Auf besonderen Wunsch bekommt der Reiniger ein frisches Bündel Zeitungen, Kakaopulver, Milch und ein Kilo lose Süßigkeiten geliefert.
»Ich habe nie mit Kindern zu tun gehabt«, sagt er zum Kurier. »Was macht man mit denen?«
»Keine Ahnung. Einen Fernsehabend vielleicht?«
Der Reiniger schneidet den Kabelbinder auf, damit der Junge sich aufsetzen kann, stellt ihm Frühstück hin und nimmt sich selbst einen Kaffee.
Der Junge trinkt Kakao und schneidet sich ein Stück Wurst ab, während der Reiniger sich um seine Ausrüstung kümmert. Er nimmt seine Glock heraus und entfernt das Magazin, baut Rückholfeder und Schlagbolzen aus und mustert die Teile, wischt sie mit einem Lappen sauber und setzt sie wieder ein.
Im Herd prasselt Feuer. In der Hütte macht sich Gemütlichkeit breit. Zum bevorstehenden Fernsehabend fehlt nur der Fernseher.
»Heute machen wir einen Ausflug. Wenn du versuchst zu fliehen, erschieße ich dich.«
Der Junge schlürft den letzten Schluck aus seinem Glas. Eine Fliege surrt nur mehr kraftlos gegen die Scheibe. Der Ausschlag am Ellenbogen juckt wie Mückenstiche. Er hat mal etwas von Schlangensalbe oder so gelesen. Eine Kreuzotter könnten sie antreffen, genau wie Hase und Fuchs.
Sie gehen in Richtung des ersten Adlerhorsts. Der Junge geht vor. Wie er heißt, weiß der Reiniger nicht. Er hat ihm seinen Namen mehrmals genannt, aber der Reiniger hat ihn sich nicht gemerkt, will ihn sich nicht merken, Junge reicht völlig. Sie kommen gut miteinander aus.
Er legt ihm die Hand auf die Schulter. »Warte«, flüstert er und zeigt hoch in die Kiefernwipfel. In einer Astgabel hängen wie Korbgeflecht Stöcke und Zweige. Das Nest schaukelt leicht im Wind. Schmelzender Schnee trieft von den Bäumen.
»Und wohnt da einer drin?«, flüstert Lukas zurück.
»Nein, im Augenblick nicht. Das Weib legt ab März seine Eier. Die werden dann achtunddreißig Tage lang bebrütet, ehe die Jungen schlüpfen. Wenn ich ihnen nicht mit zusätzlichem Futter geholfen hätte, hätte die Hälfte nicht überlebt.«
»Warum flüstern wir?«, will Lukas wissen.
»Um sie nicht zu erschrecken. Sie sind ganz in der Nähe. Komm.«
Sie gehen noch ein Stück weiter. Der Junge hat keine geeignete Kleidung an. Damit er nicht friert, trägt er das Helly-Hansen-Sweatshirt des Reinigers über seinen Hochzeitssachen und als Gürtel ein Seil um die Hüfte. Die kleinen Füße rutschen in den Sportschuhen des Reinigers vor und zurück, obwohl sie die Schuhe mit Füllmaterial aus einem Kissen ausgestopft haben.
Der Reiniger gibt dem Jungen mit einer Geste zu verstehen, dass er stehen bleiben soll. Er selbst will den Eimer auf der Lichtung ausleeren.
Jetzt könnte Lukas fliehen. Irgendwo gibt es bestimmt einen Weg. Er betrachtet den Mann, der sich auf den Luderplatz zubewegt. Verwesungsgestank weht zu ihm her. Ihm tränen die Augen, sein Magen zieht sich zusammen, doch er beißt die Zähne zusammen, bleibt, wo er ist, und wartet auf den nächsten Befehl.
»Komm«, flüstert der Reiniger und kriecht unter eine Fichte. Der Junge kriecht hinterher. »Setz dich hier drauf.« Der Reiniger breitet seine Jacke am Boden aus.
Lukas drückt sein Bein gegen das Bein des Mannes, um sich warm zu halten.
Der Arm des Reinigers hängt kurz in der Luft. Der erste Adler landet bei den Fleischstücken, der Arm des Reinigers um Lukas’ Schultern. Der Junge schmiegt sich gegen dessen Achsel.
»Frierst du?« Er knetet Lukas’ Arm.
»Ein bisschen.«
Erst ein Adler, dann zwei. Ein dritter rangelt um seinen Platz in der Hackordnung.
»Sind sie nicht schön?«, flüstert der Reiniger und hält dem Jungen das Fernglas hin.
»Ja«, flüstert Lukas zurück. »Ich würde sie gern zeichnen. Können Sie ein Foto von ihnen machen?«
Der Reiniger holt sein Handy heraus und nestelt daran herum.
