7. Kapitel

Marcus Branco mag Kälte nicht, aber er schätzt die Weite.

»Öffnen«, sagt er, und die Tür öffnet sich. Er rollt nach draußen auf die Terrasse und holt ein paarmal tief Luft.

In der Ferne oberhalb der Baumgrenze ragen kahle Felsen empor. Bergbäche gerinnseln in Richtung des Flusses, der auf seinem holprigen Weg still gen Osten fließt.

Dass das Haus ausgerechnet hier steht, ist kein Zufall. Er, nein, sie haben sich lange nach dem perfekten Ort umgesehen, nach dem perfekten Berg. In seiner Vorstellung muss Hitler auf dem Obersalzberg mit ähnlichen Visionen seinen Adlerhorst geplant haben. Der Blick musste unverstellt sein und der Fels geeignet für Bunker und unterirdische Fluchtwege.

Den Bunker – fast dreitausend Quadratmeter, verteilt auf vier große Kammern, die durch Tunnel, Treppen und eine Handvoll Nebenkammern verbunden sind – sowie den Grund und Boden besitzt er schon seit Jahren. Der Wohnbereich – raffiniert in das Gelände eingepasst und für die Welt ebenso unsichtbar wie der Bunker selbst – ist erst später dazugekommen.

Die Branco Group ist inzwischen so weiß, wie der Firmenname vermuten lässt. Seine Hundejahre hat er hinter sich, hat ein stattliches Kapital aufgehäuft, das sich demnächst vermehren wird wie der Lachs am Laichplatz und zwar völlig legal. Oder … Na ja. Gewisses Geld ist einfach zu leicht verdient, um darauf zu verzichten.

Er rollt wieder nach drinnen. Ihm wird schnell kalt an den Beinen – und niemand würde es wagen, ihn darauf hinzuweisen, dass er keine hat.

In einer guten Stunde ist morgendliche Tafelrunde. Nicht zum ersten Mal wird er seine Pläne vor den anderen ausbreiten, er muss nur noch ein paar Zahlen heraussuchen. Er nimmt den Aufzug nach unten zum Besprechungsraum und setzt Teewasser auf.

Hier, ein gutes Stück unter der Erde – wie weit unten genau, weiß nur das Militär – wird aus der Russenangst des zwanzigsten Jahrhunderts nach und nach der hightech dream of a green generation des einundzwanzigsten.

Im Unterschied zur Festung Boden ein Stück nordöstlich ist seine Anlage im Fels niemandem bekannt. Weder haben hier aufdringliche Kuratorenfinger an den Schlössern gefummelt, um die Öffentlichkeit einzulassen, noch hat das Amt für Liegenschaften dies hier fürsorglich zum Kulturdenkmal erklärt. Einst von militärischer Bedeutung, ist es nur mehr ein vergessener Ort, der Anfang der Fünfzigerjahre als Teil eines Waldgehöfts an einen Forstwirt verkauft wurde.

Der besaß und bewirtschaftete die gut zweitausend Hektar bis zu seinem Tod.

Der neue Besitzer wiederum, Marcus Branco, sitzt in einem exakten Nachbau von Stephen Hawkings Rollstuhl und erfreut sich seines Lebens – so sehr, dass er sich eine kleine Belohnung gönnen könnte.

Er verspürt ein Ziehen im Unterleib. Es ist schon ein paar Tage her, seit die Letzte gehen durfte. Wenn man es denn gehen nennen kann. Sie ist derzeit noch schlechter zu Fuß als er selbst.

Einer nach dem anderen lassen sich die Ritter an ihrem halbrunden Besprechungstisch nieder. Gütig wie Jesus persönlich lässt er den Blick durch die Runde schweifen, den innersten Kreis. Järv – der Vielfraß –, Varg – der Wolf –, Björn – der Bär –, Ulf und Lo – die Lüchsin. Seine treuen Gefährten aus der Långgatan in Teg.

Branco liebt es, Vorträge zu halten. Im selben Moment, da die Wörter ausgesprochen werden, erwachen sie zum Leben.

