Valen
Er war ruhelos. Ein Gefühl, das er im Laufe der vergangenen Jahre größtenteils abgelegt hatte. Zumindest, wenn er sich in der sicheren Umgebung seiner Hütte aufhielt.
Aber jetzt war da noch jemand. Jemand, der sich unversehens in sein Leben und irgendwie auch in sein Herz geschlichen hatte. Jemand, der eine Sehnsucht in ihm heraufbeschwor, die er so nicht kannte, und von der er nicht erwartet hatte, dass sie nochmals einen Platz in seinem Leben finden würde.
Aber jetzt war sie da. Die Sehnsucht danach, Connor zu besuchen, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, für ein paar Augenblicke seine eigene Einsamkeit zu verlassen und sich in die Geborgenheit des anderen Mannes zu begeben.
Aber er konnte nicht. Er wusste, dass Connor eine Antwort auf seine Frage erwartete. Wann immer sie wieder aufeinandertreffen würden, müsste er eine Entscheidung treffen, und das konnte er nicht. Er war nicht bereit. Er war nicht … das echte Leben war nichts mehr für ihn. Ihm gehörte die Einsamkeit und Abgeschiedenheit und seit vier Jahren hatte er das nie infrage gestellt.
Und jetzt wollte Connor ein Date mit ihm. Inmitten anderer Menschen. Menschen, die ihn erkennen würden, die ihn verurteilten und ausgrenzten. Vier Jahre hatten ausgereicht, um ihm begreiflich zu machen, dass es keinen Ort auf dieser Welt gab, an dem er sich verstecken konnte.
Es waren inzwischen sieben Tage vergangen, seit er Connor das letzte Mal gesehen hatte. Vermutlich war der inzwischen sauer und enttäuscht. Vielleicht hatte er sich längst von ihm abgewendet und dafür Patrick eine Chance gegeben.
Der Gedanke schnürte ihm den Hals zu. Mit einem unguten Gefühl öffnete er sein Postfach und holte den wöchentlichen Brief heraus. Er bekam nicht mehr sehr häufig Post. Hin und wieder Rechnungen, ansonsten hatte er keinerlei Ausgaben. Aber seit zweihundertacht Wochen bekam er einen Brief. Er hielt ihn für einen Moment in der Hand, wie er es immer tat. Zweihundertacht Umschläge, in denen sich jeweils vier Papiere befanden. Vier Briefe. Lexi, Morgan, Blue und Finn, die ihm Woche für Woche einen Brief schrieben. Handschriftlich erzählten sie ihm von ihren Leben und baten ihn jedes Mal, sich bei ihnen zu melden, wenn er dazu bereit war.
Anfangs hatte er die Briefe noch gelesen. Damals, als er selbst noch daran geglaubt hatte, dass er wirklich frei war und nur Zeit brauchte, bis er wieder in der Realität ankam. Aber die Wochen, Monate und Jahre waren vergangen und Valen wusste inzwischen, dass er nicht zurückkehren konnte.
Seine Freunde hatten gemeinsam eine Klinik aufgebaut mit unterschiedlichen Fachgebieten. Er war Herzchirurg gewesen, auf dem besten Weg, eine glanzvolle Karriere hinzulegen. Eine eigene Klinik mit dreißig Jahren. Himmel, ein vollkommenes Leben hatte vor ihm gelegen, und jetzt war nichts mehr davon übrig.
Valen betrachtete nachdenklich den Umschlag. So ganz stimmte es nicht. Seit vier Jahren warteten seine Freunde darauf, dass er seinen Platz in der Klinik einnahm. Aber sie wussten es nicht. Sie konnten ja nicht ahnen, dass seine Gefangenschaft nie geendet hatte und dass ein Freispruch nicht die Erinnerungen aus den Köpfen der Menschen löschte.
Wenn er Teilhaber der Klinik werden würde, würde er seine Freunde ruinieren. Sein Ruf würde alles kaputtmachen. Es gab kaum einen Menschen in Amerika, der nicht von seiner Geschichte gehört hatte. Und es gab genauso wenige Menschen, die ihm ihren Körper anvertrauen würden.
Valen verließ die Poststation und warf den Brief in den Mülleimer, wie er es immer tat. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt entdeckte er Connors Truck und für einen Augenblick war er versucht, ihm dort hinein zu folgen. Aber er hatte vorhin schon eingekauft und nicht vor, sich ein zweites Mal dem Spott der Einwohner von Addison auszuliefern.
