An Bord der Bremen
und in New York
November 1932 bis Mai 1933
Möwen zogen kreischend ihre Bahnen an diesem nieselig-kalten Novembertag, und eine aufgeregte, überwiegend elegante Menschenmenge drängte sich an der Columbuskaje in Bremerhaven. Das Ehepaar Wiemkes, beide im Sonntagsstaat, stand vor der Gangway und verabschiedete sich von Marie. Tabea und Heinrich hatten ihre Tochter mit der Eisenbahn hergebracht, Johann musste zu Hause bleiben, um die Tiere zu versorgen. Er hatte sich nur kurz und wortkarg von seiner Schwester verabschiedet. Jetzt wussten weder die Eltern noch Marie so recht, was sie noch sagen sollten.
Vor ihnen lag der modernste und schnellste Ozeandampfer der Welt: die Bremen, die für ihre Jungfernfahrt drei Jahre zuvor von Bremerhaven nach New York nur vier Tage, siebzehn Stunden und zweiundvierzig Minuten benötigt und damit als erstes deutsches Schiff seit zwanzig Jahren das begehrte Blaue Band errungen hatte.
Trotz des trüben Wetters schien die Luft zu flirren. Zwei Dutzend Autos rollten in den Bauch des Schiffes, livrierte Bedienstete trugen Koffer auf den Schultern. Gepäckstücke und jede Menge Post verschwanden in Aufzügen. Marie spürte die großen Erwartungen und die Vorfreude der anderen.
»Zeitausendzweihundert Passagiere passen an Bord«, hörte sie in ihrem Rücken einen Mann, der voller Begeisterung eine kleine Gruppe informierte. »Davon reisen über achthundert in der ersten Klasse, gut sechshundert in der dritten Klasse, die anderen in der zweiten oder Touristenklasse, und dann kommen noch tausend Mann Besatzung hinzu. Es gibt zehn Passagierdecks. Seht sie euch an!«, rief er stolz. »Ist sie nicht großartig, unsere Königin der Meere?«
Marie empfand weder Stolz noch Vorfreude, sie konnte nur an ihren Verlust denken. Daran, dass sie Rudolf nun eine sehr lange Zeit nicht mehr würde sehen können. Sie atmete tief ein, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Es roch nach Salzwasser, Motoröl und Meeresbrise, ab und zu wehte ein teures Parfüm zu ihnen herüber. Das Bordorchester spielte auf. Tabea Wiemkes standen Tränen in den Augen. Heinrich Wiemkes küsste seine Tochter feierlich auf die Stirn.
»Und schreib gleich, wenn du angekommen bist«, sagte die Mutter zum wiederholten Mal.
»Grüß deine Geschwister von uns«, fügte der Vater hinzu.
Marie nickte steif. Sie bemühte sich um eine angemessene Haltung, doch kurz bevor sie ihren Fuß auf die Gangway setzte, drehte sie sich um, lief noch einmal zurück und umarmte ihre Mutter. Für ihren Vater hatte sie nur einen dunklen, traurigen Blick. Dann ging sie an Bord.
Das Abschiedszeremoniell beim Ablegen interessierte sie nicht besonders. Marie schenkte den Menschen, die bis auf die grünen Deiche hinaus standen und dem majestätischen Turbinendampfer zuwinkten, wenig Aufmerksamkeit. Als sie durch das Gedränge im vorderen Teil des Schiffs auf Deck D endlich ihre Kabine gefunden hatte, überkam sie eine bleierne Müdigkeit. Sie richtete sich notdürftig in der kleinen Unterkunft ein, die sie sich mit drei anderen Frauen teilte. Zwei, Mutter und Tochter aus dem Schwäbischen, die ununterbrochen miteinander schwätzten, nahmen das eine Etagenbett in Beschlag.
»Oben oder unten?«, fragte eine kecke Brünette Marie mit dunkler Stimme.
Marie schätze sie auf Anfang zwanzig, sie wirkte großstädtisch und trotz ihrer langen, markanten Nase attraktiv. Die junge Frau trug ein schickes Kostüm im Hahnentrittmuster. Was aber am meisten auffiel, war, dass sie geschminkt war. Ihre braunen Augen hatte sie dunkel umrandet, die Lippen leuchteten unnatürlich rot, und ein Hauch Puder mattierte das Gesicht. Die Schwäbinnen registrierten es mit verkniffenen Mündern, sie warfen einander missbilligende Blicke zu.
»Mir egal«, antwortete Marie. Sie hatte keine Lust auf Konversation.
»Oh, dann nehme ich das Bett unten!« Die Brünette lachte sympathisch. »Da fällt man bei Sturm nicht so tief.« Sie streckte ihre Hand aus. »Waltraud Lehmann aus Berlin, aber alle nennen mich Wally.« Sie berlinerte leicht.
Marie schüttelte die Hand höflich. »Marie Wiemkes. Gut, Wally, dann schlaf ich oben.«
Sie zog ihre Stiefeletten aus und kletterte auf der Bettleiter nach oben. Dort dreht sie sich zur Wand, zog die Decke über den Kopf und begann lautlos zu weinen.
Als Marie erwachte, brauchte sie einen Augenblick, um sich zu orientieren. Ach ja, sie lag in ihrer Koje auf dem Schiff nach New York! Sie spürte, dass es sich hob und senkte, aus dem Maschinenraum dröhnte ein Dauerbrummen. Marie starrte an die Decke.
Nach einer Weile sah sie auf ihre Uhr. Es war noch nicht einmal eine ganze Nacht seit ihrer Abreise von Bremerhaven vergangen, und schon jetzt hatte sie das Gefühl, vor Sehnsucht nach Rudolf sterben zu müssen. Außerdem bekam sie kaum Luft. Bereits einige Male, seit sie sich entschlossen hatte, eine folgsame Tochter zu sein, hatte Marie solche Momente erlebt, in denen sie fürchtete, ersticken zu müssen. Der Groll auf den Vater schien ihr die Luft zum Atmen zu nehmen.
Marie versuchte, den Groll vor sich selbst zu verstecken, ihn einfach wegzuschließen. In jene dunkle Kammer, in der auch die Erinnerungen an den Tod ihrer Schwester Magdalena lagen, die eine Hirnhautentzündung gehabt hatte – sie selbst war damals erst vier Jahre alt gewesen. Die Nachbarinnen hatten der Mutter geraten, niemals mit ihren Kindern zu schmusen, dann treffe sie der Verlust nicht so schlimm. Und Marie erinnerte sich an den Hunger nach dem Krieg und an ihr eigenes Erschrecken, wenn sie als Kind zufällig ihre Mutter während der Arbeit zwischen den Torfstapeln beim Weinen ertappte.
Sie wusste, dass die Eltern überzeugt waren, das Richtige zu tun, auch wenn sie selbst es für abgrundtief falsch und ungerecht hielt. Aber dieser verdrängte Groll war immer noch besser als ein offener Streit – so schien es ihr intuitiv, denn richtig darüber nachdenken mochte sie nicht, weil es zu wehtat. So bestand die Hoffnung, dass mit der Zeit alles wieder gut und wie früher werden könnte. Und wenn ihre Eltern jetzt stürben, müsste Marie sich wenigstens keine Vorwürfe machen – sie wäre dann eine gute Tochter gewesen.
Marie öffnete den obersten Knopf ihres Kleides, um besser atmen zu können.
Ein Aufstöhnen wie von großer Übelkeit riss sie aus ihren Gedanken. Offenbar war sie nicht die Einzige, die in der stickigen Kabine kaum Luft bekam. Wally im Bett unter ihr schien es nicht gut zu gehen. Marie sah nach unten. Die junge Frau wand sich mit halb aufgerichtetem Oberkörper, eine Hand auf dem Magen. Wally rülpste und ächzte.
»O Gott, ist mir schlecht!«, stieß sie hervor.
Und plötzlich schoss ein Schwall von Halbverdautem aus ihrem Mund in hohem Bogen auf den Boden. Die schwäbische Mutter sprang angeekelt von ihrem Lager und trat prompt in die stinkende Lache.
»Des isch ja widerlich«, kreischte sie. »Komm, Aschdrid, mir gehe!«
Tochter Astrid kletterte schwerfällig vom oberen Bett, wobei sie fast mit Marie kollidierte, die ihr Hochbett gegenüber wesentlich flinker verließ. Mutter und Tochter warfen sich Mäntel über und entschwanden nach draußen.
»Wie geht’s dir? Musst du dich noch einmal übergeben?«, fragte Marie.
Wally stöhnte. »Wahrscheinlich …«
»Soll ich dir raushelfen?«
Marie reichte ihr die Hand und zog sie hoch, dann stützte sie Wally bis zur Toilette und hielt ihr, während sie erneut erbrach, die Haare aus dem Gesicht. Nach einer Weile kehrten sie zurück, Wally setzte sich auf einen Hocker und lehnte den Oberkörper erschöpft gegen die Wand.
»Hier, trink.«
Marie reichte ihr ein Glas Wasser. Ihr fielen Wallys makellose Hände auf. Sie waren weich, ohne Schwielen, mit oval geformten, glänzend polierten Nägeln. Marie suchte nach Putzzeug, fand in einem Wandschrank Eimer und Feudel. Beherzt begann sie, das Erbrochene aufzuwischen.
»Lass doch, ich mach das schon noch …«, rief Wally mit schwacher Stimme. »Nachher …«
»Besser, ich erledige das jetzt gleich«, erwiderte Marie. Die Pfütze breitete sich durch das Schaukeln des Schiffes immer weiter aus. »Ist schon in Ordnung, mach dir keine Gedanken.«
Als das Schlimmste überstanden war, ging Marie mit Wally durch ein Treppenhaus zwei Deck höher auf die überdachte Promenade der dritten Klasse, um frische Luft zu schnappen. Sie umklammerten die Reling. Salzige Gischt und Nieselregen erfrischten ihre Gesichter. Sie blickten auf die funkelnden Lichter an der englischen Küste. In Southampton würden sie einen Zwischenstopp machen, bevor es weiterging nach New York. Marie konnte sich nicht vorstellen, dass sie in fünf Tagen auf dem Kontinent stehen würde, auf dem einige ihrer Geschwister schon etliche Jahre lebten.
»Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«, fragte Wally.
»Ich schätze kurz nach Mitternacht.«
Der Wind wehte vom Deck der ersten Klasse flotte Tanzmusik mit Piano, Saxophon und Trompete zu ihnen herüber.
»Das Schiff ist bei Weitem nicht ausgebucht«, wusste Wally. »Nur knapp ein Drittel der Kabinen ist belegt.«
Die Belegungszahlen interessierten Marie nicht. Sie schwieg.
»Na ja, wer fährt denn auch schon im November über den Atlantik?«, überlegte Wally.
»Ja, wer macht denn bloß so was?«, konnte Marie sich nicht verkneifen.
Wally grinste. »Ich hab im Friseursalon des Hotel Adlon als Maniküre gearbeitet«, sagte sie. »Meine Eltern leben nicht mehr. Ich will mir Arbeit in einem Schönheitssalon in New York suchen. Und später mach ich ein eigenes Geschäft auf.«
Wallys Haut, die kurz zuvor noch grünlich geschimmert hatte, war glatt und ebenmäßig.
»Und was kannst du gut?«, fragte sie Marie, die gerade überlegte, was genau wohl ein Schönheitssalon sein mochte.
»Ich?«, fragte Marie verblüfft.
Sie überlegte. Sie hatte ja keinen Beruf erlernt, verstand nur von allem, was man im Haushalt brauchte, ein bisschen. Was sollte sie antworten? Melken? Leute beruhigen? Handarbeiten? Marie straffte sich.
»Ich kann gut Käsekuchen backen.«
»Fabelhaft! Ich liebe Käsekuchen … Allerdings mag ich jetzt gerade nicht daran denken …« Wally hielt sich eine Hand an den Bauch.
»Ich auch nicht.« Voller Scham erinnerte sich Marie an das jämmerliche Ende ihres letzten Kuchens im Schweinetrog.
Die Salontür des Oberdecks wurde geöffnet, für einen kurzen Moment hörten sie das Gelächter und Musikfetzen einer ausgelassenen Tanzgesellschaft lauter.
»Ein Foxtrott«, bemerkte Wally.
Marie kannte nur Polka, Schieber und Charleston. Sie nickte stumm. Rudolf und sie hatten vorgehabt, im Winter einen Tanzkurs zu besuchen.
»Bist du auch seekrank?«, fragte Wally und musterte Maries Gesicht.
»Weiß nicht.«
»Wie, du weißt es nicht?«
»Woran erkennt man das?«
»Man möchte sterben und muss sich übergeben.«
»Übergeben muss ich mich nicht, aber ich hätte nichts dagegen zu sterben.«
»Oje …« In Wallys Stimme klang Mitgefühl. »Dann hast du Liebeskummer. Stimmt’s, oder hab ich recht?«
Marie hielt das Gesicht so in den Wind, dass er mit kühler Schärfe in ihre Nasenlöcher blies. Sie konzentrierte ihren Blick auf die weiß schäumenden Wellen im nachtdunklen Meer.
»Kann sein«, gab sie schließlich zu. Sie fröstelte.
