4. Kapitel

Die Nachricht kommt früh am Morgen. 15.30 auf dem Friedhof. Sei da, sonst …

Sonst was? Sie weiß es nicht.

Es hat kurz nach Mamamärtas Verschwinden angefangen. Svala macht die Tür auf, und ein paar Typen in Lederwesten mit »Svavelsjö MC « auf dem Rücken fallen über sie her. Im Sommer machen sie auf ihren amerikanischen Maschinen ihre Touren, aber bald ist Winter. Unten auf der Straße steht ein Dodge Ram und tuckert im Leerlauf.

Du verstehst das nicht. Es ist eine Ehre, im Svavelsjö dabei zu sein. Das ist ein Klub mit Klasse. Komplett unabhängig von den Harleyklubs. Die machen ihr eigenes Ding. Für die zählen nur die Maschinen.

Und sie arbeiten ehrenamtlich, sagt Svala.

Richtig, sagt Stiefpeder. Das sind ganz normale, ehrliche Malocher.

Svala sortiert Stiefpeders Bekannte alphabetisch, ohne richtige Namen, sondern als Buchstabenliste in der Reihenfolge, in der sie in ihr Leben getreten sind.

Akribisch schreibt sie alles in ein Notizbuch. Diese zwei Bilderbucharschlöcher sind alte Bekannte mit den Buchstaben E und F.

Ihre Notizen reichen mindestens sieben Jahre zurück, haben sich mit der Zeit jedoch verändert. Anfangs schrieb sie Sachen wie: »E und ich waren im Frasses«, oder: »F ist nett, wenn wir unter uns sind.« Inzwischen notiert sie sich nur noch die Buchstaben und Wiedererkennungsmerkmale. F beispielsweise hat ein lila Muttermal auf der linken Schläfe. E hat keine Körperbehaarung und ist absurd fett.

E drückt sie aufs Sofa, setzt sich neben sie und legt seinen Arm mitsamt verschwitzter Achsel um ihre Schultern.

»Wie geht’s unserer Kleinen?«, fragt er.

»Gut.« Sie hält die Luft an, bis er seinen Klammergriff lockert.

»Weißt du«, sagt E, »wir haben da ein gemeinsames Problem. Deine Mutter. Märta. Aber weil du ein kluges Mädchen bist, glauben wir, dass du weißt, wo sie steckt.«

»Ich hab keine Ahnung«, sagt sie, was der Wahrheit entspricht. Abends läuft sie von Lokal zu Lokal. Fängt im Buongiorno an und hört im Stadshotellet auf, aber niemand hat Mamamärta gesehen.

In letzter Zeit hat sie ihren Radius erweitert. Direkt nach der Schule geht sie in die Stadt, klappert die Läden ab, geht durch Ahléns, an der Bibliothek vorbei zum Systembolaget und runter zur OK -Tankstelle.

Manchmal bildet sie sich ein, sie zu sehen. Erleichterung überkommt sie und gleich darauf Enttäuschung, sobald sie feststellt, dass sie sich geirrt hat.

»Märta schuldet uns Geld«, sagt E, »viel Geld.«

»Und«, erwidert Svala, »was hat das mit mir zu tun?«

E zieht sie wieder an sich. »Weißt du noch, als wir in Kåbdalis am Rodelberg waren?«

Fahr du ein bisschen Schlitten, ich muss noch kurz was erledigen. Ich hol dich nachher wieder ab.

»Ich mag dich, Kleine, das weißt du, aber Schulden sind nun mal Schulden, und man vererbt nicht nur Geld. Solange deine Mama verschwunden ist, musst du dafür aufkommen. Das verstehst du bestimmt.«

»Ich hab kein Geld«, erwidert Svala. »Und außerdem heiß ich nicht Kleine.«

»Nein, nein, stimmt natürlich. Bist jetzt die große Lady.« Er kneift sie in die Wange. »Aber eine andere Sache mit großen Ladys ist eben, dass sie auch arbeiten können. Du übernimmst einfach den Job deiner Mama, bis die Schulden abbezahlt sind.«

»Das geht nicht«, sagt Svala. »Ich muss in die Schule.«

»Genau. Du machst dich in Sachen Zahlen schlau, und wir beschaffen dir einen Job. Wenn der erledigt ist, sind die Schulden beglichen.«

Und jetzt warten sie im Auto. F zufolge ist das Haus nicht alarmgesichert.

