Es ist schwer erkennbar, wer freiwillig mit dem Strom schwimmt.
Stanisław Jerzy Lec
Wie war es möglich, dass die deutsche Politik, vor allem die sozialdemokratischen Spitzenpolitiker, aber auch Langzeitkanzlerin Angela Merkel, trotz vieler Warnzeichen seit 2007 und insbesondere seit der Annexion der Krim 2014 die Gefahr der russischen Aggression verkannt, verharmlost und zum Teil bestritten haben? Warum wurden die Berichte und Warnungen aus Polen und den baltischen Staaten, von russischen Systemkritikern und Menschenrechtsaktivisten, von westlichen Journalisten und Zeithistorikern ignoriert? Welche politischen und wirtschaftlichen Interessen, welche persönlichen und geschäftlichen Verbindungen führten dazu, dass die stärkste Wirtschaftsmacht der Europäischen Union in die energiepolitische Abhängigkeit von Putins Russland geriet? Wie konnte es dazu kommen, dass die deutsche Politik und Wirtschaft auf Wladimir Putin setzten, obwohl er bereits Jahre vor seinem Überfall auf die Ukraine eine aggressive Außenpolitik betrieben und die Opposition brutal unterdrückt hatte?
Es ist ein Glücksfall für die deutsche Zeitgeschichte und für die künftigen Historiker, dass die erste authentische Antwort auf diese heiklen Fragen von einem Mann stammt, der sowohl von unten als auch von oben die deutsche Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt hat. Es ist Joachim Gauck, von 2012 bis 2017 der elfte (und erste parteilose) Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, der mit seiner Mitautorin Helga Hirsch unter dem Titel »Erschütterungen« eine geradezu leidenschaftliche, schonungslose Analyse der »Realitätsblindheit« der deutschen Politik verfasst hat.42
Joachim Gauck, geboren 1940, kann auf drei unterschiedliche Lebensphasen zurückblicken. Bis 1989 arbeitete er in Rostock als evangelisch-lutherischer Pastor und spielte eine wichtige Rolle im kirchlichen Widerstand gegen das kommunistische DDR-Regime. Ich habe Joachim Gauck in seinem zweiten Leben, bei einer von Melvin Lasky, dem Gründer der Zeitschrift Der Monat und Chefredakteur des Encounter, organisierten, internationalen Veranstaltung im Herbst 1992 in Berlin kennengelernt. Gauck war damals (von 1990 bis 2000) Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR und schilderte Aufbau und Arbeit des unsichtbaren Stasi-Netzes mit neunzigtausend hauptamtlichen Mitarbeitern und noch 1989 rund hundertsiebzigtausend sogenannten »informellen Mitarbeitern«, also Spitzeln und Zuträgern. Da ich herausfinden wollte, was über mich in den Archiven der Stasi vorhanden war, bat ich Gauck bei einem persönlichen Gespräch nach seinem Vortrag um Akteneinsicht. Ein anschließender Briefwechsel ergab, dass über mich nicht sehr viele, aber einige »zeitgeschichtlich interessante« Dokumente vorhanden waren. Im Sommer 1993 konnte ich dann aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv brisante Schriftstücke über den Briefwechsel aus dem Jahr 1965 (!) zwischen dem ungarischen und dem ostdeutschen Innenminister als Auftakt zu einer anschließenden, fast ostblockweiten Visasperre gegen mich erhalten. Diese verblüffenden Belege legten die Spuren zu späteren, viel reichhaltigeren Fundstücken in den Geheimdienstarchiven Ungarns und der Tschechoslowakei. All das fand dann einen gebührenden Platz in meiner Autobiographie.43
Im Rückblick ist die eindeutige Haltung von Bundespräsident Gauck nach der russischen Annexion der Krim und der offenen Unterstützung des Kremls für die prorussischen Separatisten in der Ostukraine bis heute auch international beispielhaft und verleiht seiner Amtszeit eine besondere Bedeutung. In krassem Gegensatz sowohl zur Russlandpolitik seines Nachfolgers Frank-Walter Steinmeier in dessen erster Amtsperiode als Bundespräsident als auch zur Putin-freundlichen österreichischen Politik des seinerzeitigen Bundespräsidenten Heinz Fischer hat Gauck schon 2014 Klartext gesprochen.44