Wally hakte sich bei ihr ein. »Lächel doch mal, Marie.«
»Ich bin müde, ich geh jetzt wieder schlafen.«
Marie verbrachte den folgenden Tag, soweit es ging, für sich allein. Sie lehnte alle Aufforderungen ihrer Mitbewohnerinnen zu gemeinsamen Aktivitäten ab, ignorierte alle Annäherungsversuche im Speisesaal. Die meisten Reisenden der dritten Klasse waren jung, in ihren Zwanzigern, von Beruf Dienstmädchen oder Landarbeiter. Sie alle träumten davon, in Amerika ihr Glück zu machen. Aufgekratzt erzählten sie einander Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten. Viele Freundschaften wurden geschlossen und Kontaktadressen ausgetauscht.
Wenn Marie nicht schrieb, weinte oder sich den Tod wünschte, verschlang sie das Buch, das Tante Frieda ihr zum Abschied geschenkt hatte: Die Gabe der gewandten Unterhaltung. Marie fand es überaus lehrreich, denn es handelte vom »Ton in guter Gesellschaft« in allen Facetten. Die Kapitel beschäftigten sich mit Klatsch und übler Nachrede ebenso wie mit unverfänglichen Gesprächsanknüpfungen, mit Witz, Humor und heiterer Laune. Auch mit der überspannten Seele und mit Zerstreutheit, Herzenssachen und der Plauderkunst im Allgemeinen. Es enthielt sogar Mustergespräche. Die interessierten Marie besonders. Sie würden ihr hoffentlich helfen, ihre Schüchternheit gegenüber weltgewandten Fremden zu überwinden.
Marie war erleichtert, wenn sie allein in der Kabine sein konnte. Sie holte dann das Porträtfoto von Rudolf hervor, das er ihr zum Abschied geschenkt hatte. Es steckte in einem postkartengroßen Rahmen aus rotbraunem Leder. Er schien sie direkt anzublicken. Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen über die Konturen seines Gesichts.
Am Nachmittag des zweiten Tages auf hoher See ging Marie aufs Promenadendeck und ließ sich dick eingemummelt in ihren Mantel auf einem Deckchair nieder. Die dunkelblaue Kappe, die sie aus einem Filzstumpen selbst geformt hatte, zurrte sie mit einem Schal gegen den Wind fest, um die Beine wickelte sie eine Wolldecke. Und so begann sie, ihren ersten Brief an Rudolf zu schreiben.
Mein Liebster, wir durchpflügen gerade schwere See, aber eines Tages wird für uns die Sonne wieder scheinen. Es ist nasskalt und grau, ich sitze trotzdem an Deck, weil eine meiner Mitreisenden seekrank in der Kabine liegt.
Du fehlst mir so! Jetzt schon!!
Das Schiff und seine moderne Technik würden Dich sicher interessieren, mein Liebster. Ich will versuchen, die (neue) Welt auch immer ein bisschen mit Deinen Augen zu betrachten. Von heute an werde ich Dir jeden Tag wenigstens ein paar Zeilen schreiben. Du wirst bei allem, was kommt, immer bei mir sein. Schreib Du mir auch, wie Du es versprochen hast, Kleines wie Großes. Und bitte schreibe mir ehrlich, was Dich bewegt. Dann können wir uns nicht verlieren, nicht wahr?
Marie ließ den Bleistift sinken. Der Gedanke, auf diese Weise mit Rudolf in Kontakt zu bleiben, tröstete sie ein wenig.
Wally schien es wieder gut zu gehen. Perfekt geschminkt kam sie zu Marie gelaufen. Mit leuchtenden Augen berichtete sie, dass sie einen Schiffsoffizier getroffen hatte, den sie aus Berlin kannte. Er habe versprochen, ihr auch jene Einrichtungen an Bord zu zeigen, die sonst den Erste-Klasse-Passagieren vorbehalten blieben.
»Willst du nicht mitkommen? Es gibt so viel zu entdecken! Sie haben hier einen Friseursalon, den muss ich unbedingt sehen, und eine Bibliothek, ein Sportdeck, sogar eine Schwimmhalle! Und überall herrscht eine Bombenstimmung!« Wally lachte. »Ausgenommen natürlich bei denen, die gerade Neptun opfern.«
Marie schüttelte stumm den Kopf.
»Hach, du bist so ungemütlich …«
»Ich möchte lieber in Ruhe lesen.«
Wally schlief diese Nacht nicht in der Kabine. Sie hatte zwar angekündigt, dass es spät werden könnte, aber Marie machte sich doch Sorgen, als sie am Morgen nicht in ihrer Koje lag. Erleichtert atmete sie auf, als sie der jungen Frau nach dem Frühstück vor dem Speiseraum begegnete.
»Ich hatte schon befürchtet, dass du über Bord gegangen bist.«
»Es ging mir nie besser!«
Wally schwärmte von dem Schiffsoffizier und von seiner Führung durch das Schiff »einschließlich der Mannschaftsräume und seiner Koje«. Sie zwinkerte vieldeutig. Marie schaute sie mit großen Augen an. Verstand sie richtig? Wally hatte einfach die Nacht mit diesem Mann verbracht? Und sie hatte kein schlechtes Gewissen, sie schämte sich nicht?
»Oh!« Mehr brachte Marie nicht hervor.
Amüsiert wies Wally auf den Buchtitel in Maries Hand, sie las immer noch in Tante Friedas Ratgeber.
»Da gibt’s doch noch mehr als Oh! Willst du dein neues Wissen nicht mal in der Praxis anwenden?«
Marie errötete, doch Wally lächelte großzügig. Sie schien wirklich eine sehr schöne Nacht hinter sich zu haben.
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bin kein romantisches Landei, ich denke nicht daran, mich zu verlieben. Ich will nur meinen Spaß und hier und da eine Vergünstigung.« Wally zuckte kokett mit den Schultern. »Es war das Mondlicht in seinen Augen, weißt du… Ach, wenn ich Lust habe, Ja zu sagen, kann ich einfach nicht Nein sagen.«
»Aha.« Marie merkte erst jetzt, dass ihr der Mund offen stand.
»Na komm! Jetzt vergiss mal für einen Moment alle Bedenken. Es gibt ein ganz besonderes Schauspiel auf dem Sonnendeck. Das ist wohl ein Höhepunkt der Überfahrt, und ich lad dich dazu ein. Mein Schiffsoffizier hat mir versprochen, mich durch den Mannschaftsgang hochzuschleusen, und ich darf eine Freundin mitbringen. Sei diesmal kein Spielverderber!«
Marie stand neben Wally mit vielen anderen Passagieren auf dem obersten Deck. Fasziniert registrierte sie, wie elegant die Passagiere hier oben gekleidet waren und wie selbstbewusst sie sich bewegten. Die Röcke wurden offenbar wieder länger, zu dumm, dass sie vor der Abreise noch zwei Kleider gekürzt hatte. Aber es sah schon schick aus. Sie fielen auch nicht mehr gerade, sondern glockig, wahrscheinlich legte man den Stoff beim Nähen quer. Aha, und statt Riemchen wiesen die Schuhe der modebewussten Damen Schnallen auf. Erst nach ihrer diskreten Modemusterung betrachtete Marie die Konstruktion, die allgemein die Aufmerksamkeit auf sich zog.
Zwischen den beiden großen Schornsteinen in der Mitte des Schiffs verlief eine erhöhte und, wie der Schiffsoffizier ihnen zuvor erklärt hatte, nach allen Seiten schwenkbare Schienenbahn. Sie sei siebenundzwanzig Meter lang, und darauf, in fünfundzwanzig Metern Höhe, befinde sich der sogenannte Startschlitten, hatte der junge Mann gesagt. Auf diesem Startschlitten stand ein Wasserflugzeug, und soeben wurden mehrere Postsäcke darin verstaut.
»Tut mir leid, die Damen«, der Offizier lächelte Wally an, »ich muss mich verabschieden. Die Brücke ruft.«
In diesem Moment trat auch der Kapitän der Bremen in seiner schmucken Uniform aus der Kommandostation heraus. Er wirkte wie ein freundlicher älterer Herr.
»Weißt du, wie der heißt?«, fragte Wally glucksend.
Marie schüttelte den Kopf.
»Kommodore Leopold Ziegenbein.«
»Ziegenbein? Ehrlich? Und dann auch noch Leopold …« Marie musste schmunzeln.
Wally strahlte sie an. »Na endlich!«
»Was, endlich?«
»Du hast gelächelt, Marie!« Wally hakte sich bei ihr unter.
Jetzt stieg der Bordfunker in das Heinkel-Flugzeug ein und salutierte, so wie nach ihm auch der Pilot. Marie schaute auf die flatternden Flaggen an Bord. Daran erkannte sie, dass die Schienenbahn exakt gegen den Wind ausgerichtet war.
Das Gemurmel erstarb. Atemlos verfolgte die Menge, wie der Flugzeugführer das Startzeichen gab. Ein lautes Zischen erklang, das riesige Schiff erbebte, viele Zuschauer erschraken, auch Marie fuhr zusammen. In weniger als zwei Sekunden wurde das Flugzeug über die Schienen nach vorne katapultiert! Was dabei so zischte, musste die Pressluft sein, die dem Flugzeug den Antrieb gab. Staunend sah Marie, wie die Propeller durch ihre Umdrehungen blitzschnell unsichtbar wurden – und schon flog die Maschine mit eigener Motorenkraft über die Dünung des Atlantiks davon. Die Startgeschwindigkeit von neunzig Kilometern pro Stunde würde sich noch verdoppeln, hatte der Offizier angekündigt, die Post sollte voraussichtlich mit einem Zeitvorsprung von sechsunddreißig Stunden in New York ankommen. Das also war die geheimnisvolle Schleuderpost!
Zum zweiten Mal an diesem Tag stand Marie mit offenem Mund da. Die Zukunft begann für sie nicht erst in New York, das begriff sie in diesem Moment. Sie steckte schon mitten drin.
Als die Bremen am Morgen des fünften Tages in den Hafen von New York einlief, verfolgte Marie wie die meisten Passagiere das Schauspiel von der Reling aus. Die Skyline Manhattans tauchte nur langsam aus dem Nebel auf. Davor reckte ihnen die Freiheitsstatue ihre Fackel entgegen.
Ungezählte große und kleine Schiffe bewegten sich vor und an den Piers, die wie gespreizte Finger ins Wasser ragten. Die Dampfer stießen Wölkchen und Rauchfahnen aus, die in allen Grauschattierungen vor den Wolkenkratzern aufstiegen.
In Maries Ohren begann es zu rauschen, ihr Herz klopfte schneller. So viele Menschen lebten dort im legendären Schmelztiegel so eng neben- und übereinander! Hoffentlich ging sie darin nicht unter, hoffentlich konnte sie sich behaupten! Beklommen sah Marie die Silhouette näher rücken. Es gab kein Zurück mehr.
Aus den rechteckigen grauen Bauklötzen schimmerten geometrisch angeordnete Pünktchen hervor. Die Lichter der Großstadt beruhigten Marie irgendwie. Jeder gelbe Punkt bedeutete ein erleuchtetes Zimmer. In jedem Zimmer arbeitete, lebte, liebte ein Mensch. Menschen … Sie waren doch überall gleich, oder? Allerdings musste man sich mit ihnen unterhalten können.
Marie nahm sich fest vor, so schnell und so gut wie möglich Englisch zu lernen. Was nützte ihr in Amerika alle Kunst der gewandten Unterhaltung, wenn sie nur Deutsch spräche? Jedenfalls, so beschloss sie im Angesicht der Skyline, würde sie die Zeit, bis Rudolf sie holte, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Es wäre doch dumm, drei Jahre oder länger in dieser aufregenden Stadt nur zu trauern oder auf das Wiedersehen mit dem Liebsten zu warten.
Und auf einmal überkam Marie eine völlig verrückte Vorfreude. Sie spürte ein Prickeln, sie konnte nicht anders, als auf der Stelle zu hüpfen, mit beiden Armen zu winken und die Stadt mit ihrem strahlendsten Lächeln zu begrüßen.
»Hallo, New York! Ich komme!«
Erst nach einer Weile merkte Marie, dass Wally neben ihr stand. Auch die sonst so abgeklärt wirkende Berlinerin schien tief beeindruckt. Sie sahen sich an, und Wally zwinkerte ihr gerührt zu. Sie ahnten, dass dieser gemeinsam erlebte Augenblick sie für immer miteinander verbinden würde.
»Weißt du was, Marie?«, rief Wally gegen das Kreischen der Möwen an. »Ab jetzt geht’s für uns beide nur noch aufwärts!«
Der Schnelldampfer machte am Brooklyn-Pier fest. NORTH GERMAN LLOYD stand groß von Glühbirnen beleuchtet an der Front des Backsteingebäudes, das einem riesigen Schuhkarton glich. Nicht weit von hier wölbte sich eine gigantische Hängebrücke, die Marie auf Anhieb gefiel, weil sie wie gehäkelt aussah, über den East River zur Südspitze der Insel Manhattan. Männer in Uniformen, die sehr wichtig und offiziell wirkten, kamen an Bord.
Sie sollten zurück in ihre Kabine gehen, erklang eine Stimme aus dem Lautsprecher, und auf weitere Durchsagen warten.
»Müssen wir denn nicht zuerst nach Ellis Island?«, fragte Marie Wally erstaunt. Wally zuckte mit den Schultern.
Marie hatte sich auf ein langwieriges Immigrationsprozedere auf Ellis Island eingestellt, mit stunden-, vielleicht tagelangem Warten, medizinischen und psychologischen Tests. Davon hatten ihre Geschwister immer geschrieben. Im Vorüberfahren hatten sie die kleine quadratische Insel mit den verwinkelten Gebäudekomplexen der Einwanderungsbehörde auch schon gesehen.
