Sophia Konaré versucht, sich zu orientieren. Bleibt vor der Zelle der anderen Frau stehen, ahnt aber, dass sie die Tür nicht wird öffnen können. Sie sind sich begegnet, haben sich jedoch nie unterhalten. Sophia auf dem Weg zum Monster. Die andere auf dem Rückweg.
Das Licht, der Tag. Im Schlafzimmer des Monsters sind so was wie Fenster. Doch um dort hinzugelangen, muss sie erst an allen anderen Räumen vorbei, auch am Büro oder was immer das ist. Menschen, die dort auf und ab gehen, telefonieren, an Computern sitzen und mit irgendetwas zugange sind.
Die Zellen liegen abgeschieden, so viel weiß sie. Sie wird üblicherweise gegen Abend geholt. Manchmal bleibt sie die ganze Nacht und liegt wach neben dem schlafenden Monsterleib – und es ist nicht nur, dass er keine Beine hat. Mali ist voll von verstümmelten Menschen. Eher ahnt sie, was in seinem kranken Gehirn vor sich geht. Er ist der Forscher, sie das Versuchskaninchen.
Sobald seine Lust vorübergehend befriedigt ist, will er reden. Sich unterhalten. Rollt sich auf ihren Arm und füllt das Dunkel mit noch größerer Dunkelheit. Viel handelt von der Zeit, die bald kommt, von der Welt, die sich unter einem gemeinsamen Führer zusammentun muss.
»Du weißt schon, Püppchen. Wir wachsen doch alle in dem Glauben auf, dass wir kleine Rädchen in einem riesigen Getriebe sind, dass wir alle eine Bedeutung haben, ganz egal, wer wir sind oder wie wir aussehen. Aber das stimmt nicht. Mittels Medizin, Technologie, Heilkunst, Gentechnik und so weiter verhindern wir nur die natürliche Auslese. Auf der Erde hat lediglich eine begrenzte Menge Menschen Platz. Die Frage ist, wer leben soll und wer nicht.«
Vielleicht hat sie ja genau das getan – der Erde geholfen, den Teil der Menschheit auszurotten, der nichts beiträgt.
In einer der Zellen liegt ein Toter: genauso tot, wie sie selbst sein dürfte, falls sie erwischt wird, bevor sie hier rauskommt. Meine Familie , wie das Monster die anderen nennt. Oder, Püppchen? Du findest doch auch, dass Familie das Wichtigste ist.
Sie bleibt stehen. Hört Stimmen, die sich beschwingt unterhalten, wie anlässlich einer Feier. Schritt für Schritt geht sie näher. Kann sie flüchtig erkennen. Beugt sich vor und zählt durch. Einer fehlt.
Nur eine Glasscheibe trennt diese Leute vom Flur, auf dem sie steht. Dort muss sie vorbei, ohne entdeckt zu werden. Jenseits der Scheibe befindet sich neben dem Aufzug eine Treppe. Wenn sie Glück hat, führt die hinauf in die Freiheit. Wenn sie Pech hat, zurück in die Hölle.
Varg steht auf und dreht sich zur Glastür um. Er muss Ulf ablösen. Wirft einen flüchtigen Blick auf die Monitore, die den Außenbereich zeigen, und stellt fest, dass wieder mal Rentiere die Sensoren stören. Sie müssen sich dringend um die Technik kümmern. Die zwei ereignislosen Jahre, die sie hier in Sicherheit waren, haben sie fahrlässig gemacht. Das wird er bei der Morgenbesprechung thematisieren. Er drückt die Klinke nach unten. Sieht über die Schulter und wirft den anderen noch einen liebevollen Blick zu. Der Champagner prickelt angenehm. Es waren nie sie gegen den Rest der Welt. Eher andersherum.
Sophia weicht in die hinterste, dunkelste Nische im Flur zurück. Die Gelegenheit, die sie gebraucht hätte, ist zunichte. Die Alternative ist, unten durch die Tunnel zu gehen. Allein bei dem Gedanken wird ihr eiskalt. Und dann? Ohne richtige Kleidung und Schuhe? Ein kurzes Mädchennachthemd mit Bärchen ist alles, was sie der Winterkälte entgegensetzen kann. So will es das Monster: unschuldiges Fleisch im Teddybärennachthemd.
