Ostfriesland

September 2004

Endlich war es so weit. Mit dem hellen Klingeln der Eingangstür traten Elke und Frau Hinrichs in die Teestube ein, beide bester Laune.

»Moin!«

Elfie nahm sie in Empfang, umarmte ihre Freundin und gab ihr Küsschen auf die Wangen. Das war früher in Ostfriesland auch nicht üblich, ging es mir durch den Kopf, die Dinge ändern sich auch hier.

»Moin! Wie geht’s, wie steht’s?«

Elfie bugsierte die zwei an den besten Tisch. »Habt ihr denn nun alles für den Stadtausflug der Landfrauen geklärt?«

Die Frauen nahmen Platz. »Wie immer?«, fragte Elfie. Beide nickten.

Ich hielt mich noch im Hintergrund und wartete, bis sie ihren Cheese Cake gegessen und ihren Tee getrunken hatten. Mittlerweile kannte ich die feinen Anzeichen der Entspannung auf den Gesichtern meiner Gäste. Als sich die Mundwinkel von Anita Hinrichs entkrampften, war es Zeit für meinen Einsatz. Innerlich vibrierend, aber äußerlich vor Freude strahlend schritt ich auf ihren Tisch zu.

»Ach, wie schön, dass Sie mal wieder hier sind!«

Beide lobten überschwänglich den Kuchen, ich fragte, ob ich mich zu ihnen setzen dürfte, nahm Platz, und wir plauderten ein wenig über das Wetter und die Programmpunkte des geplanten Landfrauenausflugs. Elfie stand hinter mir. Sie schien alles andere zu vergessen. Jans Mutter schaute immer wieder auf die Fotos von Joke und Kea. Es waren schmerzlich-sehnsüchtige Blicke.

»Frau Hinrichs«, begann ich nun vorsichtig. »Es gibt etwas, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte. Ich hoffe, es regt Sie nicht zu sehr auf.«

Ihr Mundwinkel fielen sofort wieder hinunter. Sie runzelte die Stirn.

»Es ist etwas Schönes!«, beteuerte ich. »Diese Kinder auf den Fotos, die Sie immer wieder ansehen, sind …Es sind Ihre Urenkel!«

Elfie stieß einen kleinen spitzen Überraschungsschrei aus, ihrer Freundin Elke blieb der Mund offen stehen. Frau Hinrichs sah mich an, als begreife sie nicht richtig, was ich gesagt hatte. Es arbeitete heftig in ihr. Hoffentlich hat sie kein schwaches Herz, dachte ich. Das fehlte noch, dass sie einen Anfall bekam! Ich hätte mich vorher über ihren Gesundheitszustand informieren sollen.

In diesem Moment betrat Jan die Teestube. Er ging direkt zum Büfett, denn normalerweise werkelte ich dort. Da er mich nicht entdecken konnte, ließ er seinen Blick durch den Raum wandern, wo etwa die Hälfte der Plätze besetzt war. Ich sprang auf und ging rasch auf ihn zu. In dieser Sekunde erkannte Jan seine Mutter. Die Blicke der beiden trafen sich.

Jan erstarrte, doch die Emotionen in seinen Augen wechselten rasant von irritiert zu fassungslos und gerührt, aber auch wütend … Gleich wird er losbrüllen, fürchtete ich, er wird mich beschimpfen, weil mich ich hinter seinem Rücken in seine privatesten Angelegenheiten gemischt habe. Mein Magen verkrampfte sich schon, die altbekannte Klammer schloss sich um mein Herz.

Heftig drehte Jan sich weg, als wollte er hinausstürzen. Mit beiden Händen griff ich nach seinem Arm, hoffte ihn zu beruhigen. Er drehte sich wieder zu seiner Mutter um, die nun Tränen in den Augen hatte und ihn so liebevoll ansah, wie nur eine Mutter ihr wiedergefundenes Kind ansehen konnte. Über dreißig Jahre hatte Anita Hinrichs nicht gewusst, wo ihr einziger Sohn war, wie es ihm ging, was er fühlte. Nur, dass er mit den Eltern nichts mehr zu schaffen haben wollte. Wie furchtbar musste das für sie gewesen sein!