»Wonach suche ich denn?«, will sie wissen.

»Was haben die Leute wohl im Safe liegen, Kleine? Wertgegenstände vielleicht? Nimm alles mit. Geld, Schmuck, was auch immer. Nachher gibt’s eine Leibesvisitation, versuch also gar nicht erst, clever zu sein.«

Svala schiebt die hintere Autotür so leise wie möglich zu und schleicht vorsichtig auf das Haus zu. Ein paar Raben folgen ihr von Baum zu Baum. Das ist gut, die Raben warnen sie, falls plötzlich ein Wagen oder irgendwer kommt.

Sie hat keine Ahnung, wer hier wohnt, aber das Haus und das Drumherum sehen teuer aus, nicht wie die üblichen schlammroten Gasskas-Hütten mit weißen Kantenleisten und Vogelbeerhecken.

Unterhalb fließt der Fluss über schwarze Steinbrocken und stürzt in die Tiefe. Der Garten ist eher ein Park. Obwohl es schon Ende Oktober ist, blüht noch die eine oder andere Rose.

Sie streicht einem Löwen über den kalten Schädel, steigt die breite Treppe hoch und klingelt. Das ist der Plan: Klingeln. Sich vergewissern, dass niemand zu Hause ist. Tombolalose vom Eishockeyverein verkaufen, wenn wider Erwarten doch jemand aufmacht. Sich Zutritt verschaffen und dem handgezeichneten Lageplan folgen, den sie bekommen hat.

Niemand macht auf. Svala drückt die Klinke nach unten. Verschlossen. Sie umrundet das Haus und versucht es auf der Terrasse. Ebenfalls verschlossen. Geht weiter zur Westseite, zur Kellertür. Auch die ist verschlossen.

Das mach ich für dich, Mamamärta. Sorge dafür, dass ich da reinkomme.

In der Tür sitzt ein Sprossenfenster mit kleinen Glaseinsätzen, gerade groß genug, dass ein Mädchenarm hindurchpasst. Sie zieht die Hand in ihren Jackenärmel und schlägt eine der Scheiben ein. Splitter schneiden in den Stoff, als sie sich nach der Klinke auf der Innenseite ausstreckt. Blut sickert ins Jackenfutter. Sie ertastet den Schlüssel, dreht ihn herum und ist drinnen.

Ihre Augen gewöhnen sich an das Dämmerlicht. Behutsam schleicht sie die Treppe hoch und bleibt an der Tür stehen, ehe sie den taghellen Flur betritt. Lichtflecken flimmern auf dem Marmorboden. Sie zieht die Schuhe aus und zückt ihren Lageplan – ein paar Linien auf der Rückseite eines ungeöffneten Schreibens vom Gerichtsvollzieher.

Das Zimmer mit dem Safe liegt im Obergeschoss. Dort sieht es aus wie in einer Zu-Hause-bei-Jan-Guillou-Reportage: tote Tiere in ordentlichen Reihen, die meisten entlang der Wände, ein paar auf dem Parkett oder im Regal. Leere Blicke aus toten Augen folgen ihr. Zum zweiten Mal an diesem Tag streicht sie einem Löwen über den Kopf.

Der Safe steht im Kleiderschrank. Sie schiebt Anzüge beiseite und kniet sich davor.

Abgesehen von der Farbe ähnelt er dem Safe in der Pizzeria. Keine digitalen Kniffeleien, nur Ziffern und Buchstaben.

Sie fährt mit den Fingern über die Tasten. Schließt die Augen und stellt sich vor, sie stünde in einem Labyrinth. Mit seinen Gängen und Kammern könnte man es von oben betrachtet mit Gehirnfalten vergleichen. Die meisten Gänge sind Sackgassen, andere führen im Kreis, nur ein paar wenige bringen einen weiter.

Nach und nach blendet sie die Sinne aus: Geruch, Gehör, Tastsinn – den Teil ihres Sehvermögens, der nach außen gerichtet ist. Ihr Herzschlag verlangsamt sich, der Puls sinkt auf ein Minimum.