So sagte er am 1. September anlässlich einer Rede auf Einladung des polnischen Staatspräsidenten zum 75. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs bei Polens zentraler Gedenkfeier in Danzig: »Weil wir am Recht festhalten, weil wir es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen.« Er fügte hinzu: »Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern.«45
Die Verurteilung der aggressiven Politik Russlands wurde von linken und linksliberalen Publizisten und Historikern als »präsidialer Fehlgriff ersten Ranges«, als »unbesonnen« und eine »Eskalation der Worte« kritisiert.46 Damals spielten bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens — von der Feministin Alice Schwarzer bis zum früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt und zum Architekten der deutschen Ostpolitik (Trennung) Egon Bahr — die Annexion der Krim herunter und äußerten sogar Verständnis für Putin. Joachim Gauck hingegen fuhr als deutscher Bundespräsident am 22. Februar 2015 nach Kiew, um dort zusammen mit den Staatspräsidenten u.a. Polens, Litauens und der Ukraine an einem »Marsch der Würde« teilzunehmen. Gemeinsam mit zehntausend Menschen gedachten sie der mehr als hundert Opfer bei den proeuropäischen Demonstrationen auf dem Maidan, dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt, im Jahr zuvor und der über fünftausend Opfer im Kampf gegen die prorussischen Separatisten im Donbas.
Schon zur Zeit der Kritik an Gaucks Danziger Rede warnten der ehemalige polnische Außenminister Władysław Bartoszewski, die spätere Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk und andere polnische Intellektuelle in einem Aufruf vor den Folgen einer Beschwichtigungspolitik gegenüber Putin: »Wer heute Putin nicht ›No pasarán‹ entgegenruft, macht die Europäische Union und ihre Werte lächerlich und willigt ein, dass die Weltordnung umgestürzt wird. Gestern Danzig, heute Donezk […] Wir dürfen nicht zulassen, dass Europa auf viele Jahre mit einer offenen, blutenden Wunde lebt.«47
Joachim Gauck, der sich als »linken, liberalen Konservativen« und »aufgeklärten Patrioten« bezeichnet, betont rückblickend, dass die Zeitenwende spätesten 2014 eintrat. Die Polen sahen es, viele Politiker und Intellektuelle in Deutschland und in Europa wollten es nicht sehen. Von dieser Schlussfolgerung ausgehend, sucht Gauck die Wurzeln der »Fehler einer Ostpolitik, die unbeirrt daran glauben wollte, dass die ganze Menschheit mit ihrer Friedenssehnsucht das alle Systemdifferenzen überwölbende Ziel eines allgemein akzeptierten Friedens anstreben würde […] und dass Deutschland eine Vermittlerrolle zwischen ›dem Westen‹ und Russland spielen könne«.48
Wenn man die Frage stellt, woher die besondere Rücksichtnahme in Deutschland gegenüber Russland kommt, werden im Allgemeinen drei Hauptgründe angeführt: Hitlerdeutschland hat mit dem Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg eine unermessliche Schuld auf sich geladen, die Deutschen tragen deshalb eine besondere Verantwortung für den europäischen Frieden. Darüber hinaus hat die Sowjetunion einen herausragenden Anteil an der Befreiung Deutschlands vom Hitler-Regime gehabt. Und schließlich verdanken die Deutschen Michail Gorbatschow und der sowjetischen Regierung mit dem Truppenabzug aus Ostdeutschland die Vereinigung Deutschlands.
Diese Mischung aus Dankbarkeit und Schuldgefühlen hat in den vergangenen Jahrzehnten die deutsche Haltung zu Russland geprägt. Daran änderte die Tatsache nichts, dass Ostdeutschland samt Mittelosteuropa fast ein halbes Jahrhundert der sowjetischen Gewaltherrschaft ausgeliefert war. Es ist eine bizarre Pointe der Zeitgeschichte, dass der Aggressor Wladimir Putin die tief verwurzelte Dankbarkeit gegenüber seinem friedfertigen Vorgänger Gorbatschow jahrzehntelang als politisches Kapital für seine Ziele benützen konnte.