Am zweiten Tag hat man sie mit auf eine unterirdische Sightseeingtour genommen. Schon nach der dritten Abbiegung hat sie die Orientierung verloren, was vermutlich Absicht war. Überall Türen, Treppen, Säle, Leitern, Gänge.
Selbst wenn sie dort runtergelangt, wird sie nie hinausfinden. Sie muss alles auf eine Karte setzen. Als die Aufzugtüren zugehen, rennt sie los und huscht wie ein Blitz an der Glastür vorbei. Zieht die Brandschutztür auf und rennt die Steintreppe hoch, bis sie vor zwei weiteren Türen steht.
Ihr Gehirn sagt rechts. Trotzdem nimmt sie links.
Immer zwei Stufen auf einmal rennt sie die Treppe hinunter. Und plötzlich ist da nur noch eine Stahltür zwischen ihr und der Freiheit. Ein Fingerabdruck, und ist sie draußen …
Sie rennt, als wäre der Teufel hinter ihr her. Als sie zuletzt draußen unterwegs war, war der Boden noch frei. Jetzt reicht ihr der Schnee bis zu den Waden. Das Nachthemd flattert ihr um die Beine. Sie gerät ins Straucheln, fängt sich wieder, treibt sich an, stolpert erneut. Wie ein Gnu sucht sie Schutz im Dickicht.
Ihr Gehirn sagt: Leg dich flach hin und schlafe. Sie rennt weiter. So, wie sie immer gerannt ist. Barfuß, schnell und mit einem klaren Ziel vor Augen.
Lisbeth Salander will gerade wenden und zurück nach Gasskas fahren, als mehrere Meter entfernt an einem überwucherten Waldweg irgendwas aufblitzt. Sie lässt das Fenster runter, nimmt das Fernglas aus dem Handschuhfach, fokussiert den unteren Teil einer Kiefer und sucht den Stamm aufwärts ab. Eine Überwachungskamera. Da hängt allen Ernstes eine Überwachungskamera. An einer Stelle, wo sie fast unmöglich entdeckt wird. Wenn sie nicht einem Eichhörnchen auf seinem Weg durchs Geäst hinterhergesehen hätte, hätte sie die nie entdeckt. Und wo eine ist, sind unter Garantie noch mehr.
Sie muss jetzt strategisch denken. Wenn nur an diesem einen Waldweg Kameras hängen, hat man sie womöglich noch nicht entdeckt. Wenn auch eine an der Haltebucht hing, ist sie geliefert. Sie darf jetzt kein Risiko eingehen. Legt den Gang ein und fährt zwei Kilometer weiter zur nächsten Haltebucht.
Hier gibt es keinen Waldweg oder Pfad, über den sie sich Gedanken machen müsste. Außerdem ist es inzwischen beinahe dunkel. Nur der Mond und der Schnee spenden einen Hauch Helligkeit. Losgehen oder wiederkommen, wenn es morgen hell wird? Sie macht es wie alle Norrländer, legt den Schlüssel auf den Vorderreifen, schaltet ihre Stirnlampe ein, springt über einen Graben, schneidet ein Loch in einen Wildzaun oder was immer das ist und schlüpft zwischen die Bäume.
Zwei Kilometer durch verschneiten Wald. Der Schnee ist nicht tief, die Kälte hat ihn ausgehärtet, nur hier und da bricht sie ein und strauchelt.
Der Schweiß läuft ihr über den Rücken. Der Karte zufolge müsste sie bald auf einen Moorabschnitt treffen. Hoffentlich ist es dort überfroren. In unregelmäßigen Abständen bleibt sie stehen und lauscht.
