Prolog – Long Island

Juni 2002

Marie war schon hoch in den Achtzigern, als sie spürte, wie es bei ihr begann. Sie hatte es häufig bei anderen alten Menschen beobachtet. Wie sie mehr und mehr in ihrer Vergangenheit lebten, sich an längst vergessen geglaubte Kindheitserlebnisse erinnerten – und plötzlich durch Konflikte von einst bedrängt fühlten, als duldeten sie keinen weiteren Tag Aufschub mehr.

Zuerst blitzten ganz unvermittelt Bilder und Szenen aus ihrer Kindheit auf, dann auch Szenen aus ihrer Jugend, meist ausgelöst durch aktuelle Ereignisse. An diesem Junitag war es besonders stark. Ein paar Jungen prügelten sich auf dem Gehweg vor ihrem Fenster – und vor ihrem geistigen Auge sah sie eine Rangelei auf dem Schulhof in ihrem Heimatdorf, die über siebzig Jahre zurücklag.

Holt Fräulein Wiemkes!, rief der Lehrer, statt selbst einzugreifen. Marie war damals nur wenige Jahre älter als die Jungen gewesen und erteilte als Aushilfslehrerin einmal in der Woche in der Dorfschule Handarbeitsunterricht. Sie war bestimmt nicht kräftig, aber sie brauchte sich nur vor das balgende Knäuel zu stellen, einmal »Hey, Jungs, seid doch vernünftig!« zu rufen, dann hielten sie beschämt inne, und es herrschte wieder Frieden. Marie schaute jeden Einzelnen an, nicht vorwurfsvoll, sondern eher ernst, vernünftig. Wie man eben so guckte, wenn man sagen wollte: Das hast du doch überhaupt nicht nötig, lass doch den Unsinn. Diese Wirkung hatte Marie schon immer auf Menschen gehabt.

Jetzt fielen ihr die ersten Beispiele wieder ein. Wie Werbespots im Fernsehen immer ihre Lieblingsserien unterbrachen, so schoben sich ungebeten immer öfter Einblendungen aus der Vergangenheit in Maries Alltag. Das irritierte sie. Sie hatte ja nichts gegen Erinnerungen, aber doch bitte auf Einladung!

Ihre Haushaltshilfe kam und begrüßte sie. Doch Marie war noch so in Gedanken versunken, dass sie deren Stimme für die einer verstorbenen Nachbarin in Deutschland hielt.

»Marie, ich hab Ärger mit meiner Schwiegermutter. Kannst du mir nicht deinen Käsekuchen backen? Ich bring dir auch die Eier und alle Zutaten.«

Alle Zutaten? Marie lächelte versonnen. Wie viel Aufregung es doch später um die entscheidende, geheime Zutat gegeben hatte

Du hast deinem jüngsten Bruder seine Zukunft gestohlen, dachte sie dann wie aus heiterem Himmel. Sie versuchte, den Vorwurf wieder in eine dunkle Ecke des Vergessens zu drängen – es war lange her. Aber er bohrte sich in ihren Kopf und zwang sie zu weiteren unangenehmen Überlegungen. Sein Leben wäre völlig anders verlaufen, wenn sie damals nicht … Grollte ihr Jonny, wie sie ihn nannte, seit sie in Amerika lebte, noch? Nie hatte sie sich getraut, ihn zu fragen. Solche Fragen konnte man nicht in Briefen stellen oder in einem teuren Telefonat über den großen Teich.

Außenstehende sahen es völlig falsch. Man vergaß nicht im Alter, im Gegenteil, man erinnerte sich nur. Mehr als einem manchmal lieb war.

Marie suchte Halt in ihrer täglichen Routine. Um acht Uhr aufstehen, sich waschen und anziehen, die lila getönten Haare frisieren. Noch vor dem Frühstück zog sie sorgfältig ihre Lippen nach und ging an die frische Luft. Wer anfängt, sich zu vernachlässigen, ist schon verloren, lautete eine ihrer goldenen Regeln. Den Weg von ihrem Häuschen zum See pflegte Marie zu Fuß und ohne Rollator zu gehen. Es dauerte immer länger, aber sie schaffte es noch.

So ließ sie sich auch an diesem Junimorgen auf der von Linden beschatteten Holzbank am See nieder, öffnete einen Stoffbeutel mit Brotresten und fütterte die Enten. Es duftete angenehm. Marie sog tief die Luft mit den lieblichen Aromen ein. Sie assoziierte Farben – Hellgrün mit gelblichen Einspritzern. Im kommenden Jahr würde sie neunzig werden. Neunzig!

Die ungebetenen Gedanken ließen ihr keine Ruhe mehr. Ich muss mich mit Jonny aussprechen. Und noch dringlicher: Was wird aus meinem Rezept? Warum habe ich es bislang nicht weitergegeben? Natürlich, wegen Anna. Sie hätte längst, vor Jahren schon, eine Lösung finden sollen. Warum nur hatte sie diese Dinge, die sie so bewegten, so lange vor sich hergeschoben?