»Früher waren es die Fabrikanlagen, die gestunken haben. Heutzutage ist es der saure Schweiß von gestressten Verwaltungsbeamten und Politikern, die plötzlich mit den Megakonzernen fertigwerden müssen, die in Nordschweden anklopfen. Gasskas samt Umgebung hat die richtigen Voraussetzungen, um endlich so erfolgreich zu werden, wie wir es verdienen. Die europäischen Märkte florieren, und in den Industriebranchen läuft es rund. Aber es gibt auch ein Sorgenkind, und ihr wisst, welches das ist. Die Energieversorgung.«

Er rollt auf ein Flipchart zu und schlägt das oberste Blatt um.

Für ihn stellt all dies einen mentalen Prozess dar, der seit Jahren vonstattengeht. Jenes Ende des Landes, das früher unter der Bezeichnung Norrland bekannt war, hat mit einem Mal eine klarere Identität angenommen, und Marcus Branco will gern erkunden, warum.

Der stets leicht herablassend betrachtete, schweigsame, aber fleißige Eigenbrötler, der Selbstgebrannten trinkt und sich weigert, in den Süden zu ziehen, ist mittlerweile Geschichte. Er ist durch den Typus des übereifrigen Verwaltungsbeamten ersetzt worden, der aller Welt Gold und grünen Strom verspricht. Und alle Welt beißt an. Startschuss war womöglich der Bau des Facebook-Serverparks in Luleå 2011, was es genau ist, ist nebensächlich – doch urplötzlich wollen alle dorthin. Man munkelt, dass Facebook seinen Strom dort so gut wie umsonst bezieht, und sofort machen die Lemminge kehrt und ziehen samt und sonders nach Norden.

In Skellefteå wird eine der weltgrößten Batteriefabriken gebaut. Gleichzeitig vermelden Stahlriesen und Zechen, dass die komplette konventionelle Stahlproduktion eingestellt und durch sogenannten grünen Stahl ersetzt werden soll. Nur muss dafür statt Kohle Wasserstoff her, um dem Eisenerz den Sauerstoff zu entziehen. Ob der CEO von SSAB das zweite Reaktionsprodukt neben dem Eisen – das Wasser – eines Tages trinken will, bleibt abzuwarten.

Branco sieht seine Ritter der Reihe nach an. »Könnt ihr mir folgen?«

Aber natürlich.

»Nur gut, dass die Vorstände der Konzerne sich in den Zeitungen seitenlang darüber auslassen dürfen, wie wichtig eine staatliche Förderung fossilfreier Industrien ist – wozu die Gremien auch alle Ja und Amen sagen. Trotzdem müssen sie sich früher oder später alle dieselbe Frage stellen: Womit sollen sie bitte versorgt werden? Denn Stromfresser im großen Stil sind sie alle. Und da sprechen wir nicht von ein paar Prozent mehr, wir sprechen von einem Energiebedarf, der weit über dem liegt, was heute als insgesamt erzeugbar gilt. Und natürlich soll es Strom sein, der mittels Solarenergie, Wind- oder Wasserkraft erzeugt wird.«

Branco schlägt das nächste Blatt um und tippt mit dem Zeigestock auf ein paar Zahlen. Varg muss ein Gähnen unterdrücken, und Lo feilt sich einen eingerissenen Fingernagel am Hosenbein glatt.

Sämtliche schwedischen Energieerzeuger zusammengenommen produzieren 166 Terawatt, davon 70 durch Wasserkraft, 51 durch Atomkraft, 15 durch Kraft-Wärme-Kopplung, 1 durch Fotovoltaik sowie 27 durch Windkraft und ein paar andere Kleinquellen.

Die neue Industrie – die sogenannte grüne – bräuchte rund 55 Terawatt darüber hinaus. Die Frage ist nur: Wo sollen die herkommen?

Kernkraft wäre wie ein Fluch in der Kirche, die können wir streichen.

Wasserkraft ist voll ausgeschöpft, können wir auch streichen.

Solarenergie in einem Land, das … Können wir streichen.

Bleibt die Windkraft. Denn Wind gibt es. Manchmal jedenfalls.