Varg stellt fest, dass Ulf nicht am Kontrollpanel sitzt. Diese Lusche – muss mitten in der Schicht aufs Klo. Na ja, kann vorkommen. In acht Sekunden, sobald die Echtzeitbilder aus den Zellen und den anderen Gebäudeteilen aktualisiert werden, wird er Alarm auslösen, wodurch gleichzeitig sämtliche Wege nach draußen automatisch verriegelt werden.
Er zoomt das Bild aus der Puppenzelle größer. Beim ersten Mal sieht es dort aus wie immer. Beim zweiten Mal sieht er die Hand, drückt die Wechselsprechtaste zum Konferenzraum und schlägt den allgemeinen Alarm, der mit dem Schließsystem gekoppelt ist. Ab jetzt ist ein Fingerabdruck nötig, um nach draußen zu kommen. Warum handhaben sie das verdammt noch mal nicht generell so?
»Die Puppe ist weg. Verdacht auf unbefugtes Eindringen. Ulf vermutlich tot. Holt euch eure Waffen und schwärmt aus. Ich übernehme den Außenbereich.«
Sie werden bedroht, trotzdem ist er unwillkürlich erregt. Das Leben im Bunker ist eintönig und ziemlich langweilig – und er ist schließlich Soldat. Ein universal soldier , dessen einst abwechslungsreiches Leben in den Epizentren von Kriegsgebieten mittlerweile nur noch aus Büroroutinen besteht.
Nicht einmal Märta entgeht der Aufruhr. Irgendwer stößt ihre Zellentür auf, zieht ihr die Decke weg und verlässt die Zelle wieder. Sie ist zu schwach, um die Decke zu sich herzuziehen, doch ihre Gedanken sind klar wie das Wasser, das den Njakaure speist.
Ihr Teufel. Jetzt ist eure Zeit gekommen, so wie es immer ist. Hast du es nicht selbst gesagt, Krüppel – dass die Zeit bald reif ist? Hier hast du deine Apokalypse. Now!
Sophia weiß nicht mehr, in welche Richtung sie unterwegs ist. Ihre Kraft geht allmählich zur Neige, die Kälte macht ihre Schritte zäh und lähmt ihr Gehirn. Anfangs hat sie nur das Knacksen der Bäume und den Wind gehört, doch inzwischen ist da immer deutlicher noch ein weiteres Geräusch. Schritte. Keuchende Atemzüge. Ein Handyklingeln und eine Stimme. Gnus bleiben als Herde zusammen. Ihre Anzahl schützt sie vor Angriffen. Ein vereinzeltes Tier wird zur Beute.
Varg folgt der Spur. Er wird sie einholen. Barfuß und ohne Kleidung … Plötzlich teilt sich die Spur, oder vielmehr kreuzen sich zwei. Sie ist nicht allein. Er geht auf ein Knie runter, um besser zu sehen. Einmal Schuhe, einmal nackte Füße.
Keine Jagd ohne Jäger. Lisbeth geht der Spur ein Stück nach. Schlüpft hinter einen Baum und wartet.
»Tante Lisbeth, ich muss dir was erzählen.« Das Mädchen setzt sich aufs Bett. Der Affe sitzt neben ihr. »Weißt du noch, als ich den Einbruch bei Salo gemacht habe?«
»Ja?«
»Ich hab gelogen. Das Auto war nicht weg, als ich wieder rauskam. F hat mich quer durch den Wald gejagt und hat auf mich geschossen. Es ging um Leben und Tod.«
»Mach dir keine Gedanken. Darum kümmert sich der Rabe.«
Lisbeth der Rabe Salander.
Eine Leiche findet sie nicht, dafür die Mordwaffe, den Ast mit getrocknetem Blut. Sie nimmt ihn mit ins Auto und will ihn irgendwo anders entsorgen, doch dann ruft dieser verfluchte M an, und der Ast bleibt im Kofferraum liegen. Nichts geschieht ohne Grund.
Plötzlich ist da eine Bewegung. Vermutlich ein Mann. Der sich vorwärtsbewegt, stehen bleibt, sich vornüberbeugt, mit der Hand über Spuren streicht, sich wieder aufrichtet und weitergeht.
