»Wir wohnen hier, Ende der Diskussion.« Lisbeth nimmt sich eine Cola aus der Minibar und legt Märtas Tagebuch auf den Nachttisch. »Ich lese weiter, wenn ich zurück bin.«
»Ich fühle mich hier aber wie im Gefängnis«, sagt Svala. »Nicht mal was kochen kann man.«
»Du darfst kommen und gehen, wie du willst. Sei nur vorsichtig bei langhaarigen Männern mit Lederweste. Und was bitte schön ist an Zimmerservice verkehrt?«
»Ich würde gern einfach nur vor dem Fernseher sitzen. Kannst du nicht hierbleiben und dir mit mir einen Film ansehen?«
»Klar. Ich muss nur erst noch mal raus. Es wird auch nicht spät. Auf Vier läuft Apocalypse Now , kennst du den schon?«
»Nein. Triffst du dich wieder mit der Bullenfrau?«
»Gehört zur Allgemeinbildung«, sagt Lisbeth nur. »Dann bis später.«
Der Ranger schnurrt durch die Stadt wie ein Kätzchen, die Erwartung schnurrt wie ein Tiger. Sie parkt vor dem Polizeirevier. Zehn Minuten später ruft Jessica an und sagt ab.
»Ein paar Kollegen sind krank, und ich hatte einen grässlichen Tag.« Sie senkt die Stimme. »Faste hat beschlossen, dass wir die Entführung allein bearbeiten, ohne Hilfe aus Stockholm. Es wird immer schlimmer mit ihm. Er hat einen Polizeianwärter mit Sachen betraut, für die ihm die Erfahrung fehlt. Wir kommen keinen Schritt weiter.«
»Ich bin gern behilflich. Such deine Sachen zusammen, ich warte vor der Tür.«
»Tut mir leid, Lisbeth, aber es geht wirklich nicht. Einige haben hier Dreifachschichten gearbeitet und müssen schlafen.«
»Wir arbeiten auch – nur ein kurzes Überstündchen. Du wirst es nicht bereuen.«
»Worum geht es überhaupt?«
»Das erzähle ich dir gleich.«
»Na, dann los, Chefin.« Jessica drückt Lisbeth einen Pappbecher Kaffee in die Hand. »Wo soll es hingehen? Und sag jetzt gern: nach Hause und ins Bett.«
»Später. Erst gehen wir auf eine Party beim Svavelsjö MC . Die haben heute Tag der offenen Tür.«
»Svavelsjö – bist du verrückt geworden?«
»Du hast meine Internet-Autobiografie doch gelesen und solltest wissen, dass ich mit denen eine spezielle Beziehung pflege.«
»Der Teil muss mir entgangen sein«, sagt sie. »Wir haben sie im Blick und fahren dort auch alle naselang vorbei. Bisher haben wir nur einen Haufen Möchtegerns zu sehen bekommen, die ihre Maschinen polieren. Trotzdem klingt unbewaffnet und in Zivil dort aufzukreuzen nicht nach einer guten Idee.«
»Dann hol deine Knarre, wenn du dich damit besser fühlst. Ich warte so lange.«
»Die Polizei auf geheimer Mission mit Lisbeth Salander. Wenn das rauskommt, feuern die mich.«
»Ach komm, ist doch nur eine Party.«
»Dann ohne Waffe«, sagt sie. »Privat und unbewaffnet. Eine Idiotin, die sich zu Studienzwecken beim Abschaum herumtreibt.«
»Wir stehen nur am Tresen und sehen gut aus, okay?«
»Ich mag dich«, sagt Jessica. »Vielleicht sogar mehr als das. Vielleicht bin ich ein kleines bisschen verknallt in dich.« Die Haare. Der Mund. Die Barbiebeine. »Und ich nehme an, du hast gute Gründe für diese Scheißparty.«
»Es gibt eine Verbindung zu Salo, zumindest indirekt.«
»Und die wäre?«
»Salos Geschäfte. Im Zusammenhang mit der Entführung muss darauf doch sogar die Polizei gekommen sein.«
»Natürlich, aber eine Verbindung zu Svavelsjö haben wir bislang nicht gezogen. Salo ist ein aufgeblasener Trottel, aber solche gibt es zuhauf, ohne dass sie gleich kriminell wären.«