Die verbreitete Unwissenheit über die Ukraine, immerhin das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas mit 44 Millionen Einwohnern, bereitete den Boden für die zweckbestimmte politische Heuchelei der russischen Propaganda. In der Regel identifizierte man, nicht nur in den deutschsprachigen Ländern, die Zahl von 27 Millionen sowjetischen Opfern im Zweiten Weltkrieg fast ausschließlich mit den »Russen«. Zur sowjetischen Geschichtsschreibung gehörte aber von Anfang an das Verschweigen des Holocausts. Die Millionen umgebrachten Juden wurden pauschal zur Masse der »Faschismusopfer« hinzugerechnet. Diese Art der Zählung betrifft auch die acht Millionen Kriegsopfer in der Ukraine, davon mehr als fünf Millionen Zivilisten, einschließlich 1,5 Millionen Juden.
Zum verzerrten Russlandbild in Deutschland gehörte auch die zum Teil der Ignoranz entsprungene Überheblichkeit gegenüber den Polen, Litauern, Letten, Esten und Ukrainern. Diese Nationen mit ihren traumatischen Erfahrungen in der Sowjetzeit wurden lange Jahre als Störenfriede mit übertriebenen antirussischen Ressentiments betrachtet. Inzwischen haben die Ereignisse bestätigt, dass ihre Einschätzung von Putins Politik viel realistischer war als die nachsichtige und ausschließlich von Wirtschaftsinteressen geprägte Haltung Deutschlands, Österreichs und anderer EU-Staaten.
Die besonderen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau hingen nicht nur mit dem Netzwerk um den Ex-Kanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder zusammen. Von den westlichen Spitzenpolitikern traf niemand Putin so oft wie Angela Merkel während der sechzehn Jahre ihrer Kanzlerschaft. Aus keinem anderen EU-Mitgliedsstaat reisten so viele Delegationen regelmäßig zu Unternehmergesprächen nach Russland wie, im Rahmen des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, aus der Bundesrepublik.
Man darf auch das eigenartig positive Russlandbild aufseiten der Rechten wie der Linken in Deutschland nicht übersehen. Bei der Anziehungskraft Russlands spielt aufgrund historischer Bindungen bei der Linken die tradierte Verurteilung der als heuchlerisch betrachteten imperialistischen Weltmacht USA eine Rolle — die Politik der USA werde nicht von den offiziell proklamierten Werten, sondern von geostrategischen und ökonomischen Interessen geprägt. Die Rechtspopulisten und Nationalkonservativen wiederum verachten die angeblich dekadente, gegenüber Lesben und Schwulen viel zu tolerante Kultur in Amerika und bekunden ihre Sympathie für einen starken Mann an der Staatsspitze. Ein symbolträchtiges Bild lieferte der Empfang zum Tag des Sieges im Mai 2023 in der russischen Botschaft in Berlin. Neben dem früheren SPD-Bundeskanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder erschienen der Parteivorsitzende der rechtsextremen AfD, Tino Chrupalla, der eine Krawatte in den Farben der russischen Fahne trug, und sein Vorgänger Alexander Gauland. Der frühere Parteichef der Linken, Klaus Ernst, und der letzte SED-Generalsekretär Egon Krenz waren ebenfalls anwesend.49
Die politischen Stellungnahmen spiegeln die gemeinsame Sympathie der extremen Rechten und Linken für Russland. Wenn er sich zwischen dem »globalistischen Westen« und dem »traditionellen Osten« entscheiden müsse, so Björn Höcke vom rechtsradikalen Flügel der AfD, wähle er den Osten.50 Sahra Wagenknecht, die inzwischen eine neue linkspopulistische Partei gegründet hat, hat sich wiederholt für einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine und für bedingungslose Verhandlungen mit dem Kreml ausgesprochen.51
Zurück zum vergessenen, verdrängten und gerade deshalb noch immer politisch höchst aufschlussreichen Versagen der westlichen, vor allem der deutschen Russlandpolitik zwischen 2014 (Annexion der Krim) und 2022 (Überfall auf die Ukraine). Joachim Gauck ist der erste deutsche Spitzenpolitiker, der die Verantwortung Angela Merkels für den damaligen Kurs thematisiert und ihre Rechtfertigungsversuche widerlegt. Mehrmals behauptete sie, das Minsker Abkommen vom September 2014, das unter anderem mit Deutschland einen Waffenstillstand in der Ostukraine zu erzielen versuchte, sei dem Bemühen entsprungen, »der Ukraine Zeit zu geben«. Und die Ukraine habe diese »wertvolle Zeit« auch genutzt, um »stärker zu werden«.52