In der Kabine schwatzten die beiden Schwäbinnen aufgeregt miteinander. Es klopfte. Aber vor der Tür stand nur der Schiffsoffizier aus Berlin, der es sich nicht nehmen lassen wollte, Wally Adieu zu sagen.
Marie fragte ihn nach Ellis Island. »Sie haben dieses Jahr das System, mit dem die Einwanderer in New York erfasst werden, umgestellt«, erklärte er. Sie würden wie die Passagiere, die nur auf Reisen waren, an Bord der Bremen abgefertigt.
Wally freute sich, dass sie schneller an Land kämen, und Marie fragte sich, ob ihre Brüder wohl Bescheid wussten.
»Aber dieses Jahr haben sie auch zum ersten Mal mehr Einwanderungswillige zurückgeschickt als ins Land hineingelassen«, fuhr der Offizier fort. »Die Amerikaner fürchten sich vor Überfremdung durch andere Rassen.«
Marie sah Angst in Wallys Augen aufflackern. In ihr dagegen wendeten sich die Gefühle, als hätte jemand einen Magneten neben Eisenspäne gehalten. Blitzschnell schöpfte Marie neue Hoffnung. Was wäre, wenn die Einwanderungsbehörde sie wieder zurückschicken würde? Dann könnte sie Rudolf schon in weniger als einer Woche wiedersehen! Und ihr Vater dürfte ihr keine Vorwürfe machen. Es wäre schließlich höhere Gewalt!
Doch bevor Marie oder Wally etwas sagen konnten, meinte der Offizier, dass junge, hübsche, gesunde Frauen aus Deutschland gewiss keine Schwierigkeiten bekämen.
»Was sie nicht wollen, sind Leute, die krank, vorbestraft, senil oder Analphabeten sind. So was wie euch nehmen sie mit Kusshand, keine Sorge!«
Die Passagiere mussten schubweise in die Speisesäle beziehungsweise Salons kommen, ihre Papiere vorlegen und einer Befragung standhalten. Marie antwortete auf die Frage, ob sie plane, den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika umzubringen, wahrheitsgemäß mit Nein. Sowohl der Arzt als auch der Offizier von der Einwanderungsbehörde hielten sich nicht lange mit ihr auf. Es zeigte sich auch, dass Maries Vater ihre Einwanderung mithilfe der Bürgschaften ihrer Geschwister hervorragend vorbereitet hatte. Kurze Zeit später war alles überstanden. In Quarantäne mussten nur solche Passagiere, die bereits während der Seereise aufgefallen waren und unter dem Verdacht standen, eine ansteckende Krankheit zu haben.
Aufgeregt verabschiedete Marie sich von Wally, sie gab ihr die Adresse von Wiemkes’ Coffee-Shop. »Bitte, komm mich mal besuchen!«
Es war Nachmittag, als Marie von der Gangway aus das Gewusel am Pier nach ihren Brüdern absuchten. Und tatsächlich entdeckte sie nach kurzer Zeit unter Hunderten von Menschen zwei Männer mit dem unverkennbaren Wiemkes-Lächeln. Es schien noch breiter und siegesgewisser geworden zu sein in Amerika. Willi hielt ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift WIEMKES in die Höhe.
Marie winkte, und bald darauf zeigte Fritz, der Jüngere und Blondere von beiden, auf sie. Durch das Gedränge eilten sie aufeinander zu.
»Marie, was bist du erwachsen geworden!«
Willi umarmte sie zuerst. Er war inzwischen fünfundzwanzig, und obwohl er mit Mantel, Anzug und Hut einen seriösen Eindruck machte, wirbelte er sie im Kreis herum wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Als er sie endlich losließ, stemmte Fritz sie übermütig hoch in die Luft. Er sah sehr flott aus mit seiner weiten Knickerbocker, Strümpfen im Rhombenmuster, Schalkragenpullover und Schiebermütze.
»Willkommen in Amerika, Schwesterchen!« Alle drei hatten sie Freudentränen in den Augen.
»Danke! Ach, ihr beiden seht fabelhaft aus!«
Sie luden ihr Gepäck in einen klapprigen Ford-Lieferwagen. Zu dritt saßen sie vorne, abwechselnd erklärten die Brüder Marie die Gegend, durch die sie fuhren. Zu Maries Enttäuschung überquerten sie nicht den Fluss auf dieser schönen Brücke, die direkt zu den Wolkenkratzern führte. Ihre Fahrt ging durch ein Industrie- und Hafengebiet, vorbei an zwei- bis dreistöckigen Lagerhallen und Fabrikgebäuden aus Backstein, von denen viele wohl aus dem vorigen Jahrhundert stammten. Von den Hauptstraßen zweigten Wohnstraßen mit kleinen schmalen Reihenhäusern ab, es gab auch Geschäfte und einige Kirchen und öffentliche Gebäude, mal einen Baum, mal einen kleinen Garten, doch insgesamt wenig Grün – und nicht einen einzigen Wolkenkratzer.
»Ist das schon New York?«, fragte Marie.
»Ja, das ist der Stadtbezirk Brooklyn, und das Viertel, in dem wir dort leben, heißt Red Hook«, erklärte Willi. »Es liegt südlich, an der Upper Bay. Aber von unserem Coffee-Shop aus hat man einen ganz netten Blick auf die City.«
»Red heißt es wegen der roten Backsteinbauten überall«, ergänzte Fritz. »Und Hook – das bedeutet Haken –, weil das Land dort wie ein Haken in die Bucht hineinragt.«
»Wir befinden uns sozusagen links außen von Long Island, im westlichen Zipfel.«
»Al Capone ist hier aufgewachsen«, flüsterte Fritz mit düsterer Stimme.
»Nun mach ihr doch keine Angst!«, sagte Willi.
Inzwischen war es dunkel geworden, mit einem Flackern gingen Gaslaternen an den Straßen und Industrielampen an. Es nieselte leicht. Sie holperten über glänzendes Kopfsteinpflaster, dann hielten sie in der Nähe eines Piers. Auf einer Seite der Straße reihten sich kleine Häuser aneinander, auf dem Pier stand eine schier endlos wirkende dreistöckige Lagerhalle aus Backstein. Schwarze Klappläden rahmten die halbrunden Türen und Fenster ein, sie erinnerten Marie an Käferflügel. Sie stieg aus und lief zum Kai. Das Wasser schwappte in sanften Wellen dagegen, der Sprühregen auf ihren Lippen schmeckte salzig. Hier lagen große Frachtschiffe, und darüber erhob sich ein lebendes Postkartenmotiv – die Südspitze Manhattans, durch den Nebel von einem milden, diffusen Licht umgeben wie von einem Heiligenschein.
»Das ist ja wunderschön!«
Ergriffen wandte Marie sich nach links zur Freiheitsstatue.
»Unglaublich, sie sieht mich an …«
»Eigentlich guckt die Liberty über den großen Teich nach Frankreich«, bemerkte Willi. »Die Göttin der Freiheit ist nämlich ein Geschenk des französischen Volks an die Vereinigten Staaten. Sie steht auf zerbrochenen Ketten.«
»Ich finde, man soll nicht zurückschauen«, meinte Fritz. »Sonst kommt man vor lauter Heimweh zu nichts.«
»Das sagst ausgerechnet du«, spottete Willi.
Marie betrachtete ihn nachdenklich. »Und jetzt?«
»Sind wir da.«
»Wie? Wo?«
Die Brüder zeigten auf eine Brachfläche zwischen den Häusern auf der anderen Straßenseite. Dort befand sich eine Art Bretterbude, grün gestrichen, mit handgemaltem weißem Schriftzug – »Wiemkes’ Coffee-Shop«. Die Rückseite schloss direkt an ein dreistöckiges Gebäude an.
»Oh.«
»Wir wohnen im angrenzenden Haus, wir haben die obere Etage und unten die Küche gemietet. Den Rest nutzt eine Im- und Exportfirma als Lager.«
»Und in den anderen Häusern?« Sie sahen nicht sehr belebt aus.
»Die dienen überwiegend als Lager. Da vorne über der Seilerei wohnt der Besitzer, Mr. Brown, ein alter Griesgram. Sonst haben wir keine direkten Nachbarn.«
Marie schluckte nur. Die Luft roch eigentümlich, irgendwie nach Fabrik.
»Willi schläft jetzt im Wohnzimmer«, sagte Fritz, »damit du ein Zimmer für dich hast.«
Es war Marie unangenehm, dass sie ihren Brüdern Umstände bereitete. »Da kann ich doch schlafen«, wandte sie verlegen ein.
»Nee, lass mal«, meinte Willi großzügig, »ich geh meist als Letzter schlafen, ich bin eine alte Nachteule.«
Maries Euphorie war mit einem Schlag verflogen. Hier sollte sie nun zu Hause sein? O nein! Was für eine grässliche Gegend! Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Willi schloss die Eingangstür auf, gleich stieg ihnen der Duft von Geflügelbraten, Speck, Zwiebeln und Gewürzen in die Nase. Fritz drehte einen Schalter, der den Flur erleuchtete.
»Ihr seid elektrifiziert!«, entfuhr es Marie. Immerhin, das war ein echter Lichtblick.
»Wir haben selbstverständlich auch ein Badezimmer mit einem Wasserklosett, Madam«, sagte Willi im näselnden Tonfall eines Butlers. »Und ein Radio!«
»Allerhand!« Vielleicht war es hier ja doch nicht so schlecht wie sie auf den ersten Blick befürchtet hatte.
Fritz öffnete die Tür zur Küche, er imitierte den Sprecher einer Radiowerbung. »Die General-Electric-Küche – praktisch und komfortabel! Mit Elektroherd, Heißwasserboiler und einem supermodernen Kühlschrank ganz aus Stahl!«
In der geräumigen Küche hatten ein weißer Schrank mit Anrichte, weiße emallierte Elektrogeräte, ein Doppelspülbecken und ein großer Ess- und Arbeitstisch Platz. Auf dem Herd köchelte Erbsensuppe in einem großen Topf.
»Unser Tagesgericht für morgen«, sagte Willi.
Fritz öffnete die Backofenklappe, und ein Schwall köstlicher Aromen schlug ihnen entgegen. Er goss etwas Flüssigkeit über das vor sich hin brutzelnde Hähnchen – es war das größte, das Marie jemals gesehen hatte.
»Meine Güte, in Amerika ist ja wirklich alles viel größer«, staunte sie mit ungläubigem Blick, »sogar die Hühner!«
Ihre Brüder lachten. »Das ist ein typisch amerikanischer Festschmaus zu deiner Begrüßung«, sagte Fritz voller Vorfreude. »Gefüllter Truthahn!«
»Ach so!« Marie fühlte sich wie ein dummes Schulmädchen. »Aber wer soll denn das alles essen?«
»Du, wir… Was übrig bleibt, verkaufen wir morgen als Thanksgiving-Gericht.«
Fritz zeigte ihr noch, dass von der Küche eine Tür zur Vorratskammer abging und eine andere direkt zum Raum hinter dem Tresen der Bretterbude. Dann stiegen sie eine enge, steile Treppe hinauf, gingen über einen Flur mit knarzenden Holzdielen und stellten Maries Sachen in einem kleinen Schlafzimmer ab. Sie setzte sich auf das verschnörkelte Metallbett und tat, als wolle sie zur Probe darauf wippen. Tatsächlich nutzte sie den unbeobachteten Moment, während die Brüder ihre Mäntel an die Flurgarderobe hängten, um den Kloß im Hals hinunterzuschlucken und tief durchzuatmen.
Marie schaute sich um. Die geblümte Tapete in Grüntönen gefiel ihr, ihre Aussteuerkiste war auch schon da. Zum Verstauen stand ihr eine Kommode aus dunkelbraunem Holz zur Verfügung, in einer Ecke hinter einem grünen Vorhang gab es eine Kleiderstange. Marie zog ihren Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl, der mit einem dazu passenden schlichten Tischchen die Einrichtung vervollständigte.
»Du hast ein richtiges Federbett«, betonte Willi, »ich hoffe, du weißt diesen Luxus zu schätzen.«
»Wieso?« Marie verstand nicht.
»Die Amerikaner kennen keine Federbetten«, erklärte Willi. »Sie schlafen mit Laken unter Wolldecken, und das Ganze stopfen sie auch noch unter der Matratze so fest, sodass man sich kaum rühren kann.«
»Unser erstes Geld haben wir für vernünftige Federbetten ausgegeben«, setzte Willi grinsend hinzu. »Nur wer gut schläft, kann auch gut arbeiten. Es war also eine Investition ins Geschäft.«
Neugierig lugte Marie in Fritz’ Kammer. Sie sah ähnlich aus, war nach Junggesellenart eingerichtet und aufgeräumt, nur hingen hier an den Wänden Illustriertenfotos – von Autos und von einer seltsamen amerikanischen Sportart, für die man einen Käfig ums Gesicht trug. Es gab auch ein Plakat der beineschwingenden Tiller Girls.
»Nimm doch Platz …«
Willi hielt die Tür zum Wohnzimmer auf. Der Esstisch war schon gedeckt. Neben einem cognacfarbenen Art-déco-Schlafsofa unter dem Fenster hatte noch ein weinroter Polstersessel Platz, als Ablage diente ein Überseekoffer. Ein gemusterter Teppich, obgleich schon abgetreten, verbreitete Gemütlichkeit. An einer Wand hingen sepiafarbene Familienfotos, auf denen Marie sich als Fünfjährige entdeckte und ihre Eltern – die sie augenblicklich ganz fürchterlich vermisste, obwohl sie ihrem Vater immer noch böse war. An der Wand gegenüber prangte ein interessantes modernes Schwarz-Weiß-Foto. Da saßen Bauarbeiter mit baumelnden Beinen in schwindelerregender Höhe auf Eisenverstrebungen ohne Netz und doppelten Boden über den Dächern Manhattans und verzehrten vergnügt ihr Pausenbrot.
