»Ich gehe spazieren.«
Svala lässt ihre Tante vor über den Monitor tickernden Ziffern und Zeichen sitzen. Draußen schneit es nach wie vor. Sie stapft auf das Hauptpostamt des Weihnachtsmanns zu.
Neue Sachen. Ich friere nicht. Nicht mal an den Füßen.
Nicht dass sie sonst frieren würde – oder die Hitze spüren, wenn sie die Hand auf die heiße Herdplatte legt. Es geht lediglich um die anderen. All jene, die sie von Kopf bis Fuß mustern, sehen jetzt anständige Stiefel statt durchgetretener Sneakers mit löchrigen Sohlen und das bei Minusgraden. Und jemand kümmert sich – das ist das Wichtigste.
Das Postamt ist voll mit Leuten, die Kuscheltiere betatschen und Ansichtskarten kaufen. Sie stellt sich neben eine italienische Reisegruppe samt Reiseführer. In der Oberstufe in Gasskas steht nur Deutsch zur Auswahl, deshalb lernt sie Italienisch, Spanisch, Chinesisch und Russisch mithilfe einer App. Bislang kann sie nur die Basics, trotzdem versteht sie das eine oder andere Wort. Sie gibt ihr Bestes, in der Gruppe nicht aufzufallen. Vielleicht ist sie sogar mit ihrer Familie hier.
»Entschuldigen Sie«, sagt sie zu der Elfe an der Kasse, »die Briefe an den Weihnachtsmann – wo kommen die hin?«
»Hast du ihm geschrieben?«, fragt die Elfe. »Die Briefe landen allesamt hier, wo der Weihnachtsmann und seine Wichtel sie lesen. Dann legen sie sie in einen speziellen Schrank. Aus welchem Land kommst du?«
»Südafrika«, antwortet Svala, und die Elfe zeigt auf das Fach für die südafrikanischen Briefe.
»Der ist zwar abgeschlossen, aber du kannst deinen Brief da hindurch sehen – oder ihm einen neuen schreiben.«
Das will sie nicht. Sie wollte sich nur vergewissern, dass das Hauptpostamt des Weihnachtsmanns wirklich existiert und sämtliche Briefe gelesen werden. Sie zieht weiter und folgt den Pfeilen in Richtung Christmas House.
Eine Holztreppe windet sich ins obere Stockwerk. Obwohl sie kein Kind mehr ist, beziehungsweise nie eins gewesen, verspürt sie ein Kribbeln, weil sie gleich dem Weihnachtsmann gegenübertritt, und feierlichen Ernst.
Ja, sie will mit ihm fotografiert werden, und sie sollen das Gespräch aufzeichnen und auf einem Stick speichern.
Sie setzt sich auf den Stuhl neben seinem. Erst sitzen sie schweigend da. Neben ihm kommt sie sich winzig vor. Er ist erkältet.
»Ich schreibe dir immer«, sagt Svala. »Vielleicht weißt du ja, wer ich bin – Svala aus Schweden?« Eine dumme Frage, eher ein Schuss ins Blaue, doch der Weihnachtsmann nickt.
»Ich weiß, wer du bist. Der Weihnachtsmann weiß alles.«
»Wie Gott«, sagt Svala.
»Wie Gott«, pflichtet er ihr bei.
»Dann weißt du auch, dass meine Mutter verschwunden ist.«
Er nickt abermals.
»Kannst du mir vielleicht sagen, wo sie ist? Oder zumindest, ob sie noch lebt?«
»Als ich klein war, bloß ein kleiner Wichtel, ist meine Mutter auch verschwunden, deshalb weiß ich gut, wie sich das anfühlt.«
»Ist sie zurückgekommen?«
Der Weihnachtsmann zögert mit seiner Antwort.
»Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben«, sagt er nach einiger Zeit, »und eines Tages war sie unverhofft wieder da.«
»Und wo war sie gewesen?«
»In einem längeren Urlaub. Deine Mutter ist vielleicht auch in den Urlaub gefahren.«
Ihr dämmert, dass der Weihnachtsmann keine Ahnung hat, wo ihre Mutter steckt. Trotzdem fühlt es sich gut an, mit ihm zu reden. Sie überlegt sich die nächste Frage. Er schnäuzt sich.
»Dürfte ich dich um etwas bitten?« Sie schiebt die Hand in die Tasche.
»Na klar, vom Weihnachtsmann darf man sich alles wünschen.«
»Ich will dir etwas geben.« Sie zieht ein rechteckiges Päckchen aus ihrer Jackentasche, das in selbst bemaltes Geschenkpapier gewickelt ist. »Das ist für dich, aber das darfst du nicht vor Weihnachten aufmachen.«
»Natürlich nicht. Ich bin immerhin der Weihnachtsmann. Das lege ich so lange zu den anderen Geschenken.«
»Nein, ich möchte, dass du es mit nach Hause nimmst. Ich habe dir so oft geschrieben und nie eine Antwort gekriegt. Das bist du mir sozusagen schuldig.«
Er windet sich. Schnäuzt sich erneut und nimmt einen Schluck Glögg oder was immer man als Weihnachtsmann trinkt.