Gauck spricht in seinem Buch »Erschütterungen« offen aus, dass die Bundesregierung die Ukraine mehrfach im Stich gelassen habe.53 Mit den Ostseepipelines für russisches Gas, die die Ukraine als Transitland umgehen, habe die Bundesregierung die Ukraine erpressbarer gemacht. Außerdem habe Deutschland 2015 sogar versucht, die USA von Waffenlieferungen an die Ukraine abzuhalten. In Polen und im Baltikum habe man, so Gauck, schon damals die deutsche Gesprächs- und Telefondiplomatie als »naiv und unterwürfig« betrachtet. Die Sanktionen seien halbherzig gewesen und ohne rechte Wirkung. Erst zwei Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde das international von allen Seiten kritisierte Projekt der Pipeline Nord Stream 2 gestoppt.
Rückblickend kann man an Angela Merkel die gleichen Fragen richten wie Gauck: »Warum sie trotz dieser Klarheit [über Putins Pläne, Anm.] weiterhin allein an den ›weichen‹ Methoden im Umgang mit Putin festhielt, warum sie trotz seiner Lügen darauf vertraute, dass es sich um ein letztlich berechenbares Verhältnis handele, warum sie bis zum Ende ihrer Amtszeit Nord Stream 2 verteidigte und betonte, Russland sei immer ein stabiler Lieferant von Energie gewesen — all das ist schwer zu entziffern und wird sich vielleicht niemals ganz aufklären lassen.«54
Fest steht jedenfalls, dass alle deutschen Regierungen Putin unterschätzt und, wie Gauck unterstreicht, »dadurch Deutschland politisch, wirtschaftlich, militärisch und mental geschwächt und in eine partielle Abhängigkeit gebracht« haben.55 Gauck schont niemanden, und er erinnert an das breite Verständnis in der deutschen Politik und Gesellschaft für den Aggressor Putin mit erschütternd naiven Zitaten von Alice Schwarzer und anderen aus dem von sechzig bekannten Persönlichkeiten unterzeichneten Appell vom Dezember 2014 »Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!«
Am meisten haben mich damals die Stellungnahmen von Helmut Schmidt verblüfft. Er fand die Handlungen Putins »durchaus verständlich« und hielt Sanktionen für »dummes Zeug«.56 In einem Interview mit der Bild bestritt Schmidt sogar die Existenz einer ukrainischen Nation.57 Da der Altkanzler kurz danach starb, konnte er die großartigen Bücher von Serhii Plokhy, dem ukrainischen Harvard-Historiker, über die Geschichte der Ukraine und Russlands Aggressionskrieg nicht mehr lesen. Diese beschreiben die Nationswerdung der Ukrainer und die Folgen der russischen Aggression.58
Ganz abgesehen von den aktuellen Geschehnissen darf man das Referendum vom 1. Dezember 1991 in der Ukraine nie vergessen. Damals sprachen sich bei einer Beteiligung von 84 Prozent bereits über neunzig Prozent für die Unabhängigkeit der Ukraine aus, in Kiew waren es 92,88 Prozent, im Donbas immerhin 83 Prozent und auf der Krim 54 Prozent. Dem Prozess der Stärkung der ukrainischen Willensnation hat der russische Überfall einen gewaltigen Auftrieb gegeben. Die Drohnen, die Raketen, die Bomben aus Russland machen keinen Unterschied zwischen den Opfern, ob ihre Muttersprache nun ursprünglich Russisch oder Ukrainisch ist. Als ich einmal die nächtliche, leidenschaftliche Rede des Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj auf Ukrainisch hörte und daran dachte, dass er jüdischer Herkunft mit russischer Muttersprache ist, fiel mir der berühmte Vortrag des französischen Historikers Ernest Renan (1823 bis 1892) über die Nation ein: »Beim Menschen gibt es etwas, was der Sprache übergeordnet ist: den Willen. […] Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist […] Das Dasein einer Nation ist — erlauben Sie mir dieses Bild — ein tägliches Plebiszit.«59