Willi sah Maries faszinierten Blick. »Das ist letztes Jahr aufgenommen worden, beim Bau des Empire State Building. Ist das nicht fantastisch? Wie diese Männer da über der Stadt thronen?« Er strahlte vor Begeisterung. »Es ist das größte Gebäude der Welt geworden, das musst du sehen, Marie! Wir fahren bald mal hin, da geht’s mit einem rasend schnellen Fahrstuhl zur Aussichtsplattform hoch – ganz New York liegt dir dort zu Füßen!«
»Genau«, sagte Fritz, »und dann üben wir mit der Hochbahn und mit der Subway zu fahren.«
»Ich will Englisch lernen«, platzte es aus Marie heraus, »und arbeiten.«
»Im Coffee-Shop ist genug zu tun.«
»Ich will aber mein eigenes Geld verdienen.«
»Das findet sich, keine Sorge.«
»Ach hier, Schwesterchen, heute Morgen ist schon Post für dich angekommen.«
Willi reichte ihr einen Umschlag, den er von einem Sideboard genommen hatte. Erstaunt nahm Marie ihn entgegen. Sofort erkannte sie Rudolfs Schrift, und ihr Herz schlug schneller.
Es lag etwas Fühlbares darin. Unter den Briefmarken prangte ein großer Stempel. Sie las: Deutscher Schleuderflug Dampfer Bremen – New York. Und: mit Vorausflug nach New York.
»Das ist ja verrückt!« Maries Stimme schwankte. »Dieser Brief ist mit mir auf dem Schiff gereist!« Rudolf war gewissermaßen die ganze Zeit bei ihr gewesen!
Sie drückte den Umschlag an ihr Herz. Ihre Brüder wechselten einen vielsagenden Blick, verkniffen sich aber jeden Kommentar.
»Ich öffne ihn später«, sagte Marie. Noch eine seelische Erschütterung, und sie konnte für nichts mehr garantieren.
Sie holte nun ihre Geschenke für die Brüder aus dem Koffer und überreichte sie ihnen. Erfreut packten beide aus – Fotos von den Eltern, vom Haus, von einigen Nachbarn am Kanal, außerdem zwei Wochenendausgaben der Lokalzeitung, Tee und Kandis, Schwarzbrot, ein Stück geräucherten Schinken aus Hausschlachtung, Briefe und humoristische Grußkarten von alten Freunden sowie eine Grammofonplatte – Frau Luna mit Melodien des Operettenkomponisten Paul Lincke. Für Fritz hatte Marie außerdem die schönsten Rezepte aus Mutters Rezeptbuch abgeschrieben und für Willi jene abgegriffene Ausgabe von Schillers Gesammelten Werken mitgebracht, in der er als Halbwüchsiger heimlich auf dem Heuboden gelesen hatte.
Beide Brüder waren sichtlich ergriffen. Marie studierte liebevoll ihre Gesichter. Was vier Jahre in der Fremde doch ausmachten! Sie waren männlicher geworden, manchmal mischte sich ein amerikanischer Tonfall oder ein englisches Wort in ihre Sprache, was ihnen etwas Welterfahrenes verlieh. Natürlich erkannte sie ihre Brüder wieder, sie hatten auch nach wie vor viel Ähnlichkeit miteinander – ein ovales Gesicht, eine hohe Stirn, den akkuraten Seitenscheitel, Naturwellen, große Ohren, lange Nasen, blaue tiefliegende Augen, das breite Lächeln … Beide waren immer zu Späßen aufgelegt und mit einer Ausstrahlung gesegnet, die verkündete: Wo wir sind, ist oben! Doch bemerkte Marie, dass Willi sich eher zum Gentleman entwickelte, während Fritz mehr in die sportliche und joviale Richtung schlug. Vielleicht vertragen sie sich so gut, dachte sie, weil sie sich ergänzen.
»Manchmal vermisst man die alte Heimat schon sehr …« Fritz seufzte wehmütig.
»Das bedeutet nicht, dass wir zurückwollen«, sagte Willi und wischte sich unauffällig über die feuchten Augen. »Aber nun berichte du erst einmal …«
Beim Truthahnessen, das ihr hervorragend schmeckte, erzählte Marie Wichtiges und Unwichtiges von den Eltern und von den Fehns. Sie entspannte sich, die drei Geschwister lachten viel, und schließlich kamen sie auch auf die Lebensziele der Brüder zu sprechen. Beide planten, einmal ihr eigenes Lokal und eine Familie zu gründen. Fritz hatte bereits eine Freundin, Hildy, die allerdings erst sechzehn war. »Ein süßes Mädel, immer gut gelaunt! Du wirst sie mögen«, sagte Fritz verliebt. »Sie ist mit ihren Eltern aus der Pfalz eingewandert, sie leben im Stadtteil Williamsburg. Wir treffen uns regelmäßig im Plattdeutschen Verein zum Tanzen.«
»In der Pfalz spricht man doch kein Plattdeutsch«, bemerkte Marie erstaunt.
»Auf diese Entfernung betrachtet eint allein die deutsche Herkunft«, erklärte Willi amüsiert. »Unser Vereinslokal ist sogar eine Bayernstube.« Willi war noch ohne feste Freundin, er genoss offenbar sein Leben als Junggeselle.
»Obwohl wir den Eltern öfter kleine Summen schicken, schaffen wir es auch noch, regelmäßig etwas Geld für unsere zukünftigen Geschäfte zurückzulegen«, berichtete er stolz.
Fritz zog eine Grimasse. »Ich schätze, wenn’s so weitergeht, müssten wir im Spätherbst 1966 genug zusammenhaben.«
Sie lachten.
Willi streichelte noch einmal über Schillers Werke und stellte sie in ein Regal mit mindestens zwei Dutzend anderen Büchern. Zu Hause hatten sie nur die Bibel und das Gesangbuch gehabt. Wer in Büchern las, galt als faul. Aber Willi hatte schon als Kind heimlich gelesen.
Er sah Maries bewundernden Blick. Im Regal standen Werke von Platon, Schopenhauer und Kant.
»Ein Stück Heimat«, kommentierte er. »Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für die Philosophen.«
An so schwierige Lektüre hatte Marie sich noch nicht herangetraut. Neben Liebesromanen, die sie sich von Freundinnen auslieh, außer den Bildbänden über Amerika in der Bibliothek in Leer hatte sie kaum etwas gelesen bisher. Na ja, und jetzt auch den Ratgeber Die Gabe der gewandten Unterhaltung.
»Großartig«, erwiderte sie anerkennend, »ich finde es prima, dass du so komplizierte Sachen liest.«
»Aber ob er das auch alles versteht …«, frotzelte Fritz.
Marie kniff ein Auge zusammen und schaute Willi an, als müsse sie gegen ein Licht blinzeln. »Könntest du mit wenigen Worten erklären, was zum Beispiel dieser Kant sagt?«
Ein kleines spöttisches Lächeln umspielte Willis Mund. Er brauchte nicht lange zu überlegen. »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.«
»Aha.« Marie senkte den Kopf. Langsam wiederholte sie den Satz und versuchte dabei, dessen Bedeutung ganz zu erfassen. »Habe …Mut, dich deines … eigenen … Verstandes … zu bedienen.« Dann blickte sie hoch, setzte sich gerader hin und sah von einem Bruder zum anderen. »Das ist gut. Das gefällt mir.«
Schließlich waren sie alle drei müde vom Essen und Erzählen. Bevor Marie das erste Mal in Amerika zu Bett ging, rückte sie in ihrem Zimmer das Tischchen näher ans Kopfteil und stellte Rudolfs Foto darauf. Erst als sie unterm Federbett lag, öffnete sie den Briefumschlag. Dabei fiel etwas aus zerknittertem Seidenpapier auf die Decke – ein Ring. Es war einer von denen, die man in Wundertüten auf dem Jahrmarkt finden konnte, mit einem roten Glasstein in Herzform, eingefasst von billigem goldfarbenem Metall.
Liebste Marie!, schrieb Rudolf. Dieser Ring besteht nicht aus echtem Rubin und Gold, weil ich ab sofort jeden Pfennig spare, damit ich Dich eines Tages nach Deutschland zurückholen kann. Aber er ist ohne Anfang und ohne Ende, genau wie meine Sehnsucht nach Dir.
Tief bewegt steckte sich Marie den Ring an ihren Verlobungsfinger. Jetzt rollten doch noch einige Tränen über ihre Wangen. Sie küsste das Steinchen, kuschelte sich in Gedanken an Rudolf ein und sank in einen traumlosen Schlaf.
In den folgenden Wochen fühlte Marie sich, als wäre sie selbst eine Schleuderpost. Sie flog durch ihre Tage wie von einem Katapult abgeschossen, das amerikanische Tempo ließ sie kaum zur Besinnung kommen.
Später erinnerte sie sich nur noch schemenhaft und mit widersprüchlichen Gefühlen an ihre erste Zeit – alle Eindrücke waren durcheinandergewirbelt. Zum Beispiel die von ihrem ersten Besuch in Manhattan. Marie hatte Riesiges erwartet, Weltklasse, Superlative. Die Wolkenkratzer sollten es auch wert sein, dass sie von so weit hergekommen war, dass für sie ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war, dass sie für sie ihren Liebsten in der Heimat zurückgelassen hatte. Sie sollten sie gefälligst überwältigen! Bewundernd betrachtete sie die Bauwerke, die Menschen aus aller Herren Länder und die vor Energie beinahe berstenden Orte und Situationen – dennoch war sie irgendwann übersättigt. Was ihr im Gedächnis blieb, waren eigentlich nur Momentaufnahmen. Sie erinnerte sich an eine Negerin mit üppigem Fuchspelzkragen, die über den Broadway spazierte, an ihr eigenes Erstaunen über deren helle Handinnenflächen. An die enge Straßenschlucht, in der sie vergeblich etwas Blau zu erspähen versuchte, zwischen den Häuserblocks aber nur himmelhohe, behängte Wäscheleinen sah. An die Jazzband, die zur Eröffnung eines Geschäftes spielte und Passanten, die dazu spontan auf dem Bürgersteig steppten. Sie erinnerte sich an die ohrenbetäubenden Bauarbeiten überall, an die alten fünfstöckigen Häuser mit gusseisernen Balkonen, die abgerissen wurden, um neuen Wolkenkratzern Platz zu machen, an die orangefarben glasierten, in Reihen aufgehängten Enten in einem Schaufenster in China Town, an die vornehme Lady, die im Damensitz durch den Central Park ritt und den Mann, der als Litfasssäule umherlief, um seine Arbeitskraft anzupreisen. Sie dachte an die Hochbahn, die sich auf Stützpfeilern wie eine schwarze Riesenspinne über mehrspurige Straßen wölbte. Und ganz besonders an die kräftigen Sonnenstrahlen, die gebündelt durch die halbrunden Oberlichter des Grand Central Terminal schräg in die Eingangshalle fielen – das war ein wirklich erhebender Anblick gewesen! Diese Halle im größten Bahnhof der Welt schien Marie erhabener als jede Kathedrale, zumindest soweit sie sich dank Abbildungen in Büchern mit Kathedralen auskannte. Das war schon etwas. Aber sie suchte noch ihren Platz in dieser neuen großen Welt.
Je länger die Buten-Ostfreesen, also Ostfriesen außerhalb Ostfrieslands, in Amerika lebten, desto mehr verklärten sie die Heimat. Das bemerkte Marie schon beim ersten Treffen des Plattdeutschen Vereins, zu dem ihre Brüder sie mitnahmen. Einige Mitglieder waren lange vor dem großen Weltkrieg ausgewandert, und sie sprachen über Deutschland als regiere dort immer noch Kaiser Wilhelm II.
Marie wurde herzlich aufgenommen. Sie fand es schön, endlich wieder im Chor deutsche Volks- und Seemannslieder singen zu können. Außerdem gab man sich hier Tipps für alle Lebensbereiche, von Behördengängen bis zu Einkäufen, und hatte einfach Spaß miteinander. Alle schwärmten von deutscher Gemütlichkeit, »richtigem« Brot, Schweinebraten oder Lakritze. Dort lernte Marie auch endlich die Freundin ihres Bruders kennen.
»Das ist sie!«
Stolz und etwas atemlos stellte Fritz Marie seine Hildy vor. Er hielt sie an der Hand. Das zierliche stupsnäsige Mädchen mit Sommersprossen auf der Nase und kinnlangen, verwuschelten brünetten Locken strahlte Marie an. Als hätte sie eine Sonne verschluckt, dachte Marie spontan und schloss die Auserwählte ihres Bruders gleich in ihr Herz. Die beiden waren ein ideales Paar, das musste jeder, der sie sah, zugeben. Sogar Hildys Eltern, die sich wohl eigentlich eine bessere Partie für ihre Tochter erträumt hatten, lächelten. Sie waren freundliche Leute mittleren Alters, die in Williamsburg einen kleinen Delikatessenladen betrieben. Sie kamen auf Marie zu.
»Wir hoffen, dass der tüchtige Fritz seinen Weg machen wird«, sagte die Mutter mit einem liebenswürdigen Lächeln, aber mit so starkem pfälzischem Akzent, dass Marie noch einmal nachfragen musste.