Marie schnupperte wieder. Weshalb rollten ihr Tränen die Wangen hinunter? Es war dieser Duft … Er löste etwas in ihr aus, sie spürte ein sehnsüchtiges Ziehen in der Herzgegend. Er roch nach Heimat, Honig und verliebten Küssen … Das altbekannte Heimweh, ihr lebenslanger Begleiter – die Sehnsucht nach zu Hause, nach ihrer Kindheit in Ostfriesland. Heute war sie vermischt mit einer schmerzlichen Vorfreude. Darauf, dass sie bald im Jenseits ihren geliebten Mann, ihre Tochter Anna und hoffentlich auch Tante Frieda, ach, und ihre Eltern und die anderen Geschwister wiedersehen würde. Ich habe solche Sehnsucht nach euch, dachte sie, ich vermisse euch schon so lange

Die Tränen tropften auf die Weißbrotkugeln in ihrer Hand. Was passierte da mit ihr?

Marie, du lebst nicht ewig, sagte sie sich. Das ist auch gut so. Aber die Zeit drängt. Solange du lebst, solltest du endlich Ordnung schaffen. Klären, was noch geklärt werden muss.

Ihr Kleid knisterte, es haftete an der Bank. Marie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte nach oben. Ach, das war’s! Die Linden blühten, wie wunderbar! Zum ersten Mal! Sie hatte sie pflanzen lassen, als sie vor Jahren ihren Ruhesitz auf Long Island bezog, obwohl der Gärtner sie gewarnt hatte, dass es lange dauern könnte, bis sie blühen würden. Jetzt versprühten die Linden ihren Nektar. Und wie sie dufteten! Marie atmete noch einmal tief durch. Genau wie früher

Eilig wackelte sie dann zurück in ihr Haus. Sie suchte das Luftpostbriefpapier, setzte sich auf ihre Veranda und schrieb einen Brief an ihren einzigen noch lebenden Bruder, an Jonny in Deutschland. Dieses Mal hielt sie sich nicht mit dem üblichen Geplänkel – dem Dank für den letzten Brief, irgendwelchen Glückwünschen nachträglich und guten Wünschen im Voraus – auf, sondern kam gleich zur Sache.

Lieber Jonny,

im nächsten Mai werde ich nun neunzig Jahre alt. Es wäre mein allerschönstes Geschenk, wenn wir zwei uns noch einmal wiedersehen könnten. Willst Du mich nicht besuchen kommen? Bitte versprich mir, dass Du ernstlich darüber nachdenkst.

Platz habe ich genug, eine Begleitperson könnte im Gästehaus unterkommen, falls Du jemanden mitbringen möchtest. Ich schreibe Dir früh, damit Du Zeit genug hast zu buchen.

Auf ein baldiges Wiedersehen hoffend grüßt Dich

Deine Schwester Marie

Marie ging an ihren Wohnzimmerschrank. Sie suchte ein Foto von ihrem Häuschen, das sie dem Brief beilegen wollte. Ihr jüngster Sohn, der in Florida lebte, hatte bei seinem letzten Besuch schöne Aufnahmen gemacht. In einer großen alten Pralinenschachtel hob sie die Fotos auf, die sie irgendwann, wenn sie einmal Zeit hatte, sorgfältig in ein Fotoalbum einkleben wollte. Marie lachte auf. Wenn sie einmal Zeit hatte … Wann würde das je sein?

Plötzlich hielt sie ein altes Foto von sich selbst in den Händen. Ihr fiel ein, dass es sich neulich aus einem alten Album gelöst hatte. Es musste aus ihren letzten Monaten in Deutschland stammen, aus dem Jahr 1932. Aufmerksam studierte Marie das nachträglich colorierte Bild wie das einer entfernten Bekannten.

Die Neunzehnjährige mit den kinnlangen blonden Haaren war gut genährt. Das Erste, was auffiel, war ihr Blick. Die tiefliegenden, eng zusammenstehenden hellblauen Augen schauten eindringlich. Sie hatte rosige Wangen und einen hellen Teint, dessen Reinheit vermutlich, außer auf ihre Jugend, auf den Gebrauch von Regenwasser zurückzuführen war. Marie hatte das schmale ovale Gesicht ihres Vaters geerbt, auch den Mund mit der ausgeprägten Oberlippe, und seinen entschlossenen Ausdruck, allerdings nicht dessen Strenge. Von der Mutter hatte sie die hohen Wangenknochen. Dass ihr damals schon gern mal der Schalk im Nacken saß, verriet diese Aufnahme nicht – sie blickte ernst. Dass man für Fotos lächelte, hatte Marie erst in Amerika gelernt. Aber wie alle Wiemkes-Kinder besaß sie von Natur aus ein offenes Lächeln, das sie den meisten Menschen auf Anhieb sympathisch machte.

Marie legte das Foto zur Seite. Wie hübsch – und wie naiv sie gewesen war! Wie viel von dieser Frau mochte heute noch in ihr stecken? War man am Ende seines Lebens ein ganz und gar anderer Mensch als am Anfang?

Sie legte sich auf ihr Sofa und schloss für einen Moment die Augen. Ja, es existierte immer noch eine geheimnisvolle Verbindung zwischen der jungen und der alten Marie. Die Enten, die duftenden Linden … ein Junitag, der viele Jahrzehnte zurücklag … Sie sah ihn genau vor sich – so deutlich als wäre alles erst gestern geschehen.