Kapitel Neun

Connor

Connor hatte seinen Schlafsack, eine Taschenlampe und ein paar Kissen nach oben getragen. Er hatte ein Fertiggericht gekocht, das er am Geländer lehnend verspeiste, während er dabei zusah, wie sich die Nacht über den Nationalpark senkte.

Sie war wie ein seidenes Tuch, das sich beinahe schwerelos auf die beeindruckende Landschaft legte und sie sicher umhüllte.

Er hätte Licht machen können, aber heute begrüßte er die Dunkelheit. Er dachte zurück an Valen und daran, dass er nur das von ihm wusste, was er ihm erzählt hatte. Irgendwie gefiel ihm das, auch wenn er das Gefühl hatte, nur einen Teil seiner Geschichte erfahren zu haben. Es kam ihm vor, als wäre das erst der Prolog gewesen. Der Rest des Buches fehlte noch. Er wollte die Geschichte hören.

Heute Morgen war Patrick vorbeigekommen und sie hatten sich eine Weile miteinander unterhalten. Es hatte ihn all seine Selbstbeherrschung gekostet, Patrick nicht nach Valen auszufragen.

Es war nicht so, dass er schockiert war. Komischerweise war er das gar nicht. Nicht weil er Valen so eine Tat zutraute, sondern eher, weil er schon geahnt hatte, dass seine Geschichte groß war. Niemand zog sich so zurück wie er, wenn er nichts zu verbergen hatte.

Connor ging nach drinnen und nahm ein Bier aus der Kühlbox, die er nach oben getragen hatte. Sein Fuß war inzwischen vollständig verheilt und er war froh, dass er sich ohne Einschränkungen wieder bewegen konnte.

Er trank einen Schluck und sah dabei zu, wie der Mond immer deutlicher sichtbar wurde. Schnell dahinziehende Wolken streiften wieder sein goldenes Antlitz. Ein leichter Wind kühlte Connors warme Wangen.

Er sah auf, als ein Geräusch von unten ertönte. Er lauschte den Schritten, die sich näherten, und dann stand Valen plötzlich da.

Connor versuchte den Mann, den er bisher kennengelernt hatte, mit dem in Einklang zu bringen, der ihm vorgestern seine Geschichte anvertraut hatte.

Es wollte ihm nicht gelingen. Es war, als würden diese zwei Valens aus zwei verschiedenen Universen stammen.

»Ich kann auch wieder gehen«, sagte Valen und war schon dabei, kehrtzumachen, weil Connor ihn einfach anstarrte.

»Ich habe nur nicht mit dir gerechnet«, erwiderte Connor schnell, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. Er stieß sich vom Geländer ab, ging ins Innere des Turms und nahm die zweite und letzte Bierflasche aus der Kühlbox hervor.

Schweigend reichte er sie Valen, der sie zwar nahm, jedoch keine Anstalten machte, sie zu öffnen.

»Du trinkst Bier, oder?«

Valen starrte die Flasche an, dann nickte er langsam. »Ja … es … das letzte Mal ist nur schon sehr lange her.«

Connor wurde klar, dass er gerade von seinem Gefängnisaufenthalt sprach. »Du musst nicht … ich wollte dich nicht … in eine blöde Situation bringen«, sagte er zögernd. »Du bist nur mein Gast und …«

»Schon gut«, unterbrach ihn Valen. »Ich … ich halte es einfach noch ein bisschen in der Hand. Wenn das okay ist.«

»Was auch immer du mit der Flasche tun willst«, erwiderte Connor. Er lehnte sich wieder an das Geländer, das den oberen Teil des Feuerwachturms umgab. Die Galerie war zu schmal, um einen Stuhl aufzustellen und sich bequem hinzusetzen.

»Von hier oben sieht es spektakulärer aus«, sagte Valen und trat neben ihn.

Connor blieb nicht verborgen, dass mindestens drei weitere Menschen zwischen ihnen hätten stehen können, so groß war der Abstand.