»Wie bitte?«
Hildys Vater wiederholte mit Nachdruck, was seine Frau gesagt hatte, Marie verstand jedoch noch immer kein Wort. Nur dass es um Fritz ging. Sie lächelte freundlich zurück und nickte zustimmend. Hildy hatte sie offenbar durchschaut. Verschmitzt übersetzte sie, zwar auch mit Pfälzer Färbung, doch verständlich. Hildy strahlte, als sie Fritz anschaute, und er bekam ganz rote Ohren.
Im Verein der Buten-Ostfreesen lernte Marie auch eine Ostfriesin kennen, Lore aus Emden. Sie arbeitete in Brooklyn in einer Fabrik für Tiefkühlkost.
»Ich suche bezahlte Arbeit«, sagte Marie, als Willi außer Hörweite war. »Meinst du, es gäbe da mal welche für mich?«
»Könnte schon sein.« Lore versprach, die Augen wegen einer Stelle bei Frozen Food offen zu halten.
Marie wollte ihren Brüdern nicht auf der Tasche liegen, und sie wollte nicht um jeden Dollar Bargeld bitten müssen. Sie setzte sich in ein gemachtes Nest, das war ihr klar. Und auch wenn die Brüder es nie direkt aussprachen, hielten sie ihr doch immer wieder mit Erzählungen über die Entbehrungen und Mühen ihrer Anfangszeit vor Augen, um wie vieles leichter sie es heute im Vergleich mit ihnen hatte.
Einstweilen machte sie sich nützlich, wo es ging. Ungläubig hatte Marie gleich in den ersten Tagen beobachtet, wie Fritz im Coffee-Shop die Essensreste von einem Teller schob, den Rand abwischte und gleich einen Schlag Suppe für den nächsten Gast aufgab.
»Also, wisst ihr«, sagte sie, »so geht das nicht. Ihr braucht ein vernünftiges Abwaschsystem.«
Innerhalb kurzer Zeit hatte sie einige hauswirtschaftliche Verbesserungen eingeführt und nebenbei die Wohnung mit Kissen, Gardinen, Tischdecken, Vorhängen und Topfblumen gemütlicher gemacht. Sogar auf die Stehtische des Coffee-Shops stellte sie kleine Vasen mit Blümchen. Ganz selbstverständlich übernahm Marie die Hausarbeit und Wäsche für ihre Brüder, ganz selbstverständlich ließen die sie gewähren.
Auch nachts hörte Marie den Hafen. Rund um die Uhr löschten Schauerleute an den Piers die Ladung säckeweise von Schiffen aus aller Welt. Aber tagsüber brummte das Leben im Red Hook richtig. Hafen- und Fabrikarbeiter machten morgens, vormittags, mittags und am späten Nachmittag Pause am Coffee-Shop. Amerikaner, Deutsche, Iren, Italiener, Schweden, Dänen, Norweger löffelten Eintopf und schlürften Kaffee, Tee oder Coca-Cola. Maries Brüder hatten eine lockere Art, mit der Kundschaft umzugehen und waren beliebt, nicht nur, weil sie gute Laune verbreiteten. Im Radio lief den ganzen Tag über Musik. Amerikanische Hits von Cole Porter, Louis Armstrong, Bing Crosby, Irving Berlin oder Gershwin. Je öfter Marie sie hörte, desto besser gefielen ihr die Stücke.
»Erbsensuppe ist unsere Spezialität«, erklärte Fritz stolz. Er hatte das Kochen übernommen.
Bevor Fritz mit Willi nach der harten Anfangszeit in einer Zuckerrübenfabrik den eigenen Coffee-Shop eröffnete, hatte er in verschiedenen Straßenküchen und sogenannten Luncheonettes Erbsensuppe bestellt und tatsächlich jede Erbse einzeln gezählt.
»Bei Wiemkes’ gibt’s immer eine Handvoll Erbsen mehr in der Suppe als anderswo – wir bieten richtig gute Hausmannskost.«
Willi besorgte die Waren. Er war für den Einkauf zuständig und fuhr viel mit dem Lieferwagen umher. Gelegentlich lieferten sie auch auf Bestellung ganze Spanferkel mit Sauerkraut für Partys aus.
Beim Bedienen wechselten die Brüder sich ab. Nun half Marie zwar mit, der Getränkeservice blieb aber bei Fritz und Willi, was ihr seltsam vorkam. Glaubten die Burschen tatsächlich, sie würde den Alkohol nicht riechen? Sie hatte doch schon an Bord, wo Alkohol erlaubt war, beobachtet, dass jeder Amerikaner heimlich einen Flachmann bei sich trug. Auch die grell geschminkten Frauen, die sich gelegentlich im Coffee-Shop aufwärmten, waren ihr längst aufgefallen.
Jeden Abend bereitete Fritz einen Riesentopf Suppe für das Tagesgericht vor.
»Seit wann kannst du eigentlich kochen?«, fragte Marie.
»Nachdem wir auf dem Segelschiff angeheuert hatten, bin ich dem Smutje zur Hand gegangen.« Fritz grinste. »Da hab ich gut aufgepasst.«
Im Februar tauchte Lore unerwartet bei ihnen auf. Sie schäkerte erst eine Weile mit Willi.
»Ist Marie da?«, fragte sie schließlich.
»Ja, ich glaube, sie bügelt gerade.« Er rief durch die Küche nach oben: »Marie, Besuch für dich!«
Verwundert eilte Marie herbei. Wally schickte zwar ab und zu eine Postkarte aus Manhattan und kündigte an, dass sie bald einmal käme, doch bislang hatte sie in Brooklyn noch nie Besuch bekommen. Nicht einmal von den anderen Geschwistern, die doch auch in Amerika lebten. Marie korrigierte sich in Gedanken, denn sie wollte nicht ungerecht sein – sie lebten sehr weit entfernt in dem riesigen Land.
»Moin, Lore! Das freut mich aber!« Sie stellte sich neben die Ostfriesin an einen Stehtisch.
Lore war eine handfeste junge Frau Mitte zwanzig mit vorstehenden Zähnen, einer langen Nase und beeindruckend großen Brüsten.
»Bei uns in der Fabrik wird ein Job frei. Kontrolle am Band. Ein echt cooler Job.« Sie lachte herzhaft über ihren eigenen Scherz.
»Oh!« Marie machte vor Aufregung einen kleinen Hüpfer. »Und du meinst, sie würden mich …?« Ihr war klar, dass das bei einer Arbeitslosigkeit von fünfundzwanzig Prozent als echter Glückstreffer gelten durfte. »Ich hab aber noch nie in einer Fabrik gearbeitet …«
»Deutsche gelten als fleißig«, sagte Lore überzeugt, »die nehmen sie gern. Komm einfach Montagmorgen. Und zieh dich warm an, am besten noch ’ne lange Hose von deinen Brüdern unterm Rock. Ich stell dich dann Mr. Smith vor.«
Kaum war Lore verschwunden, da schnauzte Willi seine Schwester an. »Ich bin dagegen! Du hast doch im Coffee-Shop und mit dem Haushalt genug zu tun.« Wichtig schob er seine Daumen in die kleinen Taschen seiner dunklen Weste.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich mein eigenes Geld verdienen will«, erwiderte Marie. »Und ich helfe euch ja auch trotzdem weiter.«
»Ich trage die Verantwortung für dich.«
»Ach, und wie war das mit: ›Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen‹?«, fragte Marie entrüstet. »Gilt das etwa für mich nicht?«
Willi zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. Er überlegte, wie er darauf antworten sollte.
»Ich hab auch für sie gebürgt«, wandte Fritz ein. Er sah die Angelegenheit lockerer. »Lass es sie einfach versuchen«, meinte er grinsend. »Nach ein paar Tagen in der Frosthöhle hat sie sowieso die Nase voll.«
Die Frozen-Food-Fabrik lag in Brooklyn, nur einige Blocks von Wiemkes’ Coffee-Shop entfernt. Die Arbeit begann um 6.30 Uhr. Marie ging zu Fuß im Dunkeln dorthin, sie stand Montagmorgen schon kurz nach sechs vor dem Tor. Um die Halle herum stank es nach Fisch und Gemüseabfällen. Übelkeit stieg in ihr hoch. Hoffentlich halte ich das aus, dachte Marie beunruhigt.
Endlich bog Lore auf dem Fahrrad um die Ecke. Sie brachte sie ins Büro zu Mr. Smith. Eine Büroseite war verglast, man konnte von hier aus hinunter in die hellgrün gekachelte Arbeitshalle mit den Fließbändern sehen. Der Aufseher, ein älterer Mann mit Ärmelschonern und Halbglatze, stellte Marie einige Fragen, die Lore für sie beantwortete. Er sah Marie scharf in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand, aber ihr Herz klopfte vor Aufregung. Hoffentlich machte es nichts, dass sie erst wenig Englisch sprach und keine Fabrikerfahrungen vorweisen konnte. Nach kurzer Überlegung brummte er »Okay«, reichte ihr die Hand, und sie war eingestellt.
Eine mittelalte Frau, die sich als Sally vorstellte, erledigte den Papierkram. Ihre Haare sahen aus, als wären sie geschnitten worden, während sie einen Soldatenhelm trug, und sie wirkte, als könne nichts sie erschüttern. Nach einem Blick über den Rand ihrer Nickelbrille schätzte sie Maries Größe und reichte ihr aus einem Schrank die Arbeitskleidung – einen scheußlichen grünen Kittel und eine grüne Haube.
In der Halle stank es zum Glück nicht. Hier bewegten sich die Temperaturen, zumindest gefühlt, um den Gefrierpunkt. Die Arbeiterinnen füllten frisch angelandeten und sogleich gefrosteten Fisch und Gemüse ab. Sie mussten alle die hässlichen grünen Kittel und Hauben tragen. Die Schichtleiterin zeigte Marie, was sie zu tun hatte. Ihre Aufgabe bestand darin, die ordnungsgemäße Verpackung von Kartons mit Spinat oder Schellfisch zu kontrollieren. Obwohl sie Handschuhe anziehen durfte, erstarb nach einer Weile jedes Gefühl in den Fingerspitzen, die ihr hinterher, als sie wieder auftauten, wehtaten.
Ihre Arbeit war stumpfsinnig, dennoch anstrengend. Sie musste sich dazu zwingen. Unterhaltungen waren unerwünscht. Das Kühemelken erschien Marie nachträglich als reines Vergnügen, doch sie wollte ihren Brüdern nicht den Gefallen tun und aufgeben.
Im Umkleideraum redeten alle Frauen durcheinander. Dort und in den Pausen erfuhr Marie, dass tiefgekühlte Lebensmittel seit etwa zwei Jahren die amerikanischen Supermärkte eroberten. In den Arbeitspausen ging Marie mit Lore und anderen Frauen aus ihrer Schicht nach draußen in die Raucherecke, obwohl sie selbst nicht rauchte. Während der Gespräche dort schnappte sie auf, dass der Fabrikbesitzer, Mr. Walter Donague, am Schwarzen Freitag 1929 viel Geld verloren hatte und nun wohl die Reste seines Vermögen auf die Zukunft von Frozen Food setzte. Wie es aussah, hatte er Erfolg.
Nach der ersten Arbeitswoche wachte Marie tief in der Nacht auf. Sie fühlte sich deprimiert und verzagt. Der Mond warf helle Quadrate durch das Fenster auf den Fußboden. Wie sollte sie nur die Zeit durchstehen, bis Rudolf endlich kam?
Unversehens schossen ihr Tränen in die Augen, und dieses Mal erlaubte Marie sich zu weinen. Es musste einfach raus, sie konnte nicht immer nur die Zähne zusammenbeißen. Als sie nach einer Weile in ihrer Kommode nach einem Taschentuch kramte, fiel ihr der Rahmen mit dem Spruch in die Hände, den der Pfarrer ihr mitgegeben hatte. Zum ersten Mal las sie ihn aufmerksam, und er schien ihr wie die Antwort auf ihre Frage.
Habe ich Dir nicht befohlen:
Sei mutig und stark?
Fürchte Dich also nicht, und hab keine Angst:
Denn der Herr, dein Gott,
ist mit Dir bei allem, was Du unternimmst.
(Josua 1,9)
Augenblicklich fühlte Marie sich getröstet. Sie sagte sich, dass sie den Fabrikjob schließlich nicht immer machen würde. Ihre Brüder hatten in einer heißen und klebrigen Zuckerrübenfabrik begonnen, so war das eben in Amerika. Nun besaßen sie schon ihren eigenen kleinen Coffee-Shop.
Mit dieser Einstellung ertrug Marie die Arbeit fortan besser. Immerhin verdiente sie ihr eigenes Geld. Davon leistete sie sich dreimal in der Woche eine Abendschule im katholischen Gemeindehaus in Brooklyn, um Englisch zu lernen. Das fiel ihr zum Glück leicht. Sie malte sich aus, dass sie später, wenn sie erst mit Rudolf verheiratet und er Schulleiter wäre, den ostfriesischen Kindern Englisch beibringen könnte. Das würde ihr Spaß machen.
Spätnachmittags, zwischen Fließbandarbeit und Sprachkurs, half Marie im Coffee-Shop, wie sie es versprochen hatte. Erst nachts kam sie dazu zu schreiben – brave Tochterbriefe an die Eltern, lustige Briefe an Freundinnen, vor allem an Soffie, bunte Postkarten an Tante Frieda und … Briefe an Rudolf. Ihm vertraute sie an, was sie wirklich beschäftigte.
Mein Liebster!, schrieb sie. Deinen Ring trage ich jetzt an einer Kette um den Hals, weil er beim Abpacken am Fließband kaputtgehen könnte. Ich spüre ihn auf meiner Haut und denke an Dich.