»Jan!«, sagte sie leise. Er ging zu ihr, auch seine Augen schimmerten feucht. Frau Hinrichs erhob sich langsam, Tränen liefen ihr über die runzligen Wangen. »Min Jung!«

Er half ihr das letzte Stück hoch, und sie umarmten sich.

»Mama!«, murmelte Jan ergriffen.

Geräuschvoll zog er die Nase hoch. Elfie weinte, Elke schniefte, und auch ich stand gerührt da, griff rasch nach einer Serviette, um meine Tränen zu trocknen.

Einige Gäste tuschelten, andere schauten indiskret zu.

»Wollt ihr nicht in den Garten gehen, um euch ungestört auszusprechen?«, schlug ich vor.

Ich führte Mutter und Sohn zum Pavillion unter Tante Friedas alten Rosenstrauch und brachte ihnen etwas zu trinken samt einem Stapel Servietten.

Anita Hinrichs drückte die Hand ihres Sohnes. »Es gab nicht einen einzigen Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe.«

Jan rang um seine Fassung.

»Dein Vater … Er konnte nichts dafür«, hörte ich Jans Mutter noch sagen, als ich ging. »Es war der Krieg, die Kriegsgefangenschaft, was ihn kaputtgemacht hat. Eigentlich war er ganz anders …«

Eine Stunde später gingen Jan, seine Mutter und ich gemeinsam zum Hafen. Unser Tisch vor dem Restaurant mit Aussicht auf die Museumsschiffe war eingedeckt, Eva und ihr Mann Lars saßen bereits dort. Joke und Kea kamen uns entgegengelaufen. »Opa! Opa!« Sie sprangen Jan an, er hob jedes Kind auf einen Arm und trug sie, bis wir den Tisch erreicht hatten.

»Ich hab euch noch einen Gast mitgebracht.« Jans Gesicht glühte vor freudiger Erregung. »Darf ich vorstellen? Das ist Eva, meine Tochter. Und das, liebe Eva … ist … ist deine Großmutter.«

Eva entfuhr ein Laut, als entwiche Luft aus einem Wasserball. »Meine Großmutter?« Sie verfiel in die Umgangssprache ihrer Kinder. »Hey …Ich hab jetzt eine Oma?«

Lars, als Schiffsmakler auf Krisenmanagement trainiert, organisierte einen Stuhl für den unerwarteten Gast. Anita Hinrichs war sichtlich durcheinander.

»Einen Sohn, eine Enkeltochter und zwei Urenkelkinder an einem Tag«, sie schniefte, »das ist ganz schön viel für eine alte Frau.«

»Und einen Enkelsohn«, ergänzte Eva lächelnd. »Ich hab noch einen Bruder, er lebt in Hamburg.«

Der Kellner kam, wir gaben unsere Bestellungen auf. Während dieser kleinen Unterbrechung konnten sich alle etwas beruhigen. Als die Getränke serviert waren, ergriff Jan das Wort.

»Da wir gerade so schön versammelt sind, möchte ich die Gelegenheit nutzen für eine … ja, wenn man so will, eine Familiennachricht.«

Gespannt richteten alle ihren Blick auf ihn, sogar die Kinder hörten auf, sich zu kabbeln, und saßen aufmerksam am Tisch.

»Ihr seht hier einen zukünftigen Professor für Nautik an der Fachhochschule.«

Eva fand als Erste die Sprache wieder. »Glückwunsch, Paps! Das ist ja wohl der Tag der Überraschungen heute!«

Ich überlegte, was diese Neuigkeit für Jan und mich zu bedeuten hatte. Doch bevor ich zu einem Ergebnis gekommen war, sprach Jan schon weiter.

