12

Goldwing ist nicht allein

Als Flora beim Reiterhof ankam, war Miri schon da. Flora sah bereits von Weitem ihr Fahrrad, das am Pfosten des Außenreitplatzes lehnte. Doch als sie die Stallgasse betrat, war noch jemand anderes da. Nathalie! Flora stockte. Hoffentlich hielt sie sich mit blöden Bemerkungen zurück. Dafür hatte Flora jetzt wirklich keinen Nerv. Doch Nathalie stand nur da und starrte wieder so komisch vor sich hin …

In diesem Moment trat Sarah aus einer Box und Flora hörte sie fragen: »Kommen Emilie und Lea auch noch?«

»Ja, demnächst, ich muss nämlich gleich weg«, erwiderte Nathalie. »In einer halben Stunde ruft mich eine Verwandte an, die mir vor ein paar Tagen einen Brief geschickt hat. Wir haben uns schon ewig nicht mehr gehört und sie hat geschrieben, sie meldet sich nachher.«

Flora horchte auf. Am liebsten hätte sie gefragt, ob in diesem Brief auch ein Foto drin gewesen war. Ein wichtiges Foto, das Nathalie sich sogar nachts anschaute.

Als sie sich das Bild von der Frau mit den langen schwarzen Haaren vor Augen rief, blitzte plötzlich eine Frage in Floras Kopf auf: War das etwa Nathalies Mutter auf dem Foto?

Dieser Gedanke traf Flora wie ein Schlag und brachte sie für einen Moment ziemlich aus der Fassung. Sie bekam gerade ein »Hallo« heraus, als sie mit schnellen Schritten an Nathalie und Sarah vorbeiging.

Flora erinnerte sich noch ganz deutlich an Nathalies Gesicht auf dem See. Sie hatte irgendwie traurig, aber auch ein bisschen sehnsüchtig ausgesehen. Und jetzt hatte sie gerade wieder so abwesend gewirkt – wie bei Floras Geburtstagsfest.

Flora fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Warum hatte sie den See nur dazu benutzt, um Nathalie auszuspionieren? Sie hatte gar nicht richtig darüber nachgedacht, was sie da tat. Und jetzt stand sie hier mit diesem Bild von Nathalie im Kopf.

Sie konnte sie ja unmöglich auf das Foto ansprechen. Wie hätte sie denn davon wissen sollen? So ein heimliches Wissen machte eigentlich alles nur kompliziert. Auch für Jona war es doof, seiner Mutter nichts sagen zu dürfen.

Flora wurde mit einem Schlag klar, dass diese Wünscherei nur einen Sinn hatte, wenn man damit jemand direkt helfen konnte, so wie Johann. Für ihn hatten sie diese Zauberkraft ja überhaupt entdeckt. Und als sie nun die verschwundenen Eulen damit herlotsen wollten, hatte es nicht mehr funktioniert. Waren nur Nordis’ und Klaras besondere »Aufgaben« daran schuld gewesen? Oder gab es noch eine andere Erklärung? Auf einmal kam Flora ein schrecklicher Gedanke. Hatten sie durch ihre eigenen Wünsche diese Zauberkraft irgendwie beschädigt? Und war das der Grund – Flora wagte kaum, so weit zu denken –, dass Goldwing sich nicht mehr verwandeln konnte?

»Ah, Flora da bist du ja«, riss Miris Stimme sie aus ihren Gedanken. »Ich hab Dusty schon mal rausgeholt. Wir könnten ihm die Beine ein bisschen abwaschen, bevor wir ihn nach draußen bringen. Hilfst du mir?« Sie streckte Flora einen der beiden Eimer hin, die sie in der Hand hielt.

»Ja, klar«, murmelte Flora, nahm den Eimer und folgte Miri zum Waschtrog für das Zaumzeug.

»Was hat denn Nathalie mit Sarah geredet?«, fragte Miri, während sie zusah, wie sich der Eimer mit lautem Prasseln füllte.

»Ach, sie hat erzählt, dass sie früher gehen muss, weil eine Verwandte sie anruft, die sie ganz lange nicht mehr gehört hat«, erzählte Flora.