Er ging gerade auf seinen Truck zu, als er Stacys Stimme hörte. Er drehte sich zu ihr um und lächelte unwillkürlich. Stacy war die einzige Freundin, die er in diesem Ort hatte – abgesehen von Connor vielleicht. Dennoch musste ihre Freundschaft geheim bleiben. Auch sie könnte ruiniert werden.
»Tee?«, fragte sie leise.
Valen wollte ablehnen, wie er es immer tat, aber dann entschied er sich um. »Ich nehme den Hintereingang«, sagte er und ging los, ohne sich nochmal nach Stacy umzusehen.
Er umging den Häuserblock und schob gleich darauf die Hintertür zu Stacys Galerie auf, die sie für ihn geöffnet haben musste. Sorgfältig verschloss er sie, dann ging er in die kleine Küche, in der Stacy bereits stand und gerade Wasser in eine Tasse gab, in der ein Teebeutel schwamm.
»Schön, dass du gekommen bist«, sagte sie, freundlich wie immer. Sie war eine zarte, fast schon feengleiche Person, klug, gebildet und immer freundlich und fair zu ihm gewesen. Sie war eine der wenigen, die ihn nicht verurteilten.
Jetzt zog sie den Teebeutel langsam durch ihre Tasse. Das Schöne an Begegnungen mit Stacy war, dass sie ihn nie bedrängte, zu reden. Mit ihr konnte man wunderbar schweigen. Immer, bis auf heute.
Sie legte den Kopf schräg und betrachtete ihn eingehend. »Okay, was ist passiert?«
Valen runzelte die Stirn. »Äh … nichts?«
Stacy schnalzte mit der Zunge. »Oh doch. Etwas ist anders. Du … du siehst anders aus.«
»Das kann aber nicht sein, ich sehe nämlich aus wie immer«, gab Valen zurück.
»Tust du nicht. Du … du siehst irgendwie … glücklich aus? Was ist das da in deinem Gesicht?« Stacy zeigte auf ihn und verzog die Augen zu schmalen Schlitzen.
»Kannst du bitte aufhören? Ich fange an, den Tee zu bereuen.«
»Du lächelst«, sagte Stacy. »Du lächelst sonst nie. Also ist etwas anders. Warum lächelst du?«
Valen presste die Lippen aufeinander, zu seiner Schande spürte er aber selbst, wie sich seine Mundwinkel hoben. Verdammt.
»Und jetzt tust du es wieder. Was verbirgst du vor mir?«
»Gar nichts. Ich …« Valen kam der Gedanke, dass Stacy der richtige Mensch sein könnte, um seine Gedanken und Ängste loszuwerden. Sie waren schließlich so etwas wie Freunde. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Sicher. Wenn du mir dabei verrätst, warum du lächelst, wäre ich dir sehr verbunden.«
Valen seufzte und stellte seine Teetasse auf die Anrichte. »Es gibt da diesen Mann. Der Feuerturmwächter.«
»Connor«, sagte Stacy und nickte. »Ich habe ihn bereits kennengelernt. Er schien mir sehr nett zu sein. Moment mal … macht er dir Probleme? Ihr wohnt nahe beieinander und …«
»Er machte keine Probleme«, sagte Valen schnell. »Im Gegenteil, er ist … er ist so etwas wie ein Freund?« Valen verstummte und schlug sich innerlich mit der Hand gegen die Stirn. Er benahm sich so verdammt unbeholfen, das war einfach nur peinlich!
»Ein Freund also«, sagte Stacy mit vergnügtem Unterton. »Erzähl mir mehr. Mein Gossip-Herz pocht gerade ganz arg.«
»Du wirst das niemandem weitererzählen«, sagte Valen schnell. »Ernsthaft. Das … du darfst niemandem sagen, was …«
Stacy legte Valen die Hand auf den Arm und drückte ihn sachte. »Ich werde kein Wort zu niemandem sagen, mach dir keine Sorgen.«
Valen holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. »Okay. Gut. Ich … also … lach mich nicht aus. Ich mag ihn.«
»Connor?«, fragte Stacy. Sie brauchte einen Moment, bis sie die Reichweite seiner Aussage verstand. »Oh! Du magst ihn. Ich wusste nicht, dass er …« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Du magst ihn«, wiederholte sie.