Es gibt so vieles, was ich mit Dir gemeinsam sehen und besprechen möchte. Ich lerne Englisch wie eine Verrückte. Mit guten Sprachkenntnissen bekomme ich sicher eine besser bezahlte Arbeit, und dann werde ich mich auch nicht mehr so fremd hier fühlen. Letzten Sonntag war ich mit meinen Brüdern auf dem höchsten Gebäude der Welt, dem Empire State Building. Die prächtige moderne Architektur und der Ausblick sind unbeschreiblich! Ist der innige Herzensgruß, den ich Dir von dort aus geschickt habe, angekommen? Ich wünsche mir so, eines Tages mit Dir da oben zu stehen.
Im Central Park leben Zehntausende verarmter Menschen in einer Kleinstadt aus Bretterbuden, sie hausen elender als Jantje Mö. Überall gibt es solche Obdachlosensiedlungen. Man nennt sie Hoovervilles, nach dem Präsidenten Hoover. Viele Amerikaner geben ihm die Schuld an der Wirtschaftskrise und der Depression. Aber jetzt hat Roosevelt im Wahlkampf den new deal versprochen, eine Umverteilung. Die Reichen sollen mehr Steuern bezahlen, und von dem Geld sollen Wohnungen für die Menschen aus den Hoovervilles gebaut werden. Es sind auch hier keine guten Zeiten. Trotzdem scheint in New York jeder davon überzeugt zu sein, dass es für ihn persönlich bald aufwärtsgeht.
Sind die Kanäle und die überschwemmten Wiesen auf den Fehns diesen Winter wieder zugefroren? Erinnerst Du Dich an unser Mondscheinschöfeln? Dein letztes Gedicht war wunderschön. Ich kann es auswendig. Du fehlst mir so! In sehnsüchtiger Liebe, Marie.
Manchmal schlief sie vor Erschöpfung beim Schreiben ein, manchmal tropften Tränen aufs Papier und verwischten einige Buchstaben ihrer schwungvollen Tintenschrift. Die Briefe an Rudolf ersetzten Marie ein Tagebuch. Sie sandte sie postlagernd nach Leer, weil sonst das ganze Fehn von ihrer Korrespondenz erfahren hätte – dank Postbote de Buhr, der sich für jeden Schnaps, den er an den Haustüren mit auf den Weg bekam, zu revanchieren pflegte, indem er Andeutungen über besondere Briefe in seinem Bezirk machte. Um Porto zu sparen, und da Rudolf nur einmal im Monat nach Leer kam, sammelte Marie ihre Aufzeichnungen und schickte sie, wie er seine Briefe, alle vier Wochen.
Eines Nachts wachte Marie vom Sirenengeheul der Wasserschutzpolizei auf. Danach konnte sie nicht wieder einschlafen. Schließlich stand sie auf und zog ihren dicken Wintermantel über ihr langes Nachthemd, um eine Runde am Pier spazieren zu gehen. Eine frische Brise kam von See, es roch kaum nach der Kaffeerösterei oder der Hefefabrik wie sonst häufig.
Marie fröstelte. Sie fühlte sich immer noch fremd und unbedeutend in ihrer neuen Umgebung, nicht frei, sondern eingesperrt. Ein gefährlicher Stadtdschungel umgab sie. Das hier soll nicht meine neue Heimat werden, dachte sie, bloß das nicht. Es ist nur ein Übergang. Aber wohin? Zu was?
Marie schaute auf Manhattan und die Freiheitsstatue. Die Göttin der Freiheit würde Rudolf als Erstes erblicken, wenn er dereinst käme. Das fand Marie schön.
Rudolf … Sein letzter Brief war seit Tagen überfällig. Sicher lag es nur an der Post. Doch es reichte, um Marie unglücklich zu machen. Was ist, wenn er nicht kommt?, grübelte sie. Wenn er sich in eine andere verliebt? Oder wenn jemand anders Theo Onkens Nachfolger wird? Oder wenn er das Geld für die Überfahrt nicht zusammensparen kann? Was ist, wenn ich für den Rest meines Lebens in der Fabrik tiefgefrorenen Spinat kontrollieren muss? Ihre Gedankenspirale bohrte sich immer tiefer.
Wer bin ich denn eigentlich? In Südrhauderfehn war ich die Tochter von Heinrich und Tabea Wiemkes, hier bin ich die kleine Schwester von Willi und Fritz. Irgendwann werde ich hoffentlich einmal die Ehefrau von Rudolf sein. Aber ich allein für mich, nur ich … Wer bin ich?
Immer bestimmten die anderen, wer sie war, wer sie zu sein hatte. War das nicht verkehrt? Sollte es nicht umgekehrt sein? Dass sie bestimmte, wer sie war, und es der Welt mitteilte? Marie blieb stehen. Ach, die Welt interessierte sich doch überhaupt nicht für sie. Mit der feinen Gischt atmete sie das Salz des Meeres ein, es schmeckte bitter. Vielleicht werde ich nie wieder in Rudolfs Armen liegen, nie wieder die grünen Weiden Ostfrieslands sehen oder mit anderen Fehntjern gemütlich beim Tee zusammensitzen …
Mensch, Marie, sei kein Jammerlappen!, mahnte sie sich im nächsten Augenblick. Deine Eltern hätten nie das Moor bezwungen, wenn sie nicht hart gegen sich selbst gewesen wären. Doch das Heimweh rollte über sie hinweg wie eine Woge, sie konnte kaum atmen.
Plötzlich hörte Marie ein Glucksen, das sie ablenkte. Sie sah, wie ein roter Ball aus den Tiefen aufstieg. Noch ein Ball schoss an die Wasseroberfläche. Marie wunderte sich, erstaunt ging sie bis ans Ende des Piers. Dort ploppten nun nach und nach wohl an die zwanzig solcher Bälle hoch, vielleicht fünfzig Meter von ihr entfernt.
Aus dem Dunkel vor der kleinen Insel Governors Island in der oberen New Yorker Bucht brummte ein unbeleuchtetes Motorboot näher. Ein Mann stand am Steuer, zwei andere begannen, mit Stangen die roten Bälle aus dem Wasser zu fischen. Marie erkannte, dass an jedem Ball eine Kiste hing. Der Mann am Steuer leuchtete mit einem Scheinwerfer die Oberfläche ab, und plötzlich blendete das Licht Marie. Ein zweites Motorboot, das ihr vorher nicht aufgefallen war, setzte sich in Bewegung, es machte am anderen Ende des Piers zur Straße hin fest. Zwei Männer sprangen an Land. Sie warteten dort auf Marie, für die es keinen anderen Weg zurück gab.
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, eine eiskalte Faust umklammerte ihren Magen. Gerade erst in Amerika und schon dahingerafft … Marie erwog kurz, ins Wasser zu springen und schwimmend die Flucht zu ergreifen, doch dann würden die Männer des anderen Bootes sie herausziehen.
Sie atmete tief durch, konzentrierte sich. Ruhig, Marie. Möglichst gelassen schritt sie zurück. Tatsächlich versperrten die Männer ihr den Weg. Ein schlanker Kerl mit öligen schwarzen Haaren und einer Narbe auf der Wange fragte sie etwas, das sie nicht verstand.
Marie schaute den Mann mit ihrem ernsten, verständigen Blick ruhig an. Jungs, lasst doch den Unsinn. Wie früher in der Schule. Es schien zu wirken. Die Männer waren verunsichert. Dann zeigte Marie auf den Coffee-Shop, sagte ihren Namen und die Namen ihrer Brüder.
Der Narbenmann grinste und trat zur Seite. Mit amerikanischem Akzent rief er ihr auf Deutsch hinterher: »Auf Wiedersehen!«
Erst nach ihrer Schicht bei Frozen Food am nächsten Tag erzählte Marie den Brüdern von ihrem Erlebnis.
Heftig schob Willi seinen Teller in die Tischmitte. »Marie! Du kannst hier nicht einfach nachts umherspazieren, wir sind nicht in Ostfriesland!«
»Ja, ja, hab verstanden.«
»Nicht weit von hier hausen Obdachlose. Die haben nichts zu verlieren.«
Marie schaute ihren Bruder skeptisch an. Der Kerl mit der Narbe hatte keinen obdachlosen Eindruck gemacht. Dahinter steckte etwas anderes.
»Nun sag’s ihr schon«, verlangte Fritz.
»Ja, sag’s mir!«, forderte Marie.
Willi gab sich geschlagen. Er hob beide Hände. »Na gut, ist wohl besser, du weißt Bescheid.« Er erklärte ihr nun, wie alles zusammenhing. »Du weißt, dass Alkohol in den Vereinigten Staaten verboten ist, Marie. Deshalb wird er eben geschmuggelt, seit es die Prohibition gibt, auch hier über die New York Bay und den East River.« Er lehnte sich zurück und grinste. »Die Jungs sind clever. Sobald sie fürchten, erwischt zu werden, werfen sie alle Kisten über Bord. Aber sie präparieren die Dinger vorher. Oben befestigen sie einen luftgefüllten Ball an jeder Kiste, und unten hängen sie einen Sack mit Salz dran.«
»Salz? Wieso das?« Verständnislos runzelte Marie die Stirn.
»Es ist schwer und zieht die Flaschen erst mal nach unten.« Willis Miene verriet, dass er den Trick ziemlich genial fand. »Wenn die Polizei danach sucht, ist die heiße Ware verschwunden. Aber nach einer Weile löst sich das Salz im Wasser auf, und die Luftbälle ziehen die Kisten wieder hoch an die Oberfläche.«
Marie schwankte zwischen gesetzestreuer Abscheu und Anerkennung. Sie überlegte eine Weile. Ihre Brüder kannten die Alkoholschmuggler also näher.
Fritz kam ihr mit der Antwort zuvor, bevor sie ihre Frage formulieren konnte. »Ja, das ist die ›Firma‹, die bei uns im Haus Ware zwischenlagert. Offiziell wissen wir natürlich nichts davon.«
»Aber wir haben eine Abmachung«, fuhr Willi fort. »Wir sehen, hören und sagen nichts. Dafür erhalten wir ein Kontingent an sauberem Alkohol, den wir als ›Plus‹ im Kaffee oder Tee ausschenken. Das ist der deal.«
»Das ist doch illegal!« Maries Stimme klang entrüstet.
»Du bist süß …«, erwiderte Willi.
»Und sicher ist es auch gefährlich!«
»… aber noch sehr naiv. So läuft das hier, kleine Schwester.«
Marie errötete vor Ärger. »Und wenn der Polizist, der hier Streife geht, etwas mitkriegt?«
»Pat O’Brian?« Ihre Brüder prusteten gleichzeitig los.
»Das ist ein feiner Kerl«, antwortete Willi schließlich. »Ire und berechenbar korrupt. Er hat fünf Kinder, die könnte er von seinem mageren Polizistenlohn gar nicht durchbringen. Um den mach dir mal keine Sorgen!«
»Aber kassier bloß nie bei ihm ab!«, mahnte Fritz. »Er kommt einmal in der Woche und darf dann umsonst bei uns essen und trinken, was er will. Extra für ihn koch ich sogar ab und zu Irish Stew.«
»Und wenn der Kerl mit der Narbe auftaucht«, sagte Willi, nun wieder ernst, »sei freundlich und lass ihn zu mir.«
Marie war grundsätzlich immer freundlich. Nach einem halben Jahr sprach sie fließend Englisch und konnte in sieben Sprachen »Guten Tag«, »Herzlich Willkommen«, »Wie geht es dir?«, »Was möchtest du?« und »Tschüss, bis zum nächsten Mal« sagen. Sie hatte für jeden Gast ein nettes Wort, fragte ihn, ohne indiskret zu werden, nach der Arbeit, woher er kam oder wohin er wollte. Sie übte ihre Lektionen aus dem Lehrbuch für gewandte Unterhaltung an Männern, die Gespenstern glichen, wenn sie von der Schicht kamen – und die ein munteres Lied pfiffen, wenn sie vom Coffee-Shop nach Hause gingen.
Nach einiger Zeit dachte Marie nicht mehr an die Mustersätze aus dem Ratgeber, sondern verließ sich auf ihr natürliches Interesse und Gespür für Menschen. Da wusste sie auch längst, wer von den Stammgästen Glasbläser war oder Waschbecken fertigte, wer in der Eisengießerei am Heizofen stand, wer Klinker brannte, in der Glyzerinfabrik schuftete oder Kakaoladungen löschte. Sie wusste auch, dass viele ursprünglich etwas ganz anderes gemacht hatten.
Wenn Bettler in den Abfalltonnen nach Essbarem wühlten, verscheuchten ihre Brüder sie. Marie aber steckte ihnen diskret verpackte Reste zu. So lernte sie Trudie kennen, eine fünfzehnjährige unterernährte Obdachlose, die mit ihren Eltern auf der Suche nach Arbeit im Hooverville von Red Hook gestrandet war und Marie an eine räudige junge Katze erinnerte.
»Ich will dafür arbeiten, Miss!«
»Was kannst du denn?«
»Alles, was man im Leben brauchen tut«, behauptete Trudie und klemmte sich entschlossen ihr struppiges braunes Haar hinter die Segelohren. »Schrubben, putzen, waschen … Stellen Sie mir ’ne Aufgabe!«
Trudie hatte ein herzförmiges Gesicht, Glupschaugen und eine Himmelfahrtsnase. Sie musste großen Hunger haben, denn sie schaute schon während der Unterhaltung in das Päckchen und griff etwas heraus.