Er kehrt zum Hauptproblem zurück. »Die Großindustrie, die die ganze Welt mit Batterien und Baustahl beliefern soll, benötigt also zusätzliche 55 Terawatt Windkraft – ungefähr doppelt so viel, wie derzeit insgesamt in Schweden produziert wird.«

»Entschuldigung«, sagt Järv, »aber wo kommen wir da ins Spiel? Wenn das mit der Windkraft am Ende nicht aufgeht, warum sollten wir dann darauf setzen?«

»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, sagt Branco. »Wenn kein Wind weht, wird kein Strom produziert, ganz egal, wie viele Windparks gebaut werden. Und wenn Wind weht, muss der Strom direkt eingespeist werden, weil wir ihn nicht speichern können.« Er legt eine kleine Kunstpause ein. »Mit Wasserstoff hingegen ginge das: Wenn es also gerade am heftigsten stürmt, könnten wir mittels Windstrom Wasserstoff erzeugen und einlagern – und zwar hier, in unseren Kavernen. «

»Wasserstoff ist eins der am leichtesten entzündlichen Gase der Welt«, wendet Lo ein. »Ich nehme an, das Risiko hast du einkalkuliert.«

Branco schlägt das nächste Blatt auf und schreibt: Risikobewertung – Fragezeichen.

»Bis ins Detail kann die Risiken niemand berechnen, weil es nirgends auf der Welt so große Speicher gibt. Aber einer muss schließlich der Erste sein. Das Verfahren an sich ist nicht neu, wir wollen es nur um ein paar Hunderttausend Kubikmeter hochschrauben.«

»Wenn das schiefgeht, fliegt ganz Norrbotten in die Luft«, sagt Lo.

»Sterben kann man auf zig Arten«, entgegnet Branco. »In kleine Stücke gerissen zu werden ist doch wohl nicht die schlimmste.«

Das Gelände, die unterirdischen Bauten, die Lage, die Zeiten, in denen wir leben, Energiekrisen, steigende Strompreise – genau hier hat Branco die Chance gesehen, sein Geld zu waschen und dafür auch noch den Dank der Gesellschaft zu ernten.

Er will in die Stromproduktion einsteigen und zwar nicht mit beliebigem Strom, sondern mit Schwedens sauberstem, grünstem Strom aller Zeiten – der Windkraft – und damit ein umso besserer Mensch werden. Einer, der ganz grundlegend soziale Verantwortung übernimmt, indem er sein privates Vermögen in die Zukunft investiert. Ein Visionär, ein liebenswürdiger Mensch, den die Welt bewundern würde, wenn sie die Möglichkeit hätte.

Aber so weit will er nicht gehen. Branco hat viel erreicht, indem er unsichtbar blieb.

Sowohl den Strom als auch den Wasserstoff wird er wie Gold an den Meistbietenden verkaufen. An der Schwelle zum nördlichsten Schweden steht immerhin die ganze Welt Schlange – dreckig, feige und gemein, aber bis obenhin voll mit grünen Forderungen, die jede beliebige Werbeklitsche formulieren könnte.

Branco kann ebenfalls formulieren.

»Die schwedische Politik mit den Sozis und Grünen vorneweg hat sich komplett auf links gedreht, um der Umweltbewegung nach dem Maul zu reden. Reaktoren sollen abgeschaltet und stattdessen sollen Windräder aufgestellt werden. Aber bevor die internationalen Konzerne, die diese Anlagen überwiegend besitzen, auch nur eine Einzige errichtet haben, ist der Strom schon ins Ausland verkauft. Klárt och betárt , wie wir hier oben sagen. Aber auf dem Papier sieht so etwas blendend aus! Das nette kleine Schweden, das sich seiner rußschwarzen Nachbarn annimmt. Aus Klimakämpfersicht ist es natürlich besser, dass sauberer Strom aus Schweden in Ländern verbraucht wird, die sonst Öl und Kohle verheizen würden. Dass die Schweden die Feier ausrichten müssen, indem auch hier der Strom teurer wird, weil schlicht und ergreifend nicht genug übrig bleibt, ist da nebensächlich.«

Branco ist mitnichten ein politischer Mensch. Er regt sich nur darüber auf, wie dumm die Leute sind, nicht zuletzt die Politiker. Energiekrisen jedweder Art hält er für ein Geschenk. Denn vom selben Tag an, da sein Windpark baufertig dasteht, schreibt er hier die Regeln. Na ja, sein Windpark. Fragt man Henry Salo, wem der Windpark gehört, bekommt man natürlich eine Salo-Antwort. Dieser Kasper. Aber apropos, demnächst ist ein persönliches Treffen fällig.