»Salo muss auch nicht kriminell sein, um kriminelle Geschäfte zu ermöglichen. Er will seinen Windparkdeal retten, und der Svavelsjö MC übernimmt grundsätzlich jeden Job. Wie läuft es übrigens mit deinem fabelhaften Ex-Mann Henke?«
»Der sitzt in der Klapse. Hat angerufen und damit gedroht, sich das Leben zu nehmen, also haben wir eine Streife hingeschickt. Mir war nicht klar, dass es so schlimm um ihn steht. Okay, er ist eifersüchtig – aber lebensmüde?«
»Lebensmüde ist jeder mal«, entgegnet Lisbeth. »Und manchmal kriegt man dabei sogar Hilfe.«
»Er ist in Sunderbyn und nicht in der Schweiz.«
»Hast du die Filmchen auf TikTok gesehen?«
»Er hat sie wieder rausgenommen«, erwidert sie. »Er ist kein …«
»… schlechter Mensch«, ergänzt Lisbeth. »Mag schon sein – nur ein eifersüchtiger Idiot, der findet, du solltest für den Rest deines Lebens allein bleiben, damit es für ihn nicht so anstrengend wird. Wenn das nicht übel ist, dann weiß ich auch nicht.«
»Ich kapituliere.« Jessica gähnt. »Wir könnten auch einfach früh ins Bett gehen.«
»Nur noch kurz die Svavelsjö-Gang. Hinterher fahre ich dich heim.«
»Oder wir fahren zu dir. Wo wohnst du eigentlich gerade?«
»Im Hotel, mit der Kleinen.«
»Die Kleine, richtig.«
Lisbeth fährt durch die Toreinfahrt auf das Berget-Gelände und parkt so nah an der Tür, wie es nur geht, gleich neben Hillbilly-Autos, Quads und Motorrädern.
»Da muss sich deiner ja nicht verstecken.« Jessica tätschelt die Motorhaube des Ranger.
»Man will schließlich nicht auffallen.«
Was auch klappt, zumindest anfangs. Mit Lederjacke, schwarzer Levi’s und Stiefeln sind sie zwar nicht so aufgedonnert wie die Ladys, die hier in unterschiedlichen Graden der Leder-Sexyness herumtänzeln, aber sie passen ins Bild.
An Lederwesten und jeder Menge Gesindel vorbei, das Jessica namentlich und mit Geburtsjahr kennt, überqueren sie die Tanzfläche.
»So ist das, wenn man in einer Kleinstadt bei der Polizei ist«, sagt sie. »Da kennt man seine Pappenheimer. Aber was hast du eigentlich vor?« Die Polizistin in ihr übernimmt. »Du hast hoffentlich keine geheime Agenda?«
Hat sie? Nein. Doch.
»Ich bin es einfach leid, ständig diese hässlichen Visagen vor dem Hotel zu sehen. Die wollen an Svala heran. Wir müssten Märta finden. Hier ist sie nicht – das Gelände habe ich schon abgesucht –, aber einer dieser Loser könnte sich vielleicht verplappern, weil er sich wichtigmachen will.«
Allmählich bereut Jessica, dass sie mitgekommen ist. Sie ist keine Privatdetektivin, sie ist eine normale Polizistin, und wenn Hans Faste in Rente geht oder unerwartet stirbt, hoffentlich eine mit Karriereaussichten. Im Gegensatz zu Lisbeth ist sie auch kein Adrenalinjunkie. Sie will einfach nur ein normales Leben führen und eine gute Mutter sein. Sie mag Lisbeth, fühlt sich zu ihr hingezogen wie die Mehlmotte zur Speisekammer, aber Lisbeth als Stiefmutter ihrer Kinder? Schwer vorstellbar.
»Apropos Faste«, sagt Lisbeth, »es gibt Spuren von Lukas, von denen die Polizei keine Ahnung hat.«
»Von dem entführten Jungen? Ich will wissen, was das für Spuren sind.«
»Klar, wenn du mir hilfst, helfe ich dir. Aber erst trinken wir was.«
»Du bist mit dem Auto hier.«
»Stimmt.« Lisbeth bezahlt für zwei Pils. »Und hör auf, so verdammt bullenhaft auszusehen. Wir sind auf einer Party.«
Und dann steht Peder Sandberg vor ihnen. Hier herzukommen, war ein Fehler.