Wenn auch heute kaum eine ernstzunehmende Persönlichkeit im Westen den Bestand der kämpfenden ukrainischen Willensgemeinschaft bezweifeln würde, bleibt es doch nicht nur für Joachim Gauck fraglich, ob eine Mehrheit der Deutschen bereit wäre, die liberale Demokratie entschlossen zu verteidigen. Selbst nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wurden wiederholt in Aufrufen, Manifesten und Stellungnahmen Besorgnisse über die Gefahr eines Weltkriegs und Atomkriegs geäußert. Der 93-jährige Philosoph Jürgen Habermas hat bereits einige Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs, »angesichts des unbedingt zu vermeidenden Risikos eines Weltenbrandes«, erklärt: »Nachdem sich der Westen entschlossen hat, in diesen Konflikt nicht als Kriegspartei einzugreifen, gibt es eine Risikoschwelle, die ein ungebremstes Engagement für die Aufrüstung der Ukraine ausschließt.« Der Westen müsse »bei jedem weiteren Schritt der militärischen Unterstützung sorgfältig abwägen, ob er damit nicht auch die unbestimmte, weil von Putins Definitionsmacht abhängige Grenze des formalen Kriegseintritts überschreitet«.60
Zehn Monate später hat Habermas in einem umfangreichen, im Grunde jedoch unschlüssigen neuen »Plädoyer für Verhandlungen« betont, dass »ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss gefunden werden könnte«. 61 Es gebe für Verhandlungen »keine vielversprechenden Voraussetzungen, aber auch keine aussichtslosen«. Er selbst zählt allerdings die vollendeten Tatsachen (Annexion der östlichen Provinzen) auf, »die die Aufnahme von aussichtsreichen Verhandlungen fast unmöglich machen«. Ihn treibt die Sorge um, man könnte am Ende vor der ausweglosen Wahl stehen, »entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen«.
Das Echo in den Medien fiel ungünstig aus, weil, so das Argument, Habermas für Verhandlungen plädiere, ohne zu sagen, wann, worüber und mit wem man verhandeln könnte. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler kritisierte den taktischen Grundlagenirrtum hinter Habermas’ Appell. Verhandlungen seien »nicht die Alternative zum Kämpfen«, so Münkler, sondern beides finde seit Kriegsausbruch statt. Dass im Hintergrund nicht verhandelt werde, sei eine »Fiktion«.62
Diese Fiktion zog jedoch in der Tradition des deutschen Pazifismus (»Nie wieder Krieg«) als Gründungspathos der Bundesrepublik Hunderttausende an, die im Frühjahr 2023 mit ihrer Unterschrift das irreführende, weil Angreifer und Verteidiger auf eine Stufe stellende, »Manifest für Frieden« von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht unterstützten.63 Viel wurde über das seit dem 24. Februar 2022 in Deutschland laufende »aufgeregte Selbstgespräch« diskutiert und gestritten: »Es geht vor allem um die Frage, wie es seine militärische Abstinenz aufgeben und trotzdem zu den Guten gehören kann, und wieso es Waffen gerade in jene Region schicken soll, wo einst SS und Wehrmacht mordeten. Dass in diesem Selbstgespräch klügere, dümmere und blödsinnige Beiträge entstehen, liegt in der Natur der Sache und der digitalen Öffentlichkeit«, stellte Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung fest. Sie bezeichnete es als »deutsche Unerträglichkeit«, dass Wagenknecht, Schwarzer, Precht und Welzer behaupten, besser zu wissen, was gut für die Ukrainer ist, als die gewählte Regierung in Kiew.64
Es gab noch schärfere Kommentare. Der langjährige liberale Innenminister in der von Helmut Schmidt geführten sozialliberalen Koalition, Gerhart Baum, bezeichnete die Illusion, dass Frieden auf Kosten der Freiheit erfolgen soll, als »die deutsche Krankheit«: »Es handelt sich um die Skepsis nicht weniger Deutschen, die Freiheit notfalls mit Waffen zu verteidigen. Unverständlich — sind wir doch selbst mit Waffen von der Nazibarbarei befreit worden! Beleg dafür ist die verbreitete Distanz zur Nato […] Friedenssehnsucht ohne Rücksicht auf Freiheitsbehauptung führt zu erneuter Aggression.«65
Unabhängig davon, dass an dieser sehr deutschen Debatte, die untrennbar mit der eigenen Geschichte verbunden ist, keineswegs nur Vertreter der Extreme teilnehmen, muss man aussprechen, dass das »Manifest für Frieden« samt den TV-Auftritten der Friedensfreunde als wertvolle propagandistische Hilfe für den Aggressor Wladimir Putin gedient hat.