Wenn jemand sie fragte, würde sie antworten, dass das nur logisch ist. Statt alle Energie gleichmäßig auf sämtliche Sinne und Organe zu verteilen, wird sie auf einen Punkt konzentriert: auf die Fähigkeit des Auges, nach innen zu blicken.

Wahrscheinlich würde sie Zweifel ernten, aber Fakt ist: Es funktioniert. Der Blick nach innen braucht keine empirischen Belege und kein Forscherteam. Er ist abgekoppelt von allem Weltlichen und wird einzig und allein gesteuert vom Wirtstier des Auges – in diesem Fall Svala.

Der Safe gibt das erste Klicken von sich.

Sie bleibt sitzen und lauscht. Im Haus ist es immer noch mucksmäuschenstill. Wenn jemand kommt, dann ist es eben so, dann ist sie bloß eine Dreizehnjährige auf Diebestour. Das Schlimmste, was passieren kann, wäre, dass sie sie irgendwo anders hinbringen. Was vielleicht gar nicht schlecht wäre.

Binnen weniger Minuten hat sie den Safe geknackt.

Er ist leer.

Keine Geldbündel, keine Diamantketten, Tiaren königlicher Provenienz, keine Goldbarren. Sicherheitshalber fährt sie mit der Hand die Fächer ab. Leer wie eine ausgetrunkene Bierdose.

Sie schiebt die Tür zu, zieht die Anzüge wieder vor und geht die Taschen durch. Ein paar Münzen, ein Zettel mit einer ausländischen Telefonnummer und eine Snus-Dose, das ist alles. Sie stopft die Sachen in ihre Tasche und geht weiter zum Schreibtisch. Dort ist es das Gleiche: nichts von Wert.

Sie werden ihr nicht glauben, im Gegenteil, sie werden behaupten, dass sie das Geld irgendwo im Wald versteckt hätte oder sonst was Banales.

E und F gehören zu Stiefpeders »Geschäftsfreunden«, wie er sie albernerweise nennt. Zusammen mit anderen Losern stellen sie eine eigene Stufe in der Hierarchie dar, die bei Männern ohne Namen beginnt und aufhört bei … Tja, sie weiß es nicht recht, vielleicht solchen wie Svala. Oder Kleindealern mit Bartflaum.

Sie kennt sie vom Sehen, seit sie denken kann. Hat sich nach Möglichkeit ferngehalten, wann immer das Wohnzimmer voll von Besoffenen und Junkies war oder auch wenn nur Stiefpeder da war. Der Ausweg für sie war immer der Weg nach innen. Die Fähigkeit, Geräusche und Stimmen auszublenden. Und dann natürlich Mamamärta: wie eine Schutzwand zwischen ihr und den anderen. Zumindest zeitweilig.

Ich tue das alles nur für dich. Wenn das vorbei ist, hauen wir von hier ab. Du darfst dir aussuchen, wo wir dann wohnen. Aber vergiss das nicht, Svala, ich tue das alles für dich.

Svala ist nicht die Spur hassgetrieben, aber Gerechtigkeit ist ihr heilig. Ein Kind darf man nie unterschätzen. Es sammelt Wörter, schreibt sie sich auf, legt Spalten für Daten, Ereignisse, Namen und Orte an und näht ihr Notizbuch im Arsch eines Plüschaffen ein.

Eines Tages wird sie sie irgendwie drankriegen. Sie wird Peder Sandberg drankriegen. Hass bringt einen nicht weiter, schwächt einen nur. Sie muss klug agieren, nicht hasserfüllt.

Svalas leiblicher Vater soll angeblich der Schlimmste von allen gewesen sein, eine Legende. Sein Name fällt immer dann, wenn etwas richtig Teuflisches beschrieben werden soll. Mit jeder Erwähnung wird er größer und übergrößer. Trotzdem kann Svala kaum glauben, dass irgendwer schlimmer sein könnte als Stiefpeder.

Noch nicht. Aber bald bist du am Zug. Der Gedanke beruhigt sie.