»Können wir gehen?«, fragt Jessica, aber dafür ist es zu spät.
»Jessica Harnesk, mit dir habe ich hier nicht gerechnet. Bist du übergelaufen?« Er lacht laut über seinen dummen Spruch und streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Hör sofort damit auf«, sagt sie. »Wenn du nicht im Affenkäfig landen willst, ziehst du besser Leine.«
»Oh, oh, jetzt hab ich aber Angst!«
»Wer ist der Idiot?«, fragt Lisbeth, auch wenn sie es schon weiß.
»Peder Sandberg«, antwortet Jessica.
»Ihr Ex-Ex«, antwortet der und will mit Jessica anstoßen.
»Wir waren nie zusammen.«
»O doch. Eine richtige Wildkatze im Bett, hätte wohl keiner geglaubt, dass du mal bei der Polizei anfängst.«
Komm, wir gehen runter zum Fluss. Die Leute gehen mir auf die Nerven. Frierst du? Hier, nimm meine Jacke.
»Ich habe da gerade erst was gelesen«, sagt Lisbeth. »Ein bisschen kindlich und unreif geschrieben, trotzdem hat es genau auf dich gepasst. Ich glaube fast, es hat sogar von dir gehandelt. Richtig, Stiefpeder Sandberg – das musst doch du sein.«
»Ach.« Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich nehme an, das hat das Mädchen geschrieben. Die Laus wäre nicht mal mehr am Leben, wenn ich nicht gewesen wäre.«
»Stimmt, das eine oder andere hast du bestimmt auch mal gut hingekriegt, obwohl das lange her ist. Aber die Laus, wie du sie nennst, ist ziemlich talentiert darin, Karten zu zeichnen. Du ahnst womöglich, was passieren könnte, wenn die Polizei die in die Hände bekäme. Ups!« Lisbeth schlägt die Hand vor den Mund. »Die Polizei ist ja schon da!«
Komm, die Umkleide ist offen, da können wir rein.
Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet auf mich.
Deine Mutter macht in Svartluten die Beine breit, viel besser bist du ja wohl auch nicht.
Dieselben Hände, dieselben Augen. Eine andere Zeit, ein anderer Auftrag.
»An eurer Stelle wäre ich vorsichtig«, sagt Peder Sandberg. »Hier sind jede Menge Leute, die sich gern mal eine Bullenschlampe vornehmen würden.«
»Wie öde.« Jessica gähnt. »Geh zurück und mach dich bei den anderen kleinen Jungs wichtig.«
»Und zwar heute noch.« Lisbeth bohrt ihm den Zeigefinger in die Schulter. Er sieht haarscharf an ihrem Gesicht vorbei – und dann geht es ganz schnell. Seine Hand packt Lisbeth im Schritt und schiebt sie nach hinten.
Er hat sie tatsächlich überrumpelt. Bei allem, was sie von Sandberg und seinesgleichen weiß, hätte sie gewappnet sein müssen. Sie schlägt mit dem Kopf gegen den provisorischen Tresen aus Autoreifen und rostigem Blech. Dann packt er sie an der Gurgel. Die Arme über seine Hände kriegen und mit dem Ellenbogen gegen die Schläfe. Doch ohne Luft kommt die Panik. Der Tunnelblick. Das Gefühl, einfach nur aufgeben zu wollen. Binnen weniger Sekunden die Bewusstlosigkeit, auch wenn der Tod an sich dann noch ein paar Minuten auf sich warten lässt.
Du bist ein Bushi, Lisbeth, eine Kriegerin. Wenn du dein Katana verlierst, benutz dein eigenes Schwert.
Im selben Augenblick, in dem es Jessica gelingt, Peders Würgegriff zu lockern, spreizt Lisbeth Zeige- und Mittelfinger zu einem V und rammt ihm einen perfekten Nihon Nukite in die Augen.
Und da ist er wieder, der gute alte autonome Reflex, mit dem der Körper zum Schutz seiner Vitalfunktionen ausgerüstet ist. Als Peder Sandberg seinen Augen zuliebe von ihrem Hals ablässt, landet sie einen kehrseitigen Ura-Zuki. Ohne dass er es noch steuern könnte, klappt er vornüber.