»Gut, dass du gekommen bist, um es dir anzusehen«, erwiderte Connor.

Er stützte sich auf dem Geländer ab, hielt seine Bierflasche locker in den Händen und sah auf die mondbeschienene, silbern leuchtende Landschaft hinunter.

»Willst du keine Fragen stellen?«, fragte Valen irgendwann. »Ich meine … ich würde das tun.«

Connor lächelte. »Würdest du nicht.«

Valen lehnte sich etwas vor, sodass er bis auf den Boden hinuntersah. »Okay. Stimmt.«

»Du bist niemandem Rechenschaft schuldig.«

»Vielleicht wünsche ich mir aber, du würdest fragen.«

Connor wandte den Kopf. Er sah auf die Bierflasche in Valens Hand, dann wieder in seine Augen. »Warum?«

»Damit ich derjenige bin, der dir die Geschichte erzählt, bevor es jemand anderes tut.«

»Was würde das ändern?«

»Alles.«

Connor richtete sich auf, als er weitere Schritte vernahm. Gleich darauf kam Patrick auf die Plattform. Er blieb abrupt stehen und sah zwischen Valen und Connor hin und her.

»Ich wusste nicht, dass du … ist alles okay?«

Connor trat unwillkürlich einen Schritt zurück und stand somit zwischen Patrick und Valen. Er wusste nicht warum, aber er hatte irgendwie das Bedürfnis, ihn zu beschützen.

»Sicher. Wir sehen uns den Mond an.«

»Verstehe.«

»Und du?«, fragte Connor mit belegter Stimme.

»Ich bin scheinbar genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort«, erwiderte Patrick ernst. Sein Blick heftete sich auf Valen.

Connor hörte, wie der sich räusperte.

»Wenn du den Mond betrachten wolltest, bist du auf jeden Fall am richtigen Ort. Wenn du dabei ein Bier trinken wolltest, dann hast du den falschen Zeitpunkt erwischt.«

»Woher kennst du ihn?«, fragte Patrick und hielt seinen Blick fest auf Valen gerichtet.

»Er ist mein Nachbar«, erwiderte Connor. Warum fühlte es sich so an, als wäre er bei etwas Verbotenem erwischt worden? Verdammt, er hatte sich nur mit Valen unterhalten und Patricks Auftauchen und sein komisches Gebaren verwandelten diesen Moment in etwas Schmutziges.

»Hat dich niemand vor ihm gewarnt?«

Connor straffte die Schultern. »Doch. Valen hat mich unzählige Male vor sich selbst gewarnt. Aber ich bin echt nicht gut darin, auf Warnungen zu hören.«

»Solltest du«, sagte Patrick mit gepresster Stimme. Er trug nicht mehr seine Ranger Uniform, was bedeutete, dass er nicht im Dienst hier war. Warum war er hergekommen?

Connor hatte ihm zwar heute Morgen erzählt, dass er vorhatte, die Nacht hier oben zu verbringen, aber im Gegensatz zu Valen hatte er ihn nicht eingeladen, ihm Gesellschaft zu leisten.

»Brauchst du noch etwas? Du hast meine Berichte heute Morgen schon mitgenommen.«

Er wählte die unfeine Art, Patrick loszuwerden.

»Ja«, sagte Patrick, blieb aber bewegungslos stehen. »Dann mache ich mich mal auf den Heimweg.«

Patrick lebte in Addison. Er war eine verdammte Dreiviertelstunde lang hierhergefahren. Connor hatte absolut keine Ahnung, warum, aber die Situation war unangenehm genug, dass sich seine Nackenhaare aufstellten.

»Fahr vorsichtig«, sagte Connor, als Patrick sich endlich abwandte.

»Werde ich. Sei du auch vorsichtig.«

»Klar.«

Connor lauschte, bis Patricks Schritte verklungen waren. Vorhin war er offenbar zu abgelenkt gewesen, denn jetzt hörte er ganz deutlich das Motorengeräusch und die sich drehenden Räder.

