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Seltsame Vorgänge

Felix war schon im Bett, als Flora mit ihrem Vater nach Hause kam. Ihre Mutter saß mit einem Buch auf dem Sofa, während aus dem Radio leise Klaviermusik erklang.

»Na, wie war’s? Habt ihr viele Eulen gesehen?«, wollte sie wissen.

»Richtig viele!«, verkündete Flora. »Und mit ein paar durften wir sogar Fotos machen.«

An Herrn Faltins Handy schauten sie sich die Bilder an, die er geschossen hatte. Nicht nur von Robin und Flora, sondern auch von den anderen Eulen. Flora konnte gar nicht aufhören, von Nordis, der schönen Schneeeule, dem Uhu und all den Käuzen zu erzählen.

Ihre Mutter hörte gespannt zu und betrachtete Nordis’ Feder von allen Seiten.

»Das klingt nach einem wirklich außergewöhnlichen Abend«, meinte sie.

»Ich möchte unbedingt ganz bald wieder hin«, sagte Flora. »Papa hat es mir versprochen.«

Ihr Vater nickte und warf einen Blick auf die Uhr. »Ja, doch für heute ist es genug mit Eulen. Ab ins Bett mit dir.«

Flora protestierte nicht, aber natürlich war es noch nicht genug. Sie wollte doch zu Goldwing und ihr alles erzählen!

Ungeduldig lag sie in ihrem Bett und wartete darauf, dass ihre Eltern schlafen gingen. Endlich wurde es ruhig und Flora wagte es, sich leise anzuziehen und nach draußen zu schleichen.

Schon von Weitem sah sie Goldwing in einer der drei großen Tannen hinten beim alten Baumhaus sitzen. Besser gesagt, sie sah die orangefarbenen Augen, die ihr zwischen den dunklen Zweigen entgegenleuchteten.

Kaum war Flora bei ihr, zog sie den Eulenring aus der Hosentasche, um Goldwing zu verwandeln. Doch heute verharrte für ein paar Sekunden nur ein goldener Hauch auf ihren Flügeln. Schwach und zart war das sonst strahlende Gold zunächst bloß zu erahnen. Aber gerade als Flora anfing, sich Sorgen zu machen, begann es zu leuchten. Auch Goldwing blickte etwas verwundert auf ihre Flügel.

»Ist irgendwas?«, fragte Flora. »Geht es dir nicht gut?«

Goldwing schüttelte sich, als ob sich mit ein bisschen Schütteln alles wieder zurechtrüttelte.

»Ich weiß auch nicht. Irgendwie ist das beim Verwandeln komisch«, gestand sie. »Gestern habe ich mich so geschwächt gefühlt danach, meine Flügel waren beim Fliegen ganz schwer.«

Flora erschrak. Goldwing fühlte sich schwach? Was war da los? »Vielleicht kommt das von dieser Wünscherei am See?«, überlegte sie. »Wahrscheinlich kostet das alles sehr viel Kraft.« Plötzlich war ihr ziemlich mulmig zumute.

Goldwing zögerte. »Meinst du? Als wir uns Johanns Eltern herbeigewünscht haben, habe ich mich danach überhaupt nicht geschwächt gefühlt. Vielleicht bin ich einfach etwas schlapp. Geht dir doch manchmal auch so, oder?«

»Ja, stimmt«, gab Flora ihr recht. »Manchmal hab ich so ein Ziehen in den Beinen. Meine Mutter meint dann immer, das sind Wachstumsschmerzen.«

Goldwings Augen leuchteten auf. »Vielleicht werde ich doch noch ein großer Uhu!«, meinte sie und Flora hörte, wie belustigt sie klang.

Der Uhu war das Stichwort. Begeistert erzählte sie Goldwing von den Eulen und Käuzen im Kloster, während Goldwing ihr mit aufmerksam aufgerichteten Ohren lauschte.

»Eine Schneeeule aus dem Norden, eine Zwergohreule aus Italien … In diesem Kloster ist ja die ganze Welt versammelt«, meinte sie. »Da muss ich unbedingt hin, das möchte ich mir anschauen.«

Flora beschrieb ihr den Weg, meinte jedoch: »Vielleicht wartest du lieber, bis du dich wieder besser fühlst, und ruhst dich erst aus?«

Goldwing schüttelte den Kopf. »Wegen ein bisschen Wachstumsschmerzen muss man doch nicht im Baum hocken.«

Flora schmunzelte. »Das stimmt. Aber pass auf dich auf.«

Liebevoll strich sie ihrer Zaubereule über den Kopf, die die Ohren ganz eng anlegte und die Augen halb geschlossen hielt. Wie süß das aussah! Etwas lag Flora aber noch auf dem Herzen, und das musste sie jetzt unbedingt loswerden.

»Es tut mir leid, dass ich dich so angeschnauzt habe«, sagte sie leise. »Ich hab’s nicht böse gemeint.«

»Das weiß ich«, erwiderte Goldwing sanft. »Manchmal macht einen was wütend und später versteht man gar nicht mehr, warum.«

Flora nickte. Genauso war’s!

»Aber gute Freunde bringt so schnell nichts auseinander, oder?«, fragte Goldwing und drückte sich an Floras Seite.