Sobald Sandberg außer Gefecht ist, zumindest vorübergehend, gönnt sie sich ein bisschen Spaß. Sie winkelt die Hand leicht ab, setzt einen federnden Shuto-Uchi in seinen Specknacken und schickt ihn zu Boden, wo er als Häuflein verwirrten Schmerzes liegen bleibt.
»Krav Maga?«, fragt die Polizistin.
»Karate. Ist nicht viel dabei. Man kann einen Kotzbrocken mit der leeren Hand unschädlich machen, wenn man auf die richtigen Stellen zielt.«
Ich weiß, dass du es willst, zier dich nicht. So. Gut. Ah! Verdammte Hure, war doch schön, oder nicht?
»Faszinierend. Trotzdem braucht er womöglich noch eine kleine Erinnerung.« Jessica tritt Sandberg so fest in den Hintern, dass er bis auf die Tanzfläche segelt. Doch statt ihn dort seine Wunden lecken zu lassen, tritt sie wieder und immer wieder zu. Um sie herum formiert sich ein Kreis aus Gebrüll: »Töten! Töten! Töten!«
Irgendwann zieht Lisbeth sie von dem wimmernden Sandberg weg.
»Du sollst ihn nicht umbringen, bloß ein bisschen erschrecken. Und da hätten wir auch den großen Anführer«, sagt Lisbeth und winkt Sonny zu. Trotzdem wird es allmählich Zeit, dass sie verschwinden, und zwar am besten, bevor Sonnys Gehirnzellen an der Allee der Erinnerungen an die richtige Stelle rutschen. Ihre Botschaft ist hoffentlich angekommen.
Erinnere dich an gestern, denk an morgen, aber lebe heute.
O ja, Sonny Nieminen. Vergiss nie, was war. Die Jahre im Knast, Aufstieg und Fall deines Klubs. Und vor allen Dingen: Vergiss nie Lisbeth Salander.
Er ballt die Fäuste.
Die. Schon wieder. Das kann doch nicht wahr sein.
»Fahr«, sagt Jessica und starrt reglos geradeaus, bis Lisbeth den Wagen vor ihrem Haus parkt, den Motor abstellt und die Stille nachwirken lässt.
Irgendwas ist da drinnen passiert. Etwas, was über das Offensichtliche hinausgeht. Aber was? Lisbeth zieht Jessica an sich. Atmet den Duft ihrer zerzausten Haare ein. Streicht ihr über die Schulterblätter.
Sie haben Dinge erlebt, mit denen Sie nicht allein klarkommen. Wenn Sie diese Dinge in Worte fassen könnten, wären Sie schon ein gutes Stück vorwärtsgekommen.
Danke, Kurt Ågren.
»Erzähl es mir«, sagt sie.
Jessica richtet sich gerade auf. Zieht sich die Pulloverärmel über die Hände. Die Scheiben beschlagen von ihrer Atemluft.
»Er hat mich vergewaltigt. Das ist alles. Ist lange her. Die Schulabschlussfeier nach der Neunten. Anschließend hat er bei allen, die es hören wollten oder auch nicht, damit geprahlt – was wahrscheinlich ganz Gasskas war.«
»Und du?«
»Ich hab gemacht, was Mädchen meistens machen: nichts gesagt und gelitten. Endlich zurückzuschlagen, hat sich vorhin gut angefühlt. Fast schon zu gut. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich ihn totgetreten.«
»Wenn du gefeuert wirst, fängst du einfach bei mir an. Würdest auch besser bezahlt.«
Jessica schüttelt den Kopf, schiebt die Autotür auf und lässt die Kälte herein.
»Übrigens, was du dort zu Sandberg gesagt hast – über irgend so einen Brief und Karten. Worum ging es da?«
»Um gar nichts. Das war ein Bluff. Willst du, dass ich mit reinkomme?«
»Nein. Wir hören uns ein andermal.«
Haare, Mund und Barbiebeine gehen. Die Reihenhaustür öffnet und schließt sich. Jessica hat nicht mal mehr zurückgeblickt.
Ich glaube, ich bin ein kleines bisschen verknallt in dich.
Gleichfalls.
Bevor sie zum Hotel zurückfährt, sucht sie die Koordinaten der Stelle heraus, wo sie den Fluchtwagen entdeckt haben, und schreibt eine Nachricht. Fügt noch ein Herzchen hinzu, löscht es wieder und drückt auf Senden.