Putin-Unterstützung kommt auch von anderer Seite: Die ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, habe in ihren Büchern und Vorträgen bereits seit 2014 »zur Desinformation der deutschen Öffentlichkeit über Russland, die Ukraine, die russländisch-ukrainischen Beziehungen sowie über die Annexion der Krim und die Eskalation des aktuellen Krieges beigetragen«. Das stellte in einem zwanzig Seiten langen Forschungsbericht über ihre Verdrehungen, Halbwahrheiten, den manipulativen Gebrauch von Quellen sowie Falschaussagen die Historikerin Franziska Davies fest. Trotz der Verurteilung ihrer Behauptungen durch Osteuropa-Fachleute wurde die Journalistin noch im Oktober 2022 von einer Volkshochschule zu einem Vortrag über »Russland und die Ukraine« eingeladen. Auch in diesem behauptete sie, Russland habe den Krieg zwar »ausgelöst«, aber es seien andere, der »Westen«, die Nato und die Ukraine, die »ihn unvermeidlich gemacht hätten«. Am Ende ihres Aufsatzes zieht Franziska Davies den bitteren Schluss, dass der Vortrag von Krone-Schmalz 1,2 Millionen Mal aufgerufen wurde — die überwältigende Mehrheit der Kommentare sei positiv.66
Bei den Reaktionen in Deutschland auf die Aggression Russlands spielt die Heuchelei eine besondere Rolle. Die Angst der Deutschen vor einer Eskalation bis hin zu einem Atomschlag bildet einen wichtigen Teil der Strategie Putins. Deshalb muss man die Argumente Joachim Gaucks gegen die »Selbstabschreckung«, die Angst vor einer entschiedenen Reaktion, hervorheben: »Aus der Perspektive des überfallenen Opfers sieht die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand nämlich so aus: Weil Politiker und Intellektuelle im Westen das Grauen eines Krieges nicht aushalten, sollen sie, die Überfallenen, verpflichtet werden, ihre Verteidigung aufzugeben.« Er zieht die richtige Schlussforderung: »Wer jetzt [kursiv im Original, Anm.] für einen Waffenstillstand in einer teilweise besetzten Ukraine plädiert, begünstigt gewollt oder ungewollt die Seite Putins […] Solange Putin einen unabhängigen ukrainischen Staat nicht akzeptiert, wird es keinen Frieden geben.«67 Gauck ruft den Westen immer wieder zur Ehrlichkeit auf: Um einen Sieg der Ukraine zu ermöglichen, müsse man die Waffenlieferungen quantitativ und qualitativ massiv erhöhen.
Obwohl die Regierungen Angela Merkels in erster Linie für die misslungene Russlandpolitik zuständig waren, tragen der SPD-Kanzler Gerhard Schröder und seine Genossen die Hauptverantwortung für die politischen und energiewirtschaftlichen Folgen ihres Putin-freundlichen Kurses.