»Auf keinen Fall, niemals!«, rief Flora entschlossen und legte beide Hände um ihre kleine Eule. »Und das wird immer so bleiben.«

Glücklich kuschelte sich Flora wenig später in ihr Kissen. Sie war so froh, dass sie sich bei Goldwing entschuldigt hatte und nun alles wieder gut war. Zumindest fast alles. Auch das Zurückverwandeln hatte nämlich wieder viel länger gedauert als sonst. Flora war es fast noch länger vorgekommen als beim letzten Mal. Würde das jetzt immer schlimmer werden? Oder war irgendwann einfach alles wieder normal? Wachstumsschmerzen gingen ja auch wieder weg. So würde es sein, ganz sicher, versuchte Flora, sich zu beruhigen.

Ob Goldwing jetzt schon im Kloster war? Sie stellte sich ihre Eule bei Goliath, Nordis und all den anderen vor. Wie wunderschön wäre das, wenn sie mal alle miteinander fliegen könnten! Uhu, Schneeeule, Brillenkauz, Schleiereule … alle nebeneinander dem Mond entgegen, der wie eine riesige silberne Münze am Sternenhimmel schwebte. Und wenn das dann alles Zaubereulen wären, vereint durch geheime magische Kräfte … So träumte Flora vor sich hin und sah dieses Zauberteam anfliegen gegen Schwärme von schwarzen Vögeln, die sie mit ihren strahlenden Flügeln verjagten und im Dunkel der Nacht verschwinden ließen.

Toch, toch, toch.

Nur widerwillig nahm Flora dieses Geräusch wahr. Warum machten die Regentropfen immer so einen Lärm auf dem Blech des Fenstersimses! Sie wollte doch so gerne noch ein bisschen mit den Zaubereulen fliegen …

Toch, toch, toch. Da war es wieder. Nein, das waren keine Regentropfen! Flora blinzelte und schaute verschlafen nach draußen. Da saß ja Goldwing!

Toch, toch, toch, erklang es, als sie erneut gegen die Scheibe pickte. Schlagartig war Flora hellwach. Wenn Goldwing sie weckte, dann musste was passiert sein. Mit einem Satz war sie aus dem Bett, um die kleine Eule hereinzulassen. Sie flatterte auf die Lehne von Floras Schreibtischstuhl und schaute sie mit großen Augen an. Ihre Brust hob und senkte sich schnell, sie schien ziemlich außer Atem zu sein. Flora holte sofort ihren Eulenring und diesmal kam es ihr schon fast wie eine halbe Ewigkeit vor, bis Goldwing sich verwandelt hatte. Aber das lag sicher auch daran, dass Flora vor Ungeduld beinahe platzte.

»Die Eulen sind weg«, sprudelte Goldwing hervor, kaum dass ihre Flügel im Gold erstrahlten.

»Wie, weg?«, fragte Flora, als ob sie sich verhört hätte. »Alle Eulen?«

»Na ja, nicht alle, aber die Schneeeule und der Brillenkauz«, erklärte Goldwing etwas abgehackt. Sie war wirklich ziemlich außer Atem.

Für einen Moment starrte Flora Goldwing nur an, in ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander.

»Dann muss sie jemand freigelassen haben! Die Eulen kriegen die Käfige schließlich nicht alleine auf«, murmelte sie.

»Aber warum denn?«, wollte Goldwing wissen.

Flora zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht war das der unsympathische Mann, von dem ich dir erzählt habe. Er hat doch gesagt, dass ihm Tiere in Gefangenschaft leidtun.«

»Und dann klettert er einfach nachts über die Klostermauer und lässt die zwei frei? Und warum nicht alle?« Goldwing schüttelte den Kopf. Nein, das klang nicht sehr überzeugend. »Außerdem haben die anderen Eulen so komisch herumgedruckst«, fuhr sie fort. »Es wäre schon alles in Ordnung mit Nordis und Klaro, haben sie gesagt. Ich habe sie natürlich gefragt, ob sie irgendwas beobachtet haben, aber das haben sie anscheinend nicht.«

»Die müssen doch etwas gesehen haben!«, beharrte Flora aufgebracht. »Wahrscheinlich finden die zwei nicht mehr zurück und flattern irgendwo verloren durch den Wald. Können wir ihnen nicht helfen?« Sie starrte vor sich hin und dachte nach. Da fielen ihr Securo und der See ein. Natürlich!

»Goldwing, Frau Schnabel hat mir doch die Feder von Nordis geschenkt. Könnten wir damit die Eulen nicht irgendwie zum See leiten, so wie bei den Käuzen mit dem Freundschaftsband? Das war etwas, das die Käuze hatten und wir auch. Eine Verbindung sozusagen. So wäre es jetzt mit Nordis’ Feder genauso.«

Gespannt blickte sie Goldwing an, die zunächst schwieg. Ihre Ohren zuckten in alle Richtungen, während sie über Floras Worte nachdachte. Schließlich nickte sie. »Das könnten wir versuchen!«

Flora sprang sofort auf. Mit zitternden Händen holte sie die Feder aus ihrer Schatzkiste unter dem Schrank. Sie spürte ganz genau: Jetzt zählte jede Minute!