»In Ordnung, dann machen wir es so. Versprochen. Auf Ehre und Gewissen.«
Über Ehre und Gewissen weiß Svala das eine oder andere. Oder wie Stiefpeder gern sagt: Eine kleine Drohung kann nie schaden.
»Ich hab dich auf Film, für den Fall, dass du es vergessen solltest.« Dann steht sie auf, tätschelt ihm die Schulter und wünscht ihm gute Besserung.
Es klingt vielleicht komisch, aber er weiß wirklich, wer sie ist. Dieser Herbst ist sein erster als Weihnachtsmann. Seit er aufs Gymnasium ging, hat er in den Schulferien und später während des Journalistikstudiums im Weihnachtsmanndorf gejobbt, meist als Brieföffner, er hat die Briefe gelesen und manchmal beantwortet, und weil sein Vater Schwede ist, ist er für die Briefe aus Schweden zuständig.
Man mag es nicht glauben, aber dem Weihnachtsmann schreiben mehr Erwachsene als Kinder. Es sind Briefe über Armut und Scheidungen, unheilbare Krankheiten und Einsamkeit, und für die Absender ist der Weihnachtsmann die letzte Hoffnung.
Er beantwortet die Briefe, so gut er kann, schreibt, dass alles gut wird. Solange man die Hoffnung nicht aufgibt und an seinen Wünschen festhält, wird alles gut. Mehr kann er nicht tun.
Die Briefe des Mädchens unterscheiden sich von den anderen. Eigentlich schreibt sie gar keine Briefe, sie schreibt Gedichte.
Die Gedichte bringen ihn zum Lachen und zum Weinen. Vor allem hat sie eine literarische Sprache, schreibt unfassbar gut, das kann er in seiner Eigenschaft als armer Amateurpoet beurteilen. Wenn er die Briefe nur je hätte beantworten können. Sie unterschreibt immer bloß mit Svala H., ohne Absenderadresse.
Doch genau aus diesem Grund hat er sich auch gewisse Freiheiten genommen. Er hat die Gedichte abfotografiert und sie sich unter dem Pseudonym Svala H. zu eigen gemacht: anfangs nur einzelne Wörter oder Verse, mit der Zeit jedoch ganze Gedichte. Er hat sie sogar – und jetzt schämt er sich so sehr, dass er bei dem Gedanken eine Pause einlegen und aufs Klo gehen muss – ins Finnische übersetzt, einem Verlag geschickt, und der hat sie angenommen. Es sind nur noch ein paar Wochen, bis das Bändchen in den Buchhandlungen steht. Und verdammt, wird ihm unter dem Mantel warm, der Bart juckt, und die Brillenbügel drücken an den Schläfen.
Er ist ein Fake. Ein Idiot, der die Texte eines kleinen Mädchens geklaut und sich angeeignet hat. Jetzt, da er das Mädchen obendrein getroffen hat, schämt er sich umso mehr. Er donnert die Klotür hinter sich zu, rennt die Treppe hinunter in den Innenhof, doch inmitten der Touristen in Leihoveralls ist von einer Svala H. in einer taubenblauen Daunenjacke und mit rosa Mütze nichts mehr zu sehen.
»Hello, Santa, take a picture with us!« , ruft jemand, und damit ist die Gelegenheit futsch, sie wiederzufinden. Mag sein, dass der Weihnachtsmann eine Märchenfigur ist, eine Fantasiefigur, die in ihrem Schlitten rund um den Erdball fliegt, um Weihnachtsgeschenke zu bringen. Aber im Weihnachtsmanndorf ist er real. Er stellt sich in die Mitte, legt seine starken Arme um schmale Schultern und lächelt väterlich in eine Handykamera.
Genau wie sie es sich von ihm gewünscht hat, nimmt er das Päckchen nach Feierabend mit zu sich nach Hause.
Eeli Bergström könnte es jetzt öffnen und würde vielleicht sogar eine Adresse finden, entscheidet sich aber dagegen. Er will seiner Verantwortung gerecht werden. Der Gedichtband möge erscheinen, allerdings hoffentlich nur auf Finnisch.
Durchs Marimekko-Ladenfenster sieht Svala ihm nach. Sie beobachtet, wie sein Weihnachtsmannmantel flattert, als er die Treppe heruntergerannt kommt. Er sucht jemanden. Genau deshalb versteckt sie sich, für den Fall, dass er sich das mit dem Päckchen anders überlegt hat.