»Ich sollte gehen«, sagte Valen.

»Finde ich nicht«, erwiderte Connor. Er drehte sich zu ihm um und stellte sich ihm in den Weg. »Ich habe dich eingeladen und du bist hergekommen. Es wäre unfreundlich, einfach zu gehen.«

»Du hast ihn doch gehört.«

»Ja, und? Er kennt dich nicht so wie ich.«

Valen lachte auf. »Du kennst mich nicht.«

»Aber ich könnte dich kennenlernen, oder? Erzähl es mir.«

Valen blinzelte. »Wie bitte?«

»Erzähl mir deine Geschichte. Das ist die erste Version, die ich hören werde. Deine Geschichte. Du wolltest sie erzählen, oder? Vorhin.«

Valen wich einen Schritt zurück, dann sah er wieder über die bewaldeten Hügel und Täler, die unter dem Turm lagen.

»Ich … ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich es kann.«

»Probier es einfach.«

»Vorgestern … da hast du gesagt, dass du getrauert hast. Dass ich dich aufgefangen und gehalten habe.«

Connor presste die Lippen aufeinander. Ihm wäre es ganz recht, wenn das Gesprächsthema bei Valen bleiben würde. Für ihn wäre das definitiv weniger schmerzhaft.

Trotzdem nickte er, weil er das Gefühl hatte, es Valen schuldig zu sein. Immerhin hatte er auch sehr pikante Details von sich selbst preisgegeben.

»Um wen trauerst du?«

»Um meinen Mann. Meinen … verstorbenen Mann«, erwiderte Connor. Sofort war alles wieder da. Das ganze Paket. Hilflosigkeit, Verzweiflung, diese unglaubliche, verdammte Einsamkeit, die er einfach nicht loswurde, egal wie sehr er sich unter Menschen mischte.

Die Schuld.

Oh, ja. Die war überall. In seinem Herzen und jedem Herzschlag, in jedem Luftzug, den er tat und Gregory nicht.

»Tut mir leid, Connor«, sagte Valen ernst, dann lehnte er sich wieder an das Geländer. Er hatte noch immer nicht von seinem Bier getrunken und Connor fragte sich so langsam, warum.

»Danke«, erwiderte er und schluckte gegen den Kloß in seinem Hals an. Er würde nicht in Tränen ausbrechen. Nicht schon wieder. Das ging nicht.

»Mein Verlobter wurde erschlagen, mit Brennmittel übergossen und in Brand gesetzt. Unser Haus ist abgebrannt. Ich war der Hauptverdächtige, weil ich wenige Tage zuvor erfahren habe, dass Simon schon seit längerem eine Affäre mit einem anderen Mann hatte. Sie dachten, ich hätte mich an ihm gerächt.«

Connor trat ein paar Schritte zur Seite, dann stellte er die Bierflasche auf den Boden und holte tief Luft. »Und hast du es getan?«

»Nein«, erwiderte Valen. »Nein. Habe ich nicht.«

»Trotzdem warst du im Gefängnis.«

»Ja.«

»Sie haben also Beweise gefunden?«

»Sie hatten mein Geständnis.«

Connor starrte Valen an, der steif vor ihm stand. »Du hast ein falsches Geständnis abgelegt?«

»Ja.«

»Warum?«, fragte er fassungslos.

»Weil … weil ich nicht mehr konnte.«

Connor ahnte, dass Valens Geschichte schmerzhaft und traurig war. Er blickte zum Vollmond hinauf, der sie heute hier zusammengeführt hatte, dann trat er wieder ans Geländer. »Warum erzählst du mir das?«

Valen seufzte und lehnte sich ebenfalls wieder ans Geländer. »Ich … keine Ahnung. Du bist der erste Mensch, den ich seit meiner Entlassung kennenlerne, der mich nicht schon aus dem Fernsehen oder der Zeitung kennt und sich noch kein Urteil über mich gebildet hat. Es ist schön, zu wissen, dass man eine Chance hat.«

Connor sah Valen an. »Die hast du«, sagte er leise und er wusste selbst nicht, wie er das meinte. Es kam einfach so aus seinem Mund und es fühlte sich in allen möglichen Versionen richtig an.