»Ich kann es Ihnen zeigen«, flüstert Lukas. »Hier löst man aus.«
Genauso schnell, wie sie gekommen sind, ist die Vorstellung vorbei, die Adler schwingen sich auf in den Himmel, und sie gehen heim.
Der Reiniger schürt das Feuer im Herd neu an, nimmt die Pappverpackung der Frischhaltefolie und drückt sie samt einem Bleistiftstummel Lukas in die Hand. Dann greift er zur Süßigkeitentüte, schlägt die Öffnung mehrmals um und stellt sie auf den Tisch.
»Was magst du am liebsten?«
»Die sauren«, sagt Lukas. Und dann: »Meine Mama ist nett. Sie hätte nicht heiraten sollen. Es ging uns gut, als wir nur wir zwei waren.«
Der Reiniger gießt sich einen Fingerbreit Whisky ein.
»Henry ist besser, als du vielleicht glaubst.«
Der Junge blickt auf.
»Henry? Kennen Sie ihn?«
Dieser Moment. Die Gemeinschaft. Das unverhoffte Vertrauen.
»Henry ist mein großer Bruder«, sagt er und bereut es im selben Augenblick.
Doch nun gibt es kein Zurück mehr. Und weil er es nicht zurücknehmen kann, kann er genauso gut weitererzählen.
»Ist fast wie in einem Märchen«, fährt der Reiniger fort. Der Junge zeichnet, und er erzählt. Gießt sich Whisky nach und ringt um die richtigen Worte. Er hat sie nie laut ausgesprochen, sie nur wieder und immer wieder in seinem Kopf vor sich hin gesagt. »Mein Bruder war immer der Stärkere von uns. Ich selbst war nur Haut und Knochen, ungefähr so wie du. Klein, dünn und schwächlich. Unser Vater war der reinste Teufel. Unsere Mutter war ein Schmetterling. Lauf, Joar, lauf in den Wald . Und ich bin gelaufen. Erst Stunden später habe ich mich zurückgetraut. Da saß Henry auf der Vordertreppe, der Teufel war wieder weg, aber unsere Mutter … Unsere Mutter … Egal. Das ist lange her. Und jetzt musst du schlafen gehen.«
Der Junge sieht seine Füße an.
»Ja«, sagt der Reiniger, »du musst.«
Er schlingt den Kabelbinder um Lukas’ Knöchel.
Der dreht sich weg und zieht sich das Kissen über den Kopf.
In einer 1880 erbauten Waldhütte sickern Tränen ins Holz.
Am nächsten Morgen ist die Landschaft weiß. Über Nacht sind mehrere Handbreit Schnee gefallen. Obwohl es immer noch schneit, blitzt eine tief stehende Wintersonne zwischen den Bäumen hindurch. Der Reiniger nimmt seinen Kaffee mit auf die Vordertreppe, pisst an einen Baum und ruft sich die letzte Nacht ins Gedächtnis.
Der Junge schläft. War kaum eingeschlafen, als er selbst sich die letzten Tropfen Whisky eingoss und durch die Gaskassen -Ausgaben der letzten Woche blätterte. Die Todesanzeigen studierte und von einem neuen Leben fantasierte.
Es geht ihm gut, besser als den allermeisten. Trotzdem ist es an der Zeit für ein paar Entscheidungen.
Keiner weiß, wer er ist, nicht Henry und auch sonst niemand aus der Gemeinde. Niemand außer dem Jungen.
Er geht nach drinnen und weckt ihn.
Schneidet den Kabelbinder durch und zerrt den Jungen zur Tür.
Sieht er die nackten Füße, die durch den Schnee stapfen?
Nein.
Sieht er die dürren Arme, die Gänsehaut?
Nein.
Hört er das Flehen?
Nein.
Sieht er den Seeadler, der auf den Jungen zuschießt und ihm die Krallen in die Schultern gräbt?
Ja.
Und er hört den Schrei. Den Schnabel, der dem Jungen in den Hinterkopf hackt, und den Schrei.
Ein Leben gegen ein anderes.
Ein Schuss löst sich.
Ein Vogel fällt auf die Erde.
Ein Junge blutet.
Der Reiniger hebt ihn hoch und trägt ihn zurück zur Hütte.
Er weiß nicht, ob der Junge noch lebt.
Doch schlagartig ist alles vergessen, was er sich vorgenommen hatte, bevor der Seeadler kam.
Er macht Wasser heiß.
Wäscht die Wunde aus und verbindet sie mit T-Shirt-Fetzen.
Hält dem Jungen die Süßigkeitentüte unter die Nase und betet darum, dass er überlebt.
»Gott«, sagt er, »ich bin kein Kindermörder. Lass wenigstens den Jungen am Leben.«