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Ein ungewöhnlicher Bewohner

Es dauerte eine ganze Weile, bis jeder ein Foto mit Goliath und Nordis gemacht hatte. Geduldig half Frau Schnabel allen mit dem dicken Lederhandschuh und beim richtigen Halten der Vögel. Währenddessen beantwortete sie auch noch die Fragen der Teilnehmer. Einen fand Flora ziemlich unsympathisch.

»Eigentlich bin ich nur wegen meiner Frau hier, weil sie Eulen so faszinierend findet«, erklärte er mürrisch. »Ich kann das gar nicht verstehen. Mich machen Tiere in Gefangenschaft immer traurig. Eulen wollen doch bestimmt viel lieber draußen im Wald leben, als im Käfig zu sitzen.«

»Den Eulen fehlt es hier an nichts«, versicherte ihm Frau Schnabel freundlich. Flora bewunderte sie dafür, denn sie fand den vorwurfsvollen Ton des Mannes ganz schön unverschämt.

»Manche von ihnen werden auch ausgewildert«, fuhr Frau Schnabel fort. »Aber für andere ist der beste Platz hier bei uns.«

»Ach, wenn man die lassen würde, dann wären alle weg«, erwiderte der Mann nur. Flora bemerkte, wie seine Frau ihm ungehaltene Blicke zuwarf. Bestimmt waren ihr die Äußerungen ihres Mannes peinlich. Flora war froh, als sich die beiden verabschiedeten. Nach und nach gingen auch die anderen Teilnehmer, doch Flora konnte sich nur schweren Herzens von den wunderschönen Eulen trennen. Und auch das alte Gemäuer des Klosters übte eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus. Da waren so viele verschlossene Türen, so viele Räume, die sie noch gern erkundet hätte. Sie überredete ihren Vater, sich ganz kurz ein bisschen umzuschauen.

In einem Hof abseits entdeckten sie Frau Schnabel, die gerade Nordis in ihren Käfig zurückbrachte. Hier reihte sich Voliere an Voliere, alle mit viel Grünzeug, Ästen und dicken Baumstümpfen darin. Flora wollte sich das genauer anschauen, aber ihr Vater drängte nach Hause.

»Wir können ja mal wiederkommen«, versprach er. »Jetzt ist es spät, Frau Schnabel möchte sicher Schluss machen. Und die Eulen auch«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Flora wollte protestieren, aber dann überlegte sie es sich. Eigentlich war es ja sogar besser, wiederzukommen und sich dann alles in Ruhe anzuschauen. Auch die Räume, die nun schon verschlossen waren.

Als sie ihrem Vater Richtung Ausgang folgte, bemerkte sie, dass in dem Türmchen am Eingang Licht brannte. War noch jemand außer Frau Schnabel hier? Neugierig spickte Flora durch eine der Öffnungen ins Innere. Nein, da brannte keine Lampe, der helle Schein kam vom letzten Licht der untergehenden Sonne. Genauer gesagt von den goldenen Malereien auf der weiß getünchten Wand, die die Strahlen reflektierten.

»Sieh mal, Papa, da!«, flüsterte Flora. Ihr Vater trat neben sie und gemeinsam betrachteten sie schweigend die hölzerne Eulenstatue, die in einer Nische in der Wand stand. Wie kunstvoll sie geschnitzt war! Jede einzelne Feder war fein geformt, die Augen in dem runden Kopf sogar orange angemalt.

»Sieht aus wie ein Waldkauz«, sagte Herr Faltin leise. Spürte auch er die besondere Atmosphäre, die in diesem kleinen Raum herrschte?

Flora nickte. Ja, das braune Holz der Statue passte zur Gefiederfarbe eines Waldkauzes. Aufgemalte Blattranken und zart gestrichelte Federn, die sich wie zwei Säbel kreuzten, rahmten die halbrunde Nische ein, in der die Statue stand. Plötzlich zuckte Flora zurück. Ein Vogel segelte direkt neben ihr durch eine der Maueröffnungen ins Innere. Das auffallend gelbe Gefieder von Kopf und Brust strahlte mit dem verblassten Gold auf den gekreuzten Eulenfedern um die Wette.