Svala will gerade das Zimmer verlassen, als sie plötzlich ein Geräusch vernimmt. Sie bleibt wie angewurzelt stehen. Verdammt. Schritte auf der Treppe.

Sie huscht zurück in den Tierpark. Zieht die Schranktür hinter sich ran, schlüpft zwischen die Anzüge und atmet in einen Sakkoärmel, bis ihr Puls runtergeht.

Die Schritte werden deutlicher. Schnelle, zielsichere Schritte, die sich auf den Schrank zubewegen. Sie macht sich so klein, wie sie nur kann.

Bitte, Mamamärta, hilf mir ein letztes Mal! Dann lasse ich dich auch in Frieden, wo immer du gerade bist!

Durch einen Spalt sieht sie eine Person. Einen Mann. Und mit einem Mal kommt ihr eine Erinnerung. Sie sind sich schon einmal begegnet, vor so langer Zeit, dass sie sich eigentlich nicht daran erinnern dürfte.

Svala sitzt auf seinen Schultern. Mamamärta ist fröhlich. Sie gehen runter zur Badestelle. Svala bekommt ein Eis. Irgendwer ruft. Sie kennt die Stimme, sie klingt wütend, zerrt Svala zu Boden. Sie schlägt sich den Kopf an einem Stein. Eine Hand packt sie, trägt sie wie einen ausgeklopften Teppich in Richtung eines Autos. Sie kreischt. Mamamärta rennt. Ein Auto fährt davon.

Sie kneift die Augen zu, bis die Erinnerung sich verflüchtigt.

Finger tippen die Kombination ein. Die Safetür geht auf und wieder zu, dann entfernen sich die Schritte.

Sie muss raus aus dem Haus. Egal, was mit den Typen aus dem Auto wird. Sie wühlt sich aus dem Anzugdschungel. Auf Zehenspitzen schleicht sie auf die Treppe zu. Bleibt stehen. Lauscht. Das Haus ist leer, da ist sie sich annähernd sicher. So leer und still, dass sie …

Tu es nicht. Du musst zurück zum Wagen, sonst schlagen sie dich tot.

Aber wenn sie sie totschlagen, wer soll dann ihre Mamamärta finden?

Sie geht zurück zum Safe. Tippt die Kombination ein und fleht um Beute. Immer noch keine Geldbündel, nur ein einzelner Umschlag, ein einzelner zugeklebter Umschlag, in dem etwas Hartes steckt und auf dem ihr Name steht: FÜR SVALA HIRAK . Sie reißt den Umschlag auf. Ein Schlüssel.

Sie kann nicht mit leeren Händen zurückkommen. Trotzdem zieht sie sich Hose und Unterhose runter und presst den Schlüssel in sich hinein, so tief sie kann. Es ist ein Wagnis. Niemand kann ihr garantieren, dass sie nicht sogar dort suchen werden. Den Umschlag stopft sie sich in die Tasche.

Erst als sie wieder im Flur steht, fallen ihr die Schuhe ein. Ordentlich nebeneinandergestellte Sneakers, die hier nicht hingehören. Er muss sie gesehen haben. Männer haben keinen Sinn für Details. Bitte nie einen Mann, nach etwas zu suchen, da sind sie zu nichts zu gebrauchen.

Laut Mamamärta sind sie ganz allgemein zu fast nichts zu gebrauchen, trotzdem scheint sie davon abhängig zu sein, welche in ihrer Nähe zu haben.

Wenn du Stiefpeder rausschmeißt, brauchst du dich nicht mehr über ihn zu ärgern.

Du bist noch zu klein, um das zu verstehen, entgegnet Mama märta. Und sag nicht Stiefpeder, zumindest nicht, wenn er da ist.

Wieder die Kellertreppe runter. Glasscherben knirschen unter ihren Sohlen. Dann um die Ecke, sicherstellen, dass niemand im Garten ist. Sie rennt in Richtung Auto. Als sie die Scheune erreicht, bleibt sie kurz stehen, um wieder zu Atem zu kommen und zu überlegen.

Sie hat keine Wahl. Sie kann nur sagen, wie es wirklich war – dass nichts im Safe lag. Was immer dann passiert: Sie ist auf alles gefasst.