»Wir sind früher mit dem Hausboot auf dem Erie-Kanal gefahren und haben Getreide gebracht«, erzählte sie, während sie gierig ein Hühnerbein abnagte. »Mein Dad sagt, früher lagen hier über dreihundert Hausboote … Und alle hatten ihr Auskommen.«
»Kannst du Geschirr abwaschen?«
»Na klar!«
»Gut, dann fang an.«
Marie kam auf die Idee, Trudie regelmäßig als Küchenhilfe für den Abwasch zu beschäftigen. Das verschaffte ihr Entlastung. Glücklicherweise hatten ihre Brüder keine Einwände. Trudie erwies sich als einfältig, aber zuverlässig, willig und fleißig. Wenn sie aufgeregt war, wurde ihre Stimme piepsig. Ihre unfreiwillig komischen Kommentare trugen zur allgemeinen Belustigung bei, sie verübelte es den anderen jedoch nie, wenn die über sie lachten, sondern nahm es gutmütig hin. Und über Süßigkeiten konnte sie sich freuen wie ein Kind.
In der Union Street in Red Hook gab es einen Candy Store, in dem Marie ab und zu für ein paar Cent Zitronendrops und Sahnekaramellbonbons, mal eine Zeitung oder Zeitschrift und Chesterfield-Zigaretten für ihre Brüder kaufte. Überall in der Stadt, das lernte sie schnell, nutzten die Leute solche Lädchen in der Nachbarschaft als Nachrichtenzentrale. Man konnte Botschaften für andere hinterlassen und das Telefon benutzen. Wally rief hier ein paarmal zu verabredeten Zeiten an. Sie beschwerte sich, dass Marie »am Ende der Welt« wohnte. Ich hätte dich längst mal besucht, aber man kommt nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln in eure Ecke von Brooklyn, hatte sie sich bei ihrem letzten Telefonat beschwert. Wann bist du denn mal in der City?
Marie besuchte so gut wie nie Midtown Manhattan. Sie hielt es nie lange dort aus, das quirlige Zentrum machte sie unruhig und müde zugleich. Dieses ständige Vibrieren unter ihren Füßen missfiel ihr, die zischenden Dampfstöße aus den U-Bahn-Schächten erschreckten sie jedes Mal zu Tode. Sie kam nur selten dorthin, bestimmt kannte sie die schönen Seiten noch nicht, das vermutete sie jedenfalls. Ein Ausflug ging zudem immer ins Geld, selbst wenn man nichts kaufte. Im ersten halben Jahr traute Marie sich nur in Begleitung ihrer Brüdern nach Manhattan, weil sie Angst hatte, sich in diesem steinernen Dschungel zu verirren.
Wally polierte jetzt Hotelgästen in Midtown die Nägel und besuchte Kurse für pflegende und dekorative Kosmetik. Marie hatte sie einmal in ihrer ersten Unterkunft besucht, einem von acht fensterlosen Kellerzimmern im Lower East End, die überwiegend an italienische Einwanderer vermietet waren. Wally hatte es nicht lange dort ausgehalten. Es folgten drei Monate in einer Pension, in der hauptsächlich ledige weibliche Büroangestellte wohnten, die frisch vom Lande aus dem Mittleren Westen gekommen waren.
»Ich bin übrigens gerade wieder umgezogen«, verkündete Wally, als Marie wieder einmal am Telefon mit ihr sprach. Mit den wenigen Sachen, die sie besaß, brauchte sie dafür nicht länger als andere Leute für einen Hotelwechsel. »In Mrs. Brownings Pension mussten wir immer bis Mitternacht zurück sein, Punkt zwölf wurde abgeschlossen.« Wally lachte. »Jetzt bestimme ich meine Schlafenszeiten selbst. Mein neues Apartment ist zwar winzig, aber dort ist Herrenbesuch nicht verboten.« Sie gab Marie ihre neue Anschrift durch.
»Ist das nicht wahnsinnig teuer?«
»Das bin ich auch.«
»Wally!« Ließ sie sich etwa aushalten?
»Ach, hab dich nicht so. Er ist ganz goldig, er hat Geld, eine Ehefrau und nur zweimal in der Woche Zeit. Was will man mehr?«
Marie konnte nicht nachvollziehen, weshalb Wally alles außer der wahren Liebe suchte. Weshalb Unabhängigkeit für sie das Höchste im Leben bedeutete.
»Na, auf jeden Fall ist New York für dich die einzig richtige Stadt, Wally!«
Marie mochte die zielstrebige Berlinerin trotz allem, und irgendwie bewunderte sie auch deren Mut. Sie begriff allerdings nicht so recht, weshalb Wally etwas an ihr lag. Im Vergleich zu ihr war sie doch furchtbar langweilig. Doch dann vertraute Wally ihr etwas an.
»Marie, du bist der einzige Mensch auf diesem Kontinent, von dem ich sicher weiß, dass er mir helfen würde, wenn’s mir kotzeelend ginge.«
Marie merkte, wie ihr ganz warm ums Herz wurde.
»Was macht dein Käsekuchen?«, wechselte Wally schnell das Thema.
»Ach herrje, den hab ich glatt vergessen!«, rief Marie. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Die Erinnerung an das unrühmliche Ende ihres letzten Backwerks verursachte Marie immer noch Unbehagen. Aber eigentlich konnte ja der Kuchen nichts dafür. »Ich sollte wirklich mal wieder einen backen. Ja, wenn ich die Zeit dafür finde, mache ich das.«
»Dann komm ich!«
»Versprochen? Ich hol dich mit Fritz’ Fahrrad vom Bahnhof ab, du kannst vorne auf der Stange sitzen.«
Wally lachte. »Bitte keine Drohungen!«
Die Arbeitsbedingungen bei Frozen Food waren nicht besser und nicht schlechter als anderswo. Immerhin hatte der alte Donague keine Lohnkürzungen angekündigt wie viele andere Fabrikbesitzer. Manchmal kamen Leute von der Gewerkschaft, darunter auch Lores Bruder Otto, und heizten die Stimmung auf. Sie sagten, nur wenn alle Arbeiter zusammenhielten, könnten sie etwas erreichen. Deshalb sollten auch diejenigen mitstreiken, denen keine Lohnkürzungen drohten.
Marie freundete sich weiter mit ihrer Arbeitskollegin Lore an, und Lore interessierte sich für Willi – was zwar nicht auf die erhoffte Gegenliebe stieß, aber bei ihren Besuchen im Coffee-Shop doch immer Stoff für ein launiges Geplänkel bot.
»Liebst du mich noch, Willi?«, neckte sie ihn und reckte ihren Busen noch mehr vor als sonst.
»Nein, Loreley, man weiß ja, dass du für liebeskranke Männer der sichere Untergang bist.« Er grinste. »Aber ich geb dir einen aus. Was hättest du denn gern?«
»Eine Coca-Cola plus, bitte.«
»Was? Eine Frau, die Alkohol trinkt?«, flüsterte er scheinbar entsetzt.
»Die Zeiten ändern sich«, erwiderte Lore gespielt kühl. »Das ist Amerika!«
Alle lachten. Willi war ihr dankbar, dass sie seine kleine Schwester unter ihre Fittiche nahm.
Mit Lore begann Marie Brooklyn zu erkunden. Dieser New Yorker Stadtbezirk allein hatte schon zweieinhalb Millionen Einwohner und war früher eine eigenständige Stadt gewesen. Es gab auch schöne Ecken wie die Brooklyn Heights mit den hübschen Wohnhäusern nahe der Brooklyn Bridge. Im Zentrum rund um Flatbush Avenue, Ecke DeKalb Avenue und Fulton Street brauste der Autoverkehr, und Marie lernte schnell, dass man sich vor der elektrischen Straßenbahn in Acht nehmen musste. Aber in den Seitenstraßen zogen noch Pferde mit klackernden Hufen oder auch Menschen die Karren fliegender Händler. Sie verkauften beinahe alles für den täglichen Bedarf an die Bewohner der Reihenmietshäuser: Gemüse, frische Meerrettichcreme, geröstete Kastanien, dampfende gebackene Süßkartoffeln mit schmelzender Butter in der Mitte. Eigentlich rumpelte ständig jemand mit knirschenden Wagenrädern vorbei – der Eismann, der Milchmann, der Lumpensammler, der Brotmann, der Obst- und Gemüsemann, sogar ein Mann, der kleine selbst gemachte Obsttörtchen lieferte. Sie klingelten mit Glöckchen oder tuteten mit einer Handhupe, sobald sie in eine Straße einbogen. Und die Hausfrauen riefen ihnen aus dem Fenster zu, was sie wollten. Nur bis zu den Piers von Red Hook verirrten sich selten Händler, dort lohnte es sich einfach nicht.
Lore war zwar verheiratet, aber ihr Mann fuhr zur See und kam höchstens alle sechs Monate nach Hause. Kinder hatten sie noch nicht. Lore lebte mit ihren Schwiegereltern in zwei Zimmern in einer der Wohnstraßen, in denen die Kinder auf der Straße Ball spielten und die Jungs sich mit der Gang des angrenzenden Quartiers prügelten. Man lebte hier ziemlich öffentlich, auf den Treppenstufen vor dem Haus und bei weit geöffneten Fenstern. Als Marie Lore besuchte, gaben die Nachbarn gerade eine Party für eine in Not geratene Familie von nebenan. Eine Jazzkapelle spielte fetzige Musik, jeder Nachbar brachte etwas zu essen oder zu trinken mit, und wer konnte, spendierte Münzgeld. Lore steuerte eine Schüssel mit Kartoffelsalat bei. Als sie Marie erblickte, umarmte sie die Nachbarin und verabschiedete sich vorzeitig.
»Ich hab eine Überraschung für dich, Marie!« Lore zeigte auf ein Motorrad, das unter einer Platane vor einem Hydranten parkte. »Damit unternehmen wir einen Ausflug!«
Perplex schaute Marie sie an. »Kannst du etwa damit fahren?«
»Ja, natürlich.«
»Und darfst du auch?«
»Ob ich einen Führerschein habe?«
»Ich meine, wem gehört denn die Maschine?«, antwortete Marie mit einer Gegenfrage.
»Meinem Bruder Otto. Er hat den ganzen Tag Gewerkschaftsversammlung, da braucht er sie nicht. Komm, steig auf!«
»Hat er wirklich nichts dagegen?« Ihr Bruder Fritz stellte sich schon an, wenn sie nur mal sein neues Herrenfahrrad ausleihen wollte.
»Na ja«, gab Lore zu, während sie die Maschine bestieg, sich aber noch mit einem Bein auf der Erde abstützte. »Wir sollen nur nebenbei ein paar Flugblätter bei Gewerkschaftern in anderen Stadtbezirken abliefern. Aber das ist alles.«
Marie zögerte einen Augenblick. Sie war noch nie auf einem Motorrad mitgefahren. Außerdem wollte sie nicht gern mit der Gewerkschaft in Verbindung gebracht werden.
»Nur abliefern, nicht verteilen«, beschwichtigte Lore, als Marie ihre Bedenken äußerte. »Es geht um den Generalstreik nächste Woche. Da werden wir bei Frozen Food auch alle mitmachen, damit’s endlich bessere Arbeitsbedingungen gibt.«
Marie fand die Ziele der Gewerkschaft schon erstrebenswert. Sie wagte nur nicht, etwas zu tun, das ihrem Chef schadete. Das fand sie irgendwie unanständig.
»Aber Mr. Donague bezahlt uns doch wenigstens regelmäßig«, wandte sie ein.
»Ja, bloß zahlt er viel zu wenig!«, erwiderte Lore. »Sie werden uns weiter ausbeuten, wenn wir uns nicht alle zusammentun. So einfach ist das. Nur gemeinsam können wir etwas verändern.«
Insgeheim gab Marie ihr recht. Es stimmte schon, dass der Lohn höher, die Arbeitszeit geringer und die Vorkehrungen für die Gesundheit der Arbeiterschaft verbessert werden konnten.
Marie besann sich auf ihren neuen Leitspruch: Sei mutig und stark! Schwungvoll bestieg sie den Bock hinter Lore. Die zog nun eine Ledermütze über den Kopf und rückte ihre Motorradbrille zurecht. Die Maschine zwischen ihren Beinen begann zu vibrieren.
Marie schloss die Augen. Sie sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Als Lore durchstartete, flatterte in ihrem Bauch ein ganzer Schmetterlingsschwarm auf. Marie umklammerte die Fahrerin. Der Wind peitschte ihr Haar, fuhr ihr unters Kleid, presste ihr die Luft in die Lunge zurück. Vorsichtig blinzelte sie. Rechts flogen Häuser und Geschäfte an ihnen vorüber. Dann kam eine Kreuzung, Lore zeigte an, dass sie rechts abbiegen wollte. Marie wurde starr vor Schreck.
»Schmieg dich schön an mich ran, Marie! Festhalten und gleichzeitig locker bleiben!«, rief Lore ihr über die Schulter zu.
Und legte sich dann tief in die Kurve. Wieder kniff Marie die Augen zu. Nach endlos langen Sekunden richtete die Maschine sich wieder auf, Marie fühlte es im Bauch, bevor sie sich traute, erneut hinzuschauen. Endlich brausten sie mit flatternden Röcken weiter, zwischen Autos, Lastwagen, Straßenbahn und Pferdegespannen hindurch in den Süden Brooklyns bis zu einer Avenue, die parallel zum Strand von Brighton Beach verlief.
»Hier ist Little Odessa«, rief Lore.