Valen neigte den Kopf. »Danke.«

Connor lächelte, dann nickte er zu Valens noch immer unangetasteter Bierflasche. »Wirst du es trinken?«

»Ja. Ja, ich glaube, ich nehme einen Schluck«, sagte Valen. Er betrachtete die Bierflasche noch eine Weile, als würde sie ihm eine Geschichte erzählen, als trüge sie eine Wahrheit in sich, die er erst noch entschlüsseln müsste.

Und dann trank er einen Schluck.

Sein Kehlkopf bewegte sich, als er schluckte und Connor konnte nur darauf starren. Valen löste etwas in ihm aus. Er übte eine Anziehung auf ihn aus, die er noch nie zuvor gespürt hatte. Nicht mal bei Gregory. Ein ursprüngliches Verlangen danach, sich ihm anzubieten, darum zu betteln, dass Valen seine Kraft an ihm anwandte, dass er ihn hielt, beschützte oder zerbrach. Was auch immer er wollte.

Es war ein ungesundes Verlangen, und Connor wusste das auch. Deshalb war er auch mit einem zuverlässigen, stillen Mann wie Gregory verheiratet gewesen. Er hatte es geschafft, seine ungesunden Wünsche in andere Fahrwasser zu steuern. Er hatte dafür gesorgt, dass er Respekt vor sich selbst hatte, er hatte ihn ruhiger gemacht.

Aber Gregory war nicht mehr da. Dafür stand Valen jetzt neben ihm und verkörperte alle verborgenen Sehnsüchte in sich, eine bedrohliche Stärke, die seiner eigenen Kraft überlegen war. Eine Sanftmut, die er nicht ganz einschätzen konnte, und die dadurch ihren ganz eigenen Reiz auf ihn ausübte.

Valen wandte den Kopf und betrachtete ihn. Er bewegte sich kein Stück, trotzdem war seine Präsenz einfach nur erregend.

Connor schluckte, konnte den Blick aber nicht lösen. Valen hatte ihm seine dunkelsten Geheimnisse erzählt, trotzdem sah er keine Bedrohung in ihm.

Er war Valen, der geheimnisvolle, schweigsame Riese, der ihn in seinen Bann zog, der seinen Körper eroberte, obwohl er nichts tat, nur da stand.

»Keine gute Idee, Connor«, sagte Valen und richtete sich auf. »Ich gehe jetzt.«

»Und wenn du bleibst?«

»Dann wirst du es bereuen«, gab Valen zurück.

»Und wenn nicht?«

»Und wenn doch?«

»Ja, was dann?«, fragte Connor und schluckte schwer. »Was passiert dann?«

»Dann ignoriert mich der einzige Mensch, mit dem ich mich unterhalten kann und ich weiß nicht, was ich dann tun werde.«

Connor starrte Valen an und seine Worte sickerten ihm langsam ins Gehirn. Die Tragweite von Valens Angst erfasste er nur langsam, sie zog sich durch das Begehren in seinem Kopf.

Er schluckte wieder. Hart und trocken, dann nickte er. »Tut mir leid.«

»Es tut mir leid, Connor. Ich kann dir das nicht geben.«

»Okay.«

»Gut. Ich gehe jetzt«, wiederholte Valen.

»Es war schön, dass du hier warst«, sagte Connor leise.

Valen, der bereits an ihm vorbeigegangen war, hielt inne, drehte sich aber nicht zu ihm um. »Finde ich auch.«

Connor lauschte Valens Weg die Treppen nach unten. Er war nicht mehr als ein dunkler Schatten, der sich irgendwann über den Platz bewegte und dann von den Bäumen verschluckt wurde.