Mein Leben, Für Immer Verändert

Tod erwartet dich. Das war das Einzige, woran sich Arabelle aus ihrem Traum erinnerte, als sie erwachte, weil ihr Vater den Kopf in ihr Zelt steckte.

»Guten Morgen, mein Herzblatt«, sagte er. »Du solltest den Tag nicht verschlafen.«

Arabelle stöhnte und streckte sich unter der Decke. »Aber mein Bett ist so gemütlich.«

Normalerweise ließ ihr Vater ihr den Hang zum Schlafen durchgehen – manchmal rappelte sie sich erst mittags aus dem Bett. Sie war verwöhnt, gab es jedoch ungern zu, sogar sich selbst gegenüber.

»Das glaube ich gern, aber es ist Reisetag – und ein wunderschöner obendrein. Ich schicke dir Maggie, damit sie dir hilft, dich zu waschen und fertig zu machen.«

Damit zog er den Kopf aus dem Zelt zurück, und einer ihrer Leibwächter rief nach ihrer Zofe.

Reisetage gehörten zu jenen, die Arabelle nicht von früh bis spät im Bett verbringen konnte. Wenn sich die Karawane in Bewegung setzte, musste sie mit.

Was leider recht häufig vorkam. Mindestens alle paar Wochen brach ihr Volk die Zelte ab und reiste in Trimoria von einem Dorf zum anderen.

Maggie kam wenig später herein. Als die Zofe sah, dass sich Arabelle noch nicht unter der Decke hervorbewegt hatte, legte sie die Stirn in Falten.

»Herrin, Ihr müsst Euch vorbereiten. Ihr dürft Euren Vater nicht warten lassen. Das Frühstück sollt Ihr mit dem Scheich einnehmen. Außerdem können die Männer Euer Zelt erst zusammenpacken, wenn Ihr es verlassen habt!«

Mit ihren 20 Jahren war Maggie nur drei Jahre älter als Arabelle. Aber so, wie sie von ihr bemuttert wurde, hätte man Maggie für doppelt so alt halten können. Arabelles leibliche Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass Maggie diese Lücke in ihrem Leben auszufüllen versuchte.

Maggie schüttete aus einer Reihe von Krügen mit Deckeln, die man am Eingang des Zelts abgestellt hatte, dampfendes Wasser in eine Wanne. Rosenduft breitete sich in der Luft aus. Widerwillig stieg Arabelle aus dem Bett und wappnete sich für den Tag.

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* * *

Arabelle ritt gemütlich auf Logan, ihrem grau gescheckten Hengst. Ihr Vater hatte das Tier zu ihrem achten Geburtstag handverlesen und es ihr geschenkt. Seither liebte sie das Pferd und ritt damit aus, wann immer sie ihre Leibgarde überreden konnte, sie zu begleiten – was nicht so oft klappte, wie sie wollte. Obwohl Arabelle immer versprach, sich zu benehmen, vergaß sie es jedes Mal und ließ Logan galoppieren, so schnell er wollte. Was unweigerlich wütendes Gebrüll ihrer Leibwächter zur Folge hatte, weil sie nicht mithalten konnten.

Arabelle tat es nicht unbedingt vorsätzlich. Es verhielt sich eher so, dass sie die aufregende Möglichkeit einiger Augenblicke echter Freiheit ... unwiderstehlich fand. Der Rausch der Geschwindigkeit, das belebende Gefühl des Winds in ihrem Haar ...

Arabelle tätschelte Logan den Hals. »Bald reiten wir aus, versprochen. Und dann darfst du galoppieren, so schnell du mich tragen kannst.«

Der Hengst wieherte und nickte mit dem Kopf, als wollte er ihr zustimmen.

Für jemanden, der die Wanderung der Karawane beobachtete, würde es aussehen, als wäre eine ganze Stadt in Bewegung. Ihr Vater hatte einmal gesagt, dass sie ungefähr 950 Wagen hatten. Arabelle hatte ihn gefragt, ob sie mit so vielen Menschen nicht eine gewaltige Schweinerei hinterließen, doch er hatte ihr erklärt, dass sich darum die rätselhaften Zwinkerhunde kümmerten.

Ohne die Aasfresser wie die Geier und die Zwinkerhunde wären all der Müll und die verdorbenen Lebensmittel tatsächlich eine Belastung für uns alle.

Zwinkerhunde fraßen wirklich alles – das hatte Arabelle selbst bezeugt. Man nannte sie »Zwinkerhunde«, weil sie mit einem Zwinkern verschwinden und 50 Meter entfernt wieder erscheinen konnten. Das ploppende Geräusch, das dabei ertönte, hörte man oft am hinteren Ende des Wagenzugs zusammen mit ihrem ungewöhnlich hohen Lachen.

»Äh, Prinzessin?« Jemand räusperte sich neben Arabelle. Als sie den Kopf drehte, erblickte sie Roselle, ihre persönliche Lehrerin, die neben ihr ritt. »Eurem Unterricht entkommt Ihr nicht, meine Liebe. Auch nicht auf Reisen.«

Arabelle unterhielt sich immer gern mit Roselle. Die Frau war mit Abstand der älteste Mensch, den Arabelle kannte, trotzdem sprühte sie vor Leben, Freude und sowohl unterhaltsamen als auch lehrreichen Geschichten. Arabelle liebte es, von historischen Abenteuern zu hören, auch wenn sie dergleichen nie selbst erleben würde.

»Was steht heute auf der Tagesordnung?«, fragte sie.