»Na, das klingt ja megaspannend«, meinte Miri. Flora hätte gern geantwortet, dass das vielleicht wirklich sehr spannend war, aber das ging ja nicht. Niemand aus ihrer Klasse wusste, dass Nathalie adoptiert war. Nachdenklich füllte auch Flora ihren Eimer. Dauernd ging ihr durch den Kopf, ob sich Goldwings Zauberkräfte tatsächlich aufgebraucht hatten.

»He, auf welchem Planeten bist du denn?«, erklang da Miris Stimme. Flora hatte gar nicht bemerkt, dass der Eimer schon voll war. Schnell drehte sie den Hahn zu.

»Sorry, ich habe gerade nur daran gedacht, was meine Mutter heute alles erledigen möchte«, beeilte sich Flora zu erklären. »Ausmisten, das ganze Schulzeug kaufen …« Seufzend verdrehte sie die Augen. Das stimmte ja, auch wenn das nicht der Grund für Floras Nachdenklichkeit war.

»Steht mir auch noch bevor«, erklärte Miri und klang ebenfalls wenig begeistert. »Aber das vergessen wir jetzt und machen ein bisschen Verwöhnprogramm für Dusty.«

Gemeinsam wuschen sie Dustys Beine ab und Flora sah, wie er dabei sogar die Augen schloss. Das schien er richtig zu genießen. Auch wenn sie sich darüber freute, schweiften ihre Gedanken immer wieder ab zu Goldwing.

Hoffentlich passte Securo gut auf ihre kleine Zaubereule auf! Ob er Jona bereits informiert hatte? Flora wollte unbedingt wissen, was er von ihren Gedanken zu Goldwings verbrauchter Zauberkraft hielt. Was konnten sie nur tun, damit alles wieder in Ordnung kam?

Schließlich hielt Flora es nicht mehr aus. »Ich glaube, ich muss los«, platzte sie völlig unvermittelt heraus.

»Jetzt?«, fragte Miri entgeistert. »Wir wollten gerade nach draußen! Du kannst es doch sonst immer kaum erwarten, eine Runde mit Dusty zu drehen.«

»Das stimmt, aber … ich habe einfach keine Ruhe«, rang Flora nach den richtigen Worten. »Ich will diese ganze Einkauferei mit meiner Mutter so schnell wie möglich hinter mich bringen.«

Miri schaute sie kopfschüttelnd an. »Na, wenn du meinst …« Sie klang enttäuscht und es tat Flora leid, sie so stehen zu lassen. Aber sie musste einfach zu Goldwing!

»Morgen bin ich auf jeden Fall wieder dabei, okay?«, versprach sie und klopfte Dusty zum Abschied den Hals. »Nicht sauer sein«, bat sie Miri mit einem etwas schiefen Lächeln.

»Nee, schon gut«, erwiderte die. »Dann bis morgen.«

Flora winkte kurz und beeilte sich, nach draußen zu kommen. Mit großen Schritten lief sie durch den Wald Richtung See. Sie hatte plötzlich unheimlich Angst um Goldwing. Mit aller Kraft versuchte sie, den Gedanken zu verdrängen, dass jemand Goldwing in ihrer Zaubergestalt entdeckte.

Da, endlich sah sie das Wasser durch die Bäume glitzern. Und dann bemerkte sie Jona, der durch das Knacken im Wald erschrocken herumfuhr. Als er Flora erkannte, trat Erleichterung in seine Augen.

»Ach, du bist es«, sagte er. »Ich dachte, du kommst erst später.«

»Ich habe mir solche Sorgen um Goldwing gemacht. Da bin ich früher weg vom Reiterhof«, erklärte Flora ziemlich außer Atem. »Es ist so schrecklich, dass sie sich nicht mehr zurückverwandeln kann.«

»Und damit ist sie nicht allein«, rief Jona aufgebracht. Voller Sorge blickte er hoch in den Baum. Flora lief trotz der Hitze ein kalter Schauer über den Rücken. Eine böse Ahnung beschlich sie.

»Securo geht es genauso«, fuhr Jona mit zitternder Stimme fort. »Jedes Zauberwort umsonst. Egal, wie oft ich es probiert habe – er bleibt einfach eine ganz normale Eule. Nicht der kleinste Hauch von Gold auf seinen Flügeln.« Jona sah sie verzweifelt an. »Flora, was sollen wir nur tun?«