»Ja, ich möchte wieder sesshaft werden«, sagte er, und seine Stimme klang bewegt. »Rona, ich habe während meiner letzten Fahrt viel nachgedacht. Über Nähe-Distanz-Probleme. Über Träume und das Älterwerden. Und über die Liebe …«

Jan schenkte mir einen Blick, der mir die Hitze ins Gesicht trieb und meinen Puls beschleunigte. Verlegen wedelte ich mir mit der Hand frische Luft zu. Waren das etwa erste Anzeichen von Panik?

»Ich habe heute der Reederei meine Kündigung überbracht. Und ich möchte dich, Rona, fragen, ob du bereit bist, den Rest deines Lebens mit mir zu teilen.«

Ja!, jubelte die eine Seele in meiner Brust. Nein, das wird zu eng, es kann nicht funktionieren!, rief die andere.

»Rona, lass uns gemeinsam ein Haus suchen, ein Haus mit Blick auf grüne Weiden und mit einem großen Garten.«

Ich war verwirrt, glücklich und erschrocken zugleich. Jan kannte mich gut genug, um das zu wissen.

»Befürchtest du etwa, dass ich den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen werde?«, fragte er verschmitzt und nahm meine Hand. »Ha, was glaubst du, wie viel ein Professor zu tun hat!«

Ach, wie er lächelte! Nie zuvor hatte ich einen Mann getroffen, der so sehr mit seinen Augen überreden konnte wie er.

»Falls es dir doch mal zu eng werden sollte, Rona, kannst du fotografieren gehen«, sagte er großzügig. »Das verspreche ich hiermit vor Zeugen. Oder ich vertrete mal wieder für einen Tag den Fährmann auf der Ems.«

Ich musste lächeln. Glaubte er ernsthaft, dass ich noch zögerte, dass ich überzeugt werden musste?

»Sollte das nicht reichen, dann machen wir einen Ausflug auf die Ostfriesischen Inseln oder tuckern mit dem Hausboot nach Holland. Na? Was sagst du?«

Noch immer brachte ich kein Wort hervor. Natürlich wollte ich! Ich brauchte ihn ja nur anzusehen, und alles war klar. Das Restrisiko nahm ich in Kauf. Zweifel haben schon mehr zerstört als Fehler. Ich dachte zurück an die kluge Tante Marie, die ja auch gewusst hatte, dass ihr Rezept mein Leben verändern würde.

Jan legte noch ein Angebot drauf. »Na ja, falls das alles nicht genug ist, unternehmen wir eben eine Fernreise.«

Ich atmete tief durch. »Ja …«, sagte ich, »… ja, so könnte es klappen.«

Er strahlte. »Das Wichtigste hätte ich ja beinahe vergessen!« Jan stand auf. Es war ein sehr feierlicher Moment, und unwillkürlich stand auch ich auf. Er legte seine Arme um mich und sagte leise, nur für mich, aber deutlich vernehmbar: »Ich liebe dich, Rona.«

In diesem Moment sprang die Klammer um mein Herz auf.

»Ich lieb dich auch!«, flüsterte ich.

Jan beugte sich zu mir, wir sahen uns tief in die Augen, und dann küssten wir uns zärtlich. Ich habe keine Ahnung, wie lange der Kuss dauerte. Irgendwann tauchten wir wieder in der Gegenwart auf.

Die Familie klatschte johlend Beifall.

»Wirst du jetzt die neue Frau von Opa?«, fragte Joke.

Nicht nur Jan, auch Eva, Lars, Frau Hinrichs, Joke und Kea hielten den Atem an. Immer noch überwältigt blickte ich in die Runde. Es kam mir vor wie ein Familienheiratsantrag, denn alle nickten.

»Ja«, sagte ich.

Kea rutschte von ihrem Stuhl. Sie kam zu mir, schmiegte sich an mich, schob ihre Hand in meine und fragte schüchtern: »Darf ich dann jetzt Oma zu dir sagen?«

ENDE