»Für uns selbst spielt es wirtschaftlich keine Rolle, ob der Versuch, große Mengen Wasserstoff zu speichern, in die Hose geht oder nicht«, sagt Branco. »Wenn eine Variante nicht klappt, gibt es noch Tausende andere. Und wenn wir keine PPA -Verträge mit den Energieriesen schließen wollen, gibt es auch da Alternativen.«

Die Bezirksverwaltungen haben ihre Türen für ausländische Unternehmen, die für unbegrenzte Stromzufuhr Land kaufen wollen, sperrangelweit geöffnet, auch wenn einige dieser Firmen eher durch die Hintertür eingelassen werden sollten – oder besser gar nicht. Aber genau hier nimmt Marcus Branco sein Finetuning vor. Die Branco Group ist im Kern schließlich immer noch ein Sicherheitsunternehmen. Nur wenige Menschen wissen so viel über den Dreck, den Länder und ihre Einwohner am Stecken haben, wie Branco und seine Ritter. Branco selbst könnte als eine Art grüner Petrus am Perlentor fungieren. Gewisse Interessenten dürfen eben nicht rein.

Natürlich gibt es auch Probleme. Konkurrenten und renitente Grundbesitzer zum Beispiel, aber das ist nichts, was mit Geld nicht zu lösen wäre. Branco hat an alles gedacht und ist mehr als zufrieden. Zudem gibt es Aspekte in seiner Planung, über die er noch nicht reden will, nicht einmal mit dem innersten Kreis. Er kriegt die Gedanken nicht aus dem Kopf, sie jucken wie Flöhe, berühren sein Innerstes, handeln von einem Teil seines Lebens, den er nicht im Griff hat, der sich aber mit einem Wort zusammenfassen lässt: Wiedergutmachung.

Die Sterne dürften bald günstig stehen für Phase zwei. Erste Anzeichen sind schon zu erkennen. Branco ist nicht der Einzige, dem allmählich die Geduld ausgeht.

»Okay«, sagt Ulf, »das klingt nach einem weitsichtigen Plan. Aber was ist mit dem Rest?«

»Svavelsjö übernimmt die Logistik hier in Nordschweden. Sie haben sich in anderen Zusammenhängen als verlässlich erwiesen. Wir sprechen sozusagen dieselbe Sprache.«

»Ja, schon klar«, sagt Ulf, »Svavelsjö ist auch unser geringstes Problem. Das größere ist Sandberg. Er und seine Leute hatten nichts gegen die Fusion, aber Infos aus dem Klub deuten darauf hin, dass er in Richtung Osten sein eigenes Ding macht.«

»Der kann wohl den Hals nicht vollkriegen.« Branco dreht irritiert seinen Rollstuhl. Genau damit hat er nichts mehr zu tun haben wollen und geglaubt, er hätte die Probleme aus der Welt geschafft – Drecksprobleme, verursacht von Abschaum, von Ungeziefer, das nichts leistet, sondern immer nur konsumiert. »In dem Fall muss er wohl bereinigt werden.«

»Ich kümmere mich gern darum«, sagt Varg. »Wäre schön, mal ein bisschen rauszukommen.«

»Leider brauchen wir ihn noch«, wendet Ulf ein. »Vergiss nicht, dass er in seinem Reich der König ist.«

»Dann müsst ihr eben mit ihm reden«, sagt Branco.

»Haben wir schon versucht. Er hat sich einsichtig gezeigt und versprochen, seinen früheren Einflussbereich Svavelsjö zuzuschlagen. Gleichzeitig hat er in aller Heimlichkeit neue Absprachen mit den Finnen getroffen. Womöglich auch mit den Russen.«

Inzwischen ist Branco nicht nur irritiert, er ist regelrecht sauer und muss nachdenken. Wütend hat er die besten Ideen – oder die schlechtesten, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet.

»Hat er Kinder?«, fragt er.

»Eine Stieftochter.«

»Stehen sie sich nahe?«

»Schwer zu sagen.«

»Eine Frau?«

»Bestimmt.«

»Okay«, sagt Branco. »Findet alles über Peder Sandbergs hübsche kleine Familie heraus. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht hinbekämen.«