Long Island

Mai 2003

Als Tante Marie von Rudolfs Gedanken über die Treue erzählte, wurde mir ganz anders. Ich spürte, wie sich mein Brustkorb zusammenschnürte. Meine Augen wurden feucht, ich konnte ein Aufschluchzen nicht mehr unterdrücken. In der Treue offenbart sich der wahre Charakter eines Menschen Bedeutete das nicht, dass mein Lebenspartner Robert ganz objektiv einen miesen Charakter besaß?

Aber galten denn andererseits solche alten Moralvorstellungen heute noch? Die Zeiten hatten sich schließlich geändert. Nein, grundlegende Wahrheiten, beantwortete ich mir gleich selbst die Frage, bleiben immer gleich.

Ich legte eine Hand vor die Augen, um meine Gefühlsaufwallung zu verbergen, doch Tante Marie beobachtete mich bereits alarmiert.

»Rona, dich bedrückt doch etwas«, sagte sie mit warmer Stimme. Sie atmete tief durch. »Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber du erscheinst mir so vertraut, als hätte ich dich aufwachsen sehen … Willst du nicht über deinen Kummer reden?«

Nein, wollte ich nicht, ich wollte ja nicht einmal daran denken. Tränen liefen mir die Wangen herunter, ich sprang auf.

»Entschuldige, es geht gleich wieder … Muss mich nur mal kurz etwas bewegen.«

Mit schnellen Schritten ging ich die Veranda hinunter, über das Rondell zum kleinen See. Unter Linden stand eine Holzbank, auf die ich mich fallen ließ. Ich habe keine Ahnung mehr, wie lange ich schluchzend auf den See stierte, ohne ihn richtig zu sehen.

Nach einer Weile hörte ich ein Geräusch hinter mir. Tante Marie kam näher.

»Ohne Rollator?« Meine Stimme klang belegt.

»Kurze Strecken schaffe ich auch so noch«, erwiderte sie. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Sie hielt eine Packung Kleenex in der Hand. Ich musste lächeln über so viel Weitsicht. Sie lächelte zurück und nahm Platz. Dann wurde sie wieder ernst. Sie schaute auf die Enteninsel im See.

»Wein ruhig, mein Kind. Heul dich richtig aus! Das ist der erste Schritt zur Besserung.« Tante Marie zog ein Tuch aus der Box und reichte es mir.

Lange hatte ich versucht, alles zu verdrängen – meine Demütigungen, die Enttäuschung, die Kränkung und Ratlosigkeit. Mit aller Kraft hatte ich auch meine Sehnsüchte verleugnet, meine Wünsche nach Liebe, Anerkennung und Versöhnung ignoriert. Seit Wochen überlagerte diese brennende Wut das Chaos meiner Gefühle. Jetzt brach alles hervor, jetzt kämpften die widerstreitenden Emotionen gegeneinander und legten mich lahm.

»Es ist so peinlich!«, stammelte ich endlich.

Ich war Mitte vierzig und wusste noch immer nicht, wo mein Platz im Leben war. Ich hatte alle Chancen gehabt. Aber auf einmal stand ich mit leeren Händen da. Kein Job, keine Familie, kein Mann, kein Haus. Nichts. Nur Ratlosigkeit.

»Ich … also … ich versuche gerade, gleich zwei Niederlagen auf einmal zu verarbeiten.«

»Beruflich oder privat?«

»Beides.« Und dazu auch noch so was von klischeehaft! »Wenn man das so in einem Spielfilm sähe, würde man sagen: O Gott, da haben sie aber dick aufgetragen!«

Ich versuchte zu lächeln, aber es wurde wohl eher eine klägliche Grimasse. Immer noch strömten die Tränen. Ich brauchte eine Menge Kleenex. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, fragte ich Tante Marie, was denn nach ihrer Meinung der zweite Schritt zur Besserung wäre.

Sie lächelte milde. »Darüber reden.«

»Oje … Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll …«

Im Grunde begann die Geschichte doch mit dem schrecklichen Ereignis am 11. September 2001, der Vernichtung des World Trade Centers. Denn danach war der Werbemarkt eingebrochen, die gesamte Medienbranche schwächelte. Auch in Deutschland gingen die Anzeigen in den Zeitschriften zurück. Wir hatten im Frühjahr eine neue Chefredakteurin bekommen, die weniger Hemmungen hatte, sogenannte Kooperationen mit Anzeigenkunden einzugehen als ihre Vorgängerin. Aber vielleicht war das doch etwas zu weit ausgeholt.

»Fang einfach an«, sagte Tante Marie aufmunternd.

»Also gut … Vor ein paar Wochen haben sie meiner Redaktion überraschend eine neue Chefredakteurin vor die Nase gesetzt. Ich bin mit der alten Chefredakteurin befreundet, sie heißt Katharina und ist eine super Journalistin. Deshalb war ich alles andere als erfreut. Nach einiger Überlegung entschied ich aber, mich zu bemühen, gut mit der Neuen auszukommen. Sie war kaum vier Wochen im Amt, da ließ sie mich an einem Freitagnachmittag zu sich rufen …«