Erik Niskala geht, und Lisbeth Salander bleibt sitzen. Schlägt die Mappe auf und wieder zu. Versucht, ihre wirren Gedanken zu einer Meinung zu bündeln, gibt dann aber auf, schiebt sich die Mappe unter die Lederjacke und steuert den Tresen an.
Die Hotelbar ist inzwischen rappelvoll mit wochenendhungrigen Leuten. Diesmal bestellt sie sich eine Cola mit viel Eis. Schafft gerade mal einen Schluck, als irgendein Idiot sie anrempelt und ihr das Glas aus der Hand rutscht.
»Oh, Entschuldigung! Warte, ich hole einen Lappen.«
Es ist eine junge Frau mit roten Haaren und roten Fingernägeln – abgekauten roten Fingernägeln, wie Lisbeth bemerkt –, einer Lederjacke ähnlich ihrer eigenen, schwarzer Jeans und schwarzen Stiefeln.
»Oh«, sagt sie noch einmal, »wir shoppen wohl im selben Laden! Was willst du trinken? Das sah nach Rum-Cola aus. Du kriegst eine neue von mir.«
»Okay …«
»Jessica«, stellt sie sich vor.
»Lisbeth.«
»Du bist nicht von hier, oder? Sonst hätte ich dich schon mal gesehen.«
»Stimmt«, sagt Lisbeth. »Und selbst?«
»Tja, ich bin von hier. Bin nie weiter als bis Skellefteå gekommen. Dort hab ich meinen Mann kennengelernt, der auch aus Gasskas stammt, und als die Kinder kamen, sind wir wieder hierhergezogen.«
»Dann bist du verheiratet«, sagt Lisbeth, einfach nur, um etwas zu sagen.
»Geschieden.«
Für einen kurzen Moment sehen sie beide schweigend dem Barkeeper zu, der mit seinen muskelbepackten Armen und dem Cocktail-Shaker einen auf Tom Cruise macht.
»Wir waren in derselben Klasse.« Jessica nickt in Tom Cruise’ Richtung. »Es gibt nur zwei Spezies hier in der Stadt: Sportfreaks und Sportfans.«
»Und welche Spezies bist du?«
»Die zweite, würde ich sagen. Mein Ex spielt immerhin Eishockey. Allerdings habe ich davon die Nase voll. Vielleicht müsste ich eine neue Spezies erfinden – Arbeitsjunkie oder so. Oder Stressmutter. Was bist du?«, fragt sie Lisbeth.
Rächerin, Hackerin, Mörderin. »Auch Arbeitsjunkie«, antwortet sie. »Und Sportfreak. Ich trainiere und arbeite, sonst mache ich nichts.«
»Keine Kinder?«
»Nein, keine Kinder.«
»Mann?«
»Muss man einen haben?«
»Definitiv nicht. Mit einer Gurke geht es genauso gut. Die spielt wenigstens nicht Eishockey.«
»Oder redet«, sagt Lisbeth.
»Sollen wir tanzen?«, fragt Jessica. »Die Tanzfläche ist ein Stockwerk tiefer.«
»Tanzen?«
»Du weißt schon, Arme hoch, die Hüften bewegen. Dabei muss man auch nicht reden. Komm!« Sie zieht sich die Klammer aus den Haaren, sodass sie ihr über den Rücken fallen.
Lisbeth hat nichts gegen Tanzen. Es ist allerdings ewig her.
Die Musik ist ohrenbetäubend laut, und die Leute drängen sich auf der Tanzfläche. Netterweise ist dies hier kein Schaulaufen, eher das Kollektiverlebnis eines hüpfenden Haufens fröhlich betrunkener Leute, die einen Refrain mitgrölen. In der wogenden Masse greift Jessica nach Lisbeth und grölt ebenfalls mit.
Jessicas Haare peitschen Lisbeth ins Gesicht. Im Stroboskoplicht schillert das Rot lila, und ihre Gesichtszüge sind kantig wie Schiefer.
Wie eine Hexe, eine ziemlich große, sexy Hexe. Lisbeth zieht sie an sich. Riecht den Duft ihres Tanzschweißes und ihres Parfüms, spürt den Hüftknochen, den sommersprossigen Unterarm und die Hand, die ihre eigene fest umklammert hält. Doch als die Musik ruhiger wird und die Menge sich zerstreut, macht Jessica einen Schritt von ihr weg, steckt sich die Haare wieder hoch und sagt, dass sie etwas trinken muss.
Sie trinken etwas. Jessica plaudert jetzt mit Tom Cruise, und Lisbeth kann nichts weiter tun, als danebenzustehen.
Oder – klar könnte sie. Sie könnte nach oben auf ihr Zimmer gehen, den Inhalt der Mappe durchsehen und sich ein Nein zurechtlegen. Nein, nein, nein, sie braucht kein Teenagermädchen in ihrem Leben, und sie braucht auch kein anderes Mädchen. Trotzdem bleibt sie stehen und wartet, bis der Barkeeper anderweitig beschäftigt ist und Jessica sich wieder zu ihr umdreht.
»Du bist ja noch da! Ich fahre dann jetzt heim, aber war cool, dich kennenzulernen!«
Die Nähe, die sie auf der Tanzfläche verspürt hat, hat sich verflüchtigt, und in Jessicas Stimme klingt Ablehnung an, trotzdem lässt Lisbeth es darauf ankommen. Menschen tun, was sie immer tun, denkt sie, und folgen selten ihren Instinkten. Manchmal brauchen sie einen Schubs in die richtige Richtung.
»Ich wohne hier im Hotel. Wenn du mit mir oben noch was trinken willst, kann ich dir später ein Taxi rufen.«
Jessica sieht sie unverwandt an. Kramt ihr Handy heraus, verschickt eine Textnachricht, trinkt wie in einem umständlichen Ritual den letzten Schluck Wein, ehe sie antwortet.
»Nein, ich hab den Babysitter nur bis zwölf.«