Vorwort

»Er hat offensichtlich alle getäuscht«, sagte die sozialdemokratische Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, als Erklärung dafür, dass die von ihr geführte Landesregierung bis zum russischen Überfall auf die Ukraine mit Putins Russland aufs Engste verbunden war und die umstrittene Nord-Stream-2-Pipeline mithilfe einer dubiosen Stiftung fertiggebaut hat.1 Warum lag nicht nur sie, sondern lagen auch zahlreiche deutsche und österreichische, französische und US-amerikanische Politiker und Meinungsmacher so oft und so lange so falsch bei der Einschätzung der russischen Politik? Warum hat es so lange gedauert, bis die Institutionen der Europäischen Union die richtigen Antworten auf die aggressiven Handlungen serbischer Machthaber oder auf die autoritären Entwicklungen in Ungarn und Polen fanden? Warum hat man die von nationalistischen Autokraten ausgehende Gefahr für die liberalen Werte des Westens so spät erkannt?

Wie der Titel dieses Buches andeutet, möchte ich insbesondere die Rolle der Heuchelei, der Doppelmoral, der menschlichen und politischen Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit bei den im Rückblick unverständlichen Handlungen und Erklärungen von Spitzenpolitikern behandeln. Die Politik der vergangenen Jahrzehnte hielt die Illusion aufrecht, die Anziehungskraft der Demokratie sei unwiderstehlich, und hinterließ damit von Moskau bis Budapest triumphierende Betrüger und von Berlin bis Wien zufriedene Geprellte.

Der Philosoph des Skeptizismus, Michel de Montaigne, schrieb 1580: »Verstellungskunst wird unter die vorzüglichsten Eigenschaften des Jahrhunderts gezählt«, und er fügte hinzu: »Was wir heute Wahrheit nennen, ist nicht, was wahr ist, sondern was man anderen einreden kann.«2

In diesem Buch möchte ich auch meine persönlichen Erfahrungen als Kommentator und Berichterstatter in weltpolitischen Krisensituationen mit der Flut von neuen Informationen über Fehlgriffe und Fehldeutungen der westlichen Politik verbinden, um die Vernebelung und den Schwindel zu enttarnen. Deshalb fange ich mit meinen persönlichen, zufälligen und doch symbolträchtigen Begegnungen mit »Opfern« und mit »Tätern« an, mit Persönlichkeiten der russischen Gesellschaft, die hinter einer Maske agieren, und für die die Worte Nietzsches gelten: »Die scheinbare Welt ist die einzige, die ›wahre Welt‹ ist nur hinzugelogen …«3 [kursiv im Original, Anm.].

Es folgt ein Blick auf die Vorläufer der heutigen Putin- und Orbán-»Versteher« und damit auf die Wurzeln der verhängnisvollen Gewöhnung an deren politische Heuchelei, auf jene berühmten Intellektuellen, Autoren und Reporter, die aus Naivität oder aus finanziellen Interessen als »politische Pilger« die Diktatoren von Stalin bis Castro gelobt und ihre Tyrannei verharmlost haben. In zwei Kapiteln beschreibe ich die Mitverantwortung jener deutschen Politiker, vor allem des Altkanzlers Gerhard Schröder, die das Putin-Regime verharmlost, legitimiert und indirekt mitfinanziert haben.

Einen wichtigen Teil des Buches bildet die mit Heuchelei gekoppelte Beschwichtigungspolitik gegenüber den früheren und gegenwärtigen Brandstiftern auf dem Balkan, wo nach wie vor, von Serbien bis zum Kosovo, von Bosnien bis Mazedonien, Zeitbomben ticken. Was die EU-Erweiterung durch die Balkanstaaten betrifft, prägt unverändert Heuchelei die Haltung beider Seiten: »Die einen tun so, als wollten sie sich erweitern, die anderen tun so, als wollten sie beitreten.«4

Den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der Ungarn seit 2010 ungefährdet regiert, kann man nur als Weltmeister der politischen Heuchelei, als Herrscher eines als »illiberale Demokratie« verkleideten Mafia-Staates darstellen, mit betrüblichen Folgen für die europäische Politik. Für ihn vor allem gilt die von Jean Starobinski, dem Montaigne-Biographen, zusammengefasste Erkenntnis des großen Autors des sechzehnten Jahrhunderts: »Die Heuchler verstehen sich bewundernswert darauf, das Wort gegen die Heuchelei zu erheben. Wer immer sich dabei einen Vorteil ausrechnet, betreibt, wenn auch unter großem Zeitaufwand, nur weiter die Sache der Masken: Er selbst bleibt eine maskierte Persönlichkeit.«5

Seinen faszinierenden ungarisch-amerikanischen Gegenspieler George Soros, der ursprünglich als Philanthrop bewundert wurde, heute aber von den bedrohten Autokraten zum verhassten Dämon stilisiert wird, beschreibe ich als Beispiel für die globale Bedeutung von Verschwörungstheorien.

Das Schlusskapitel bildet Österreich, wo, so Thomas Bernhard, »die Verlogenheit zuhause ist«6, wo glänzende Blender, von Jörg Haider bis Sebastian Kurz, die Maskerade und die Doppelzüngigkeit in der Politik zur allgemeinen Regel erhoben und damit »Wunder an blinder und grenzenloser Willfährigkeit des Volkes« vollbracht haben.7