Noch ein Stück, noch ein Stück … Jetzt!
Der Schlag in den Nacken schickt ihn mit dem Gesicht voran in den Schnee.
Dass dich mal jemand zur Welt gebracht und womöglich gestillt hat.
Sie kann nicht reagieren, der Gegenschlag kommt zu schnell. Obwohl sie ihn mit dem Ast hart getroffen haben muss, schafft er es, sich herumzuwälzen und ihr die Beine wegzutreten. Jetzt liegt sie mit der Nase im Schnee, und er ist auf die Füße gekommen. Der Ast liegt außer Reichweite.
»Hoch!« Er richtet eine Waffe auf sie. Sie stemmt sich auf die Knie und nimmt die Hände hoch. Nicht erschießen.
Ist das ein Kind oder sogar ein Zwerg?
»Wer bist du?«
»Ich war nur spazieren.«
»Na klar.« Er lacht auf. »Und ein Stück weiter liegt die Puppe und erfriert deinetwegen. Das hast du toll hingekriegt.«
»Darf ich aufstehen?« Gerade ist nicht der Moment, um Widerworte zu geben. Sie muss die nächste Gelegenheit abpassen.
»Genau das wollte ich auch vorschlagen. Wir zwei gehen jetzt ein Stück, Spaziergänge magst du ja.«
Sie folgen seiner Spur zurück. Sie geht vorneweg. Ein blitzschneller Angriff, wenn er am wenigsten damit rechnet, würde alles geraderücken. Sie muss ihn näher an sich heranlassen. Geht jetzt langsamer. Der Mond bleibt zwischen den Baumwipfeln an ihnen dran.
»Scheiße!« Sie tut, als würde sie das Gleichgewicht verlieren, und knickt zur Seite weg.
Er reißt sie am Arm wieder hoch.
Ein Gentleman, schönen Dank, Branco, dann hast du deine Affen ja sogar dressiert.
Sie wirbelt herum und schlägt ihm mit einem Shuto-Uke die Waffe aus der Hand. Er reagiert, wie sie es sich gedacht hat, und versucht, nach ihren Armen zu greifen.
Karate ist gut, Lisbeth, aber im Nahkampf ist Krav Maga unerreicht.
Wieselflink windet sie sich aus seinem Griff. Und plötzlich befindet sie sich hinter ihm.
Mit der richtigen Technik – einen Arm vorn um den Hals, die freie Faust in den Nacken – schnürst du ihm die Luft ab.
Danke für den Hinweis, Jessica, aber so hoch komme ich nicht.
Stattdessen setzt sie, ohne nachzudenken, einen Migi-Ashi-Fumikomi gegen sein Kniegelenk und im selben Moment einen Yoko-Empi in die Schläfe.
Das Knie gibt mit einem herrlichen Plopp unter ihm nach. Wenn er nicht noch mehr Waffen in seiner Hose hat, ist er hiermit außer Betrieb, zumindest vorübergehend. Sie klaubt seinen Revolver auf und folgt eilig der Spur der nackten Füße.
Der Schnee hat etwas Barmherziges. Er wird warm, wie der Teich im Wald, in dem sie im Sommer baden. Sie, die immer vom Meer geträumt hat, schwimmt nackt in einem Teich. Fatma ist da, Amina auch, Mama, ihr kleiner Bruder. Und Papa? Damals hast du dich versteckt. Kommst du jetzt, um mich zu retten?
Lisbeth hievt sich das Mädchen auf die Schulter und trägt es wie erlegtes Wild durch den Wald. Puppe. Für die Puppe werdet ihr bezahlen. Sie davonzutragen, ist ihre einzige Chance. Aber wo ein Feind ist, sind noch mehr. Das Auto – Hauptsache, sie haben das Auto nicht entdeckt. Sie muss das Mädchen zwischendurch mehrmals ablegen und neu schultern.
Der Mond schimmert auf dem Autodach. Sie schiebt das Mädchen und dann sich durch den Zaun. Von Brancos Leuten ist keiner in der Nähe.