Valen verdrehte die Augen und zeigte mit dem Finger auf sie. »Sag das nicht so.«
»Wie soll ich es denn sonst sagen?«
»Auf eine erwachsene Art.«
»Langweilig«, erwiderte Stacy nur. »Erzähl weiter. Ich will Details.«
»Du bekommst keine Details«, sagte Valen entschieden. »Aber vielleicht könntest du mir einen Rat geben.«
»Ratschläge vergebe ich nur, wenn ich die ganze Sachlage kenne.« Das Grinsen auf Stacys Gesicht war verschlagen.
»Versuch es einfach«, erwiderte Valen. Er leerte seine Tasse, dann drehte er sich zum Waschbecken um und wusch sie ab. »Er hat mich zu einem Date eingeladen.«
Stacys Augen weiteten sich und wieder grinste sie. Breit und dreckig und viel zu wissend.
»Ein Date«, sagte sie mit bedeutungsschwerer Stimme. »Das ist so cool. Er ist cool, oder?«
Valen lächelte, als er an Connor dachte, der sich gar nicht weit von ihm entfernt aufhielt. Das war ein gutes Gefühl. »Ziemlich cool, ja. Aber ich kann nicht.«
Stacys Lächeln verblasste. »Du kannst nicht mit ihm ausgehen?«
Valen nickte. »Es geht nicht.«
»Also … ich kenne diesen Connor eigentlich kaum, aber er ist nett und sieht gut aus, und ehrlich, wenn dieser Kerl mich um ein Date bitten würde, dann säße ich schon in seinem Wagen, noch bevor er seine Frage zu Ende gestellt hat.«
»Nun, so impulsiv bin ich nicht.«
Stacy kicherte. »Das stimmt wohl. Was hast du ihm denn gesagt?«
»Nichts.«
Wieder ungläubiges Augenaufreißen. »Nichts? Einfach nichts? Null? Zero?«
»Nichts«, wiederholte Valen. »Ich konnte nicht.«
»Und warum bitte nicht? Connor ist sexy, und ganz offensichtlich will er Zeit mit dir verbringen. Wo ist das Problem?«
»Es … ich bin raus, okay? Ich bin vierundvierzig Jahre alt, und mein letztes Date liegt Dekaden zurück. Und hinzu kommt auch noch, dass dieses Date nirgendwo hinführen wird. Connor wird Ende der Waldbrandsaison nach Seattle zurückkehren, in sein normales Leben. Und ich … nicht. Ich bleibe hier. Also … nein. Ein Date ist wirklich keine gute Idee.«
Stacy verschränkte die Arme vor der Brust. »Du wünschst dir also etwas Festes mit ihm?«
Valen schüttelte entsetzt den Kopf. »Nein! Ich … wir beide wissen, dass das nicht möglich ist.«
Stacy lachte, als sie aber seinen Blick bemerkte, verstummte sie und biss sich auf die Unterlippe. »Wir beide wissen, dass du längst überfällig bist.«
»Überfällig?«
»Ja. Mit Dates und heißen Affären und Sexabenteuern.«
»Stacy«, sagte Valen und spürte, wie seine Wangen heiß wurden.
»Ist doch wahr. Du bist ein gutaussehender Mann und solltest nicht dort oben versauern. Und zufällig wohnt jetzt ein zweiter gutaussehender Mann dort oben. Also krall ihn dir. Nimm dir, was er dir anbietet.«
»Und was, wenn … wenn ich es nicht mehr kann?«
»Sex?«
Valen verdrehte die Augen. Immerhin das konnte er noch. Der Beweis lag allerdings schon wieder viel zu lange zurück. »Nicht Sex. Daten.«
»Das verlernt man nicht. Es ist wie Fahrrad fahren.«
»Ich war noch nie gut im Fahrradfahren.«
»Was hast du zu verlieren? Du könntest eine tolle Zeit mit ihm haben. Ohne an später zu denken. Genieße einfach, was ihr jetzt miteinander habt.«
»Das klingt viel leichter, als es ist.«
»Es ist leicht, Val. Es ist wirklich leicht. Schalte einfach deinen Kopf und alle deine Befürchtungen aus und genieß die Zeit mit ihm.«
Valen starrte auf den Boden, während seine Gedanken rasten. Konnte es wirklich so einfach sein? Konnte er es noch einmal wagen, einen Menschen so nahe an sich heranzulassen?
Immerhin hatte er mit Connor geschlafen, näher ging es fast nicht. Aber Sex ging auch mit emotionaler Distanz. Nur dass es mit Connor nicht so war. Connor bedeutete ihm schon längst viel mehr, als er es sich selbst eingestehen wollte.
Und das ängstigte ihn wirklich zu Tode.