»Eine Goldammer«, stellte Herr Faltin verwundert fest. »Was will die denn hier?«

»Wir müssen ihr helfen, Papa! Sie hat sich bestimmt verflogen«, meinte Flora aufgeregt.

»Keine Sorge, dieser Vogel wohnt hier«, erklang da eine Stimme hinter ihnen. Flora wirbelte herum und auch ihr Vater zuckte zusammen. Frau Schnabel!

»Ich wollte gerade zuschließen, da habe ich Sie gesehen«, erklärte die Falknerin freundlich.

Floras Herz, das immer noch hektisch gegen ihre Brust wummerte, beruhigte sich nur langsam.

»Wie kann ein Vogel da drin wohnen?«, wollte sie wissen. »Vögel leben doch in Bäumen oder nisten im Stall unter dem Dach. Aber doch nicht in so einem Turm, in den jeder reinkann.«

»Auch Vögel haben ihre Eigenheiten«, erwiderte Frau Schnabel mit einem vielsagenden Lächeln. »Und diesem scheint es hier zu gefallen. Er ist schon vor ein paar Wochen eingezogen.«

Flora schüttelte verwundert den Kopf. »Was hat es denn mit dieser Statue auf sich? Und was sollen diese Federn?« Das interessierte sie eigentlich noch mehr als der kleine Vogel.

Frau Schnabel zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich leider auch nicht so genau. Aber wie gesagt, man findet im Kloster immer wieder Darstellungen von Eulen. Ich denke, sie sind einfach ein Zeichen für Klugheit und Wissen.«

Das klang zwar einleuchtend, aber Flora hätte es gern genauer gewusst.

»Für was war dieses Türmchen eigentlich früher da?«, fragte sie weiter. »War das so was wie ein Kassenhäuschen, in dem man Eintritt gezahlt hat?«

Frau Schnabel lachte. »Nein, Eintritt musste man nicht bezahlen fürs Kloster. Aber die Nonnen wollten sicher auch nicht jeden reinlassen. Deswegen stand hier im Türmchen ein Wächter, der sie beschützt hat.«

Nachdenklich betrachtete Flora den kleinen Vogel, der auf einem Sims im Innern Platz genommen hatte. Vielleicht war die Goldammer jetzt auch so etwas wie ein Wächter? Aber wen sollte sie bewachen? Die Eulen? Oder irgendetwas Kostbares, das das Kloster verborgen hielt?

»Wenn du’s genauer wissen willst, dann musst du das in der alten Chronik nachlesen«, empfahl ihr Frau Schnabel.

»Und wo ist die?«, fragte Flora.

»Das Original ist im Museum für Landesgeschichte, soweit ich weiß«, meinte Frau Schnabel. »Da gibt es besondere Klimaanlagen, damit das alte Papier nicht kaputtgeht. Aber wir haben so was wie eine Kopie in der Klosterbibliothek. Da kenne ich mich allerdings nicht so gut aus, ich bin ja nur für die Eulen zuständig. Zu diesem Thema kannst du mich dafür alles fragen«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.

»Sehr freundlich, Frau Schnabel, doch wir müssen jetzt wirklich los«, schaltete sich Herr Faltin nun ein.

»Wir kommen aber wieder, du hast es versprochen!«, erinnerte Flora ihren Vater.

Herr Faltin legte den Arm um seine Tochter. »Das habe ich. Und versprochen ist versprochen, das wird auch nicht gebrochen.«

Flora blickte nachdenklich auf die Feder, die Frau Schnabel ihr geschenkt hatte. Und dann noch mal auf das Türmchen mit seinem verheißungsvollen goldenen Schimmern. Irgendetwas hatte es mit diesem Ort auf sich, das spürte Flora ganz genau …