»Oh, wie schön! So viel gelber Sand!«, jubelte Marie.
Sie hielten an. Lore sicherte das Motorrad. Die jungen Frauen liefen ein Stück am Strand entlang und genossen die Brandung.
»Das muss ich Rudolf zeigen!«, sagte Marie, »wenn er kommt, um mich zu holen.« Hoffentlich hatte er dann genügend Zeit eingeplant, um mit ihr New York zu erkunden.
»Komm, wir müssen die Adresse suchen, die Otto mir aufgeschrieben hat«, sagte Lore.
Sie gingen zurück zur Avenue, doch sie konnten sich mit den Leuten, die hier in den Lädchen arbeiteten oder draußen davor bei den Gemüseauslagen saßen, weder auf Englisch noch auf Hoch- oder Plattdeutsch verständigen.
»Verstehst du das?«
Marie zeigte auf die seltsamen Zeichen überall. Alle Schilder in den Läden waren in kyrillischer Schrift geschrieben.
»Wir sind in Russland gelandet«, sagte Lore mit einem Achselzucken.
Schließlich konnte ihnen ein bärtiger alter Mann, der in seiner Straßenküche Blini, kleine Pfannkuchen, und Eintopf mit Roter Beete anbot, weiterhelfen. Er wies ihnen in Zeichensprache den Weg. Der Name des gesuchten Gewerkschafters stand auf einem abgewetzten Briefkasten, der Mann wohnte im sechsten Stock eines Mietshauses.
Lore und Marie stiegen neugierig die Treppen hoch. Lore klingelte. Es reagierte niemand, deshalb warf sie die Flugblätter unten in den Briefkasten.
Kaum waren sie ein kleines Stück auf dem Bürgersteig gegangen, beobachtete Marie eine Szene, die ihr ganz unwirklich erschien. Dort stand eine verzweifelte Familie inmitten ihrer Möbel. Die Frau weinte bitterlich, der Mann lag krank oder betrunken im Bett, die Kinder schämten sich ganz offensichtlich. Eines versuchte, sich im Kleiderschrank zu verkriechen. Ein Mann beschimpfte die Menschen. Marie überlegte, wie sie helfen könnte. Sie schluckte hart.
»Das ist eine Zwangsräumung, so was gibt’s hier jeden Tag«, erklärte Lore nüchtern. »Komm, wir fahren weiter!«
Wieder krallte sich Marie an ihrer Freundin fest. Doch Lore beherrschte das Motorrad sicher, und allmählich verlor sie ihre Angst. Marie begann, den Fahrtwind zu genießen, in dem sie eine frische Brise vom Meer erschnupperte, sie empfand ein neues Gefühl von Ungebundenheit – ein kleines Stück Freiheit ohne ihre Brüder.
Bei ihrer nächsten Station, in Bensonhurst, lief es besser als in Little Odessa. In diesem Stadtteil lebten vor allem Italiener. Die Frauen lieferten ihre Flugblätter direkt beim Adressaten ab und kehrten mit ihm in einer einfachen Pizzeria ein. Marie aß zum ersten Mal in ihrem Leben eine Pizza – mit Käse, Salami und Tomaten – und war begeistert. Als Nachtisch gab es einen italienischen Käsekuchen. Er war mit Ricotta zubereitet worden und schmeckte milchiger und süßer als ein Käsekuchen ihrer Meinung nach schmecken sollte.
Nach dem Essen schlenderten sie durch das Viertel. Auf einem beschatteten Platz neben einem Straßencafé, aus dem italienische Volksmusik klang, spielten Männer Boccia. Dort wurden die jungen blonden Signorinas lebhaft umschwärmt. Lore tanzte sogar eine Tarantella. Lachend kehrte sie zu Marie zurück.
»Du musst wirklich nicht warten, bis dein Rudolf kommt, um mal ein bisschen Spaß zu haben. Wenn ich immer nur auf meinen Seemann warten würde, wäre ich längst versauert.«
Marie nickte. Natürlich hatte ihre Freundin recht.
»Was hältst du davon, wenn wir mal sonntags mit unseren Brüdern zusammen einen Ausflug nach Coney Island machen?«, fragte Lore.
»Das würd ich gern!« Marie hatte schon viel gehört vom berühmtesten Vergnügungspark New Yorks, sie freute sich darauf, Riesenrad und Achterbahn zu fahren und den singenden Kellner im Feltman’s zu hören. »Aber bitte bei gutem Wetter, ich möchte nämlich unbedingt mal wieder schwimmen.«
»Bei gutem Wetter wirst du am Strand von Coney Island eingequetscht wie eine Ölsardine!«, warnte Lore. Doch dann lachte sie. »Aber genau das lieben die New Yorker! Frag mich nicht, warum.«
Was echte Amerikaner taten, faszinierte Marie. Sie beobachtete alles Neue genau, und sie bemühte sich, es nicht zu schnell zu beurteilen.
Am Tag, als der Generalstreik begann, stand Marie mit Lore und anderen Kolleginnen vor dem Werkstor.
»Da, der Boss höchstpersönlich rollt an!«, rief Lore.
Mr. Donague ließ sich von seinem Chauffeur in einer chromglänzenden Limousine vorfahren. Neugierig reckte Marie den Kopf, als er ausstieg. Er war ein beeindruckender, etwas untersetzter grauhaariger Mann, vielleicht Mitte fünfzig, gekleidet wie ein Gentleman mit elegantem grauem Mantel und Hut. Trotzdem wirkte er eher wie ein Kämpfertyp, so als würde er sich in der nächsten Minute die Ärmel hochkrempeln, um allen vorzumachen, wie man richtig anpackte. Als er eine Laderampe erklomm, konnte Marie sein Gesicht besser sehen. Es war oval und breit mit einer hohen Stirn und einer rundlichen Nase. Donague trug einen gepflegten grauen Spitzbart, scharf gewinkelte Brauen, und die Schlupflider über den dunkelbraunen Augen betonten seinen wachsamen Blick.
»Meine lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!«
Die durchdringende Bassstimme ließ das allgemeine Gemurmel ersterben. Donague schlug einen väterlichen Ton an. Er hielt eine Rede, in der er versuchte, das Personal zur Wiederaufnahme der Arbeit zu überreden. Marie fand ihn nicht unsympathisch, und was er sagte, leuchtete ihr ein.
»Wenn Sie nicht arbeiten, erleidet das Unternehmen große Verluste. Das wird letztlich Ihnen selbst schaden, denn damit schmelzen unsere finanziellen Reserven, die wir sonst einsetzen würden, um Ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern.«
Die Gewerkschafter jedoch johlten und verlangten schriftliche Zugeständnisse, sie wollten etwas schwarz auf weiß. Einige wurden beleidigend.
Donague änderte seinen Ton. »Hört nicht auf diese Unruhestifter!«, warnte er mit drohender Stimme. »Sie sind nur eine kleine Minderheit, die Unmögliches verlangt!«
Lores Bruder Otto brüllte: »Ihr Bosse habt doch dafür gesorgt, dass die Presse falsche Forderungen der Gewerkschaft veröffentlicht!«
Donague ging nicht darauf ein, sondern drohte damit, den Betrieb zu verlegen. »Außerdem«, donnerte er, »beschäftigt und bezahlt die Gewerkschaft Schläger aus dem Mafiamilieu! Das sind alles Verbrecher!«
Die Gewerkschafter warfen jetzt faule Eier. Marie schämte sich für sie, sie ertrug die angespannte, aufgeheizte Stimmung kaum. Eine einschüchternde Reihe von Polizisten und eine Bürgerwehr flankierten den Fabrikchef. Ihnen standen Ordnungstrupps der Gewerkschafter gegenüber. Ob es stimmte, dass sie auch für die Mafia prügelten? Die Erwartung von Gewalt glomm Kerlen auf beiden Seiten in den Augen. Am liebsten wäre Marie einfach nur fortgerannt. Gammeliges Gemüse und Fischreste aus den stinkenden Abfalltonnen flogen dicht an ihr vorbei, sie verfehlten meist ihr Ziel und beschmutzten Umstehende. Marie suchte mit Lore Schutz in der Eingangstür einer gegenüberliegenden Fabrikhalle.
»Ich fordere Sie auf«, rief Mr. Donague nun durch ein Megafon, »seien Sie vernünftig, kehren Sie zurück an Ihren Arbeitsplatz!«
Noch mehr Polizei rückte mit Blaulicht an. Unter dem Schutz Uniformierter wurden gut zwei Dutzend arbeitswillige Frauen in die Fabrik geleitet. Einige Streikende beschimpften und bespuckten sie. Nein, eine Streikbrecherin war Marie gewiss nicht. Sie blieb stehen, aber sie fühlte sich ganz elend. Erste Rangeleien begannen, sie hörte das Klatschen von Fäusten, wütende Schreie.
Donague flüchtete sich in den Fond seines Autos, der Chauffeur fuhr rücksichtslos durch die Menge. Zwei Arbeiterinnen wurden verletzt, sie mussten ärztlich behandelt werden. Irritiert und erschöpft ging Marie zurück nach Hause.
Am Tag nach dem Ende des Streiks, der zumindest teilweise erfolgreich gewesen war, weil die Löhne nicht weiter gesenkt wurden, kam Lore mit verweintem Gesicht zur Arbeit.
»Sie haben Otto krankenhausreif geprügelt«, berichtete sie flüsternd, während sie ihre Stempelkarte in den Apparat steckte. Marie folgte ihr erschrocken. Als sie sich ihre grünen Mützen überzogen, schilderte Lore den Hergang. »Vier Männer, zwei mit Baseballkeulen, haben ihm vor seiner Wohnung aufgelauert! Wetten, dass diese Mistkerle von Arbeitgebern dahinterstecken?«
Beklommen hörte Marie zu. »Wie geht’s ihm jetzt?«
»Besser, wird wohl bis auf ’ne schiefe Nase wieder heilen.«
»Gott sei Dank!«
Marie merkte bald, dass Lore nicht nur Angst um Otto, sondern auch um ihren Job hatte. »Hoffentlich schmeißen die mich nicht raus, weil mein Bruder in der Gewerkschaft ist«, raunte sie.
Beide dachten dasselbe, ohne es auszusprechen: Was wäre wohl erst, wenn bekannt würde, dass sie die Flugblätter ausgeliefert hatten?
»Ach, wird schon gut gehen«, versuchte Marie, die Freundin zu trösten, »mach dich nicht verrückt.«
Doch sie musste wieder an Willis Worte denken. So läuft das hier.
Lieber Rudolf, es ist nicht alles Gold was glänzt, schrieb Marie in ihrem nächsten Brief. In dieser Demokratie bestimmt das Geld. Sie schilderte ihm ausführlich ihre Streikerlebnisse. Auch das mit dem angeblichen melting pot stimmt nicht. In Brooklyn jedenfalls leben die Menschen aus aller Welt wie in Dörfern nach Herkunft und Rasse getrennt nebeneinander. An jeder Ecke beginnt ein anderes Land. Aber die Spielfilme und die Swingmusik finde ich einfach wunderbar! Die jungen Leute, auch die Mädchen, sind sehr sportlich, selbstständig und unkompliziert, das gefällt mir.
Rudolf antwortete, in Deutschland würden sich große Dinge tun, seit die Nationalsozialisten die Regierung übernommen hätten. Er selbst habe sich einer Sportgruppe angeschlossen, die auch etwas für das Wohlergehen des gesamten Volkes tun wolle. Es gebe wirklich höhere Werte als den schnöden Mammon, die Gier nach Geld sei der Anfang vom Ende. Es geht darum, Kapital zu schaffen, nicht zu raffen!, schrieb Rudolf. Man muss mehr an die Gemeinschaft und an das große Ganze denken. Hitler hat die Jugend von der Straße geholt, jeder Handwerksbetrieb ist jetzt verpflichtet, einen Lehrling auszubilden. Aber, meine liebste Marie, Politik ist doch Männersache. Du solltest dein hübsches Köpfchen nicht damit belasten. Schreiben wir uns lieber von den schönen und poetischen Dingen des Lebens.
Gestern habe ich mit den Schülern einen Wandertag unternommen. Das Wollgras blüht! Es sieht aus wie ein Meer aus Watte, der Himmel darüber wölbte sich so weit und blau und klar, dass ich an Dein liebes Gesicht dachte. Ich schloss die Augen und sah deinen Mund vor mir. Ich möchte Dich in den Armen halten und Deine Wärme spüren, Marie … Heute früh habe ich im Morgentau eine Rose gepflückt und mit nach Hause genommen. Wie gern hätte ich sie Dir frisch in Dein seidiges Haar gesteckt. Bleib mir treu. In der Treue offenbart sich der wahre Charakter eines Menschen.
Ein paar getrocknete Rosenblätter lagen im Umschlag. Marie schnupperte mit geschlossenen Augen daran. Sie dufteten noch ein wenig. Plötzlich bekam sie solche Angst, dass ihr Leben verging, und dass sie und Rudolf kein Paar werden könnten.
Vor dem Einschlafen küsste Marie sein Bild. Er hat es mir versprochen, tröstete sie sich. Er ist ein treuer Mensch. In der Nacht träumte sie von Rudolf und von ihrem Glück in der Lehrerwohnung einer ostfriesischen Dorfschule.
Maries Herz lebte von einem Brief zum nächsten. Rudolfs Liebesbotschaften waren ihr Opium, sie besänftigten ihren Schmerz, aber zugleich weckten sie die Sehnsucht nach mehr und riefen damit auch schon wieder neue Qualen hervor.