch. Jan sah mich an, während er spielte. In seinen Augen tanzten kleine Lichter. Sein Gesicht spiegelte die Gefühle, die in der Musik verewigt waren … Sehnsucht nach Liebe und Verständnis, nach Übereinstimmung mit einer verwandten Seele und dem völlig verrückten, eigentlich schon vor Jahren tief weggeschlossenen Wunsch, zu zweit in den Himmel, in eine andere Dimension abzuheben. Jan spielte langsam, immer bis kurz vor den Punkt, wo Gelassenheit in Getriebensein umschlagen würde. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn seine Finger mich berühren würden, wenn sie meine Haut so streicheln würden wie jetzt die Saiten der Gitarre … Bald konnte ich kaum mehr atmen. Ich war wie eine reife Frucht. Sicher verriet mich mein Blick.

Als Jan endete, schaute ich über den Fluss. Eine Weile sagten wir nichts. Die Situation wurde gefährlich. Ich musste sie entschärfen.

»Was machst du eigentlich beruflich?«, fragte ich mit belegter Stimme.

Jan antwortete nicht gleich und dann auch nur ausweichend. »Och … Ab und zu steuere ich die Fähre eines Freundes über die Ems von Petkum nach Ditzum.«

O Gott, dachte ich sofort, schon wieder so ein Lebenskünstler! Ein Gelegenheitsjobber. Nein, bitte nicht! Wie gut, dass ich gefragt hatte, sonst hätte ich mich noch in ihn verliebt. Doch jetzt war ich gewarnt.

»Möchtest du noch Wein?«, fragte Jan.

»Danke, das reicht mir für heute.« Ich ging auf Abstand, trotz der Sympathie.

Wir unterhielten uns zum Schluss nur noch über Belangloses. Er erzählte, dass die Fähre zwanzig Minuten für eine Strecke benötige und viele Fahrradurlauber mitnehme, die von der Deutschen Fehnroute auf der östlichen Emsseite übersetzten zur Dollard-Route.

Seine Augen fragten: Hab ich etwas falsch gemacht? Vorhin haben wir uns doch noch ganz anders verstanden. Was ist los mit dir?

Ich zog innerlich ein Rollo herunter und tat, als würde ich die Fragen nicht erkennen. Noch war es früh genug dafür. Ich wollte keinen Lebenskünstler mehr. Wenigstens sollte man aus seinen Fehlern lernen. Wenn Tante Marie damals ein bisschen mehr Menschenkenntnis gehabt hätte, hätte sie sich auch so manchen Kummer ersparen können …