»Ich dachte mir, es wäre gut, über den Ersten Protektor und darüber zu sprechen, was eine Prinzessin von einem solchen Mann lernen könnte.«

»Von dem Protektor, der für die Dämonenkriege verantwortlich war?«

Roselle schnalzte mit der Zunge. »Verdammt! Mein liebes Kind, Ihr habt diese Lektion dringender nötig, als mir bewusst war.« Sie seufzte. »Ihr wisst ja, dass Euer Vater als Scheich über alles in seinem Hoheitsgebiet herrscht.« Sie zeigte auf das Gebiet vor der Karawane. »Aber wer ist für die Sicherheit und die Durchsetzung der Gesetze in der Stadt Aubgherle zuständig?«

»Throll Lancaster!«, rief Arabelle aufgeregt. »Er ist der Protektor der Stadt. Ich bin ihm einmal begegnet. Wenn ich mich recht erinnere, heißt seine Frau Gwen.«

»Sehr gut, Prinzessin. Euer Gedächtnis beeindruckt mich immer wieder. Und was bedeutet es, Protektor zu sein?«

»Ein Protektor fängt Diebe und stellt Gruppen von Waldläufern zur Verteidigung gegen Überfälle von Sklavenhändlern zusammen.«

Eine tiefe Stimme ertönte dröhnend hinter ihnen. »Richtig, meine Liebe, aber das kratzt nur an der Oberfläche dessen, was einen Protektor ausmacht.«

Arabelles Vater ritt neben sie. Er wischte sich Schweiß vom rasierten Schädel und zitierte eine Passage aus einem Buch, das er wahrscheinlich vor einer Ewigkeit gelesen hatte.

»Nur die Besten unter uns konnten anstreben, den Opfern nachzueifern, die der Erste Protektor brachte, um das Volk von Trimoria zu retten. Zenethar Thariginian, König und Erster Protektor von Trimoria, opferte im Endkampf gegen die Dämonen alles.

Mit diesem selbstlosen letzten Akt errichtete er die Barriere, die noch heute unsere Sicherheit gewährleistet.«

Roselle murmelte: »Mögen seine Opfer nie in Vergessenheit geraten.«

»Meine Blume, von Protektoren wird all das erwartet, was du aufgezählt hast. Aber sie werden als Männer ausgewählt, die dieselben Tugenden wie der Erste Protektor verkörpern. Sie sind eine Kraft des Guten in der chaotischen Welt, in der wir leben. Jeder Protektor wäre bereit, sein Leben für das Wohl der Menschen in seiner Obhut zu opfern.«

Arabelle zog leicht an den Zügeln, damit Logan die anderen nicht überholte. »Also ist die Lehre für mich, mir immer vor Augen zu halten, was die Protektoren im Dienst ihres Volks schon getan haben und weiterhin tun? Ich sollte solche Opfer als Teil dessen betrachten, was ich für unser Volk tun sollte?«

»Das ist ein Anfang, Liebes. Unser Volk verlässt sich darauf, dass wir es anführen, das darfst du nie vergessen. Deshalb müssen wir tun, was immer für das Wohlergehen der Menschen nötig ist. Es ist unsere heilige Pflicht, auch wenn sie sich manchmal erdrückend anfühlt.«

»Und die Menschen lieben Euch dafür, Scheich«, warf Roselle ein und neigte respektvoll das Haupt.

Arabelles Vater lächelte die alte Frau an, bevor er sich wieder an seine Tochter wandte. »Eines Tages werden du und dein Gemahl diese Karawane anführen. Ihr werdet eine Verantwortung tragen, die du dir kaum vorstellen kannst. Es wird allmählich Zeit, dass du dich ernsthaft mit solchen Dingen auseinandersetzt, meine Blume. Ich werde nicht ewig leben.«

Die Prinzessin verspürte wachsende Besorgnis und fragte sich, ob sie je für eine solche Verantwortung bereit sein würde.

Plötzlich kam ihr eine Frage in den Sinn, an die sie zuvor noch nie gedacht hatte. »Der Traum von der Vernichtung des Dämons, den alle teilen, und von dem Mann auf dem Hügel – das ist also der Erste Protektor? Ist das wirklich passiert?«

Ihr Vater bedachte sie mit einem ungläubigen Blick. »Du hast gedacht, das wäre bloß ein Traum?«

Arabelle zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir wohl nie groß Gedanken darüber gemacht. Was ist mit der Barriere, die er errichtet hat? Wenn das nicht nur eine Geschichte ist, wo ist sie dann? Wie kommt es, dass ich sie noch nie gesehen habe?«

»So etwas darf man sich nicht nähern, Prinzessin!«, entfuhr es Roselle. »Das ist zu gefährlich.«

»Aber ich weiß nicht mal, wie die Barriere aussieht oder wo sie zu finden ist. Wie kann ich sie meiden, wenn ich nichts darüber weiß?«

Arabelles Vater lachte leise. »Ein guter Einwand. Ich bin sicher, Roselle hat es dir beigebracht: Das Trimoria, das wir heute kennen, ist nur ein kleiner Teil des Kontinents, über den unser Volk vor langer Zeit, vor den Dämonenkriegen, gereist ist. Das heutige Trimoria wird von der Barriere begrenzt, einer undurchdringlichen Nebelwand, die um das Reich herum verläuft. Niemand, der den Nebel betreten hat, ist je zurückgekehrt.«

Arabelles Gedanken hatten sie bereits zu einer weiteren Frage geführt. »Warum hat Trimoria keinen König mehr?«

»Die Linie hat geendet«, antwortete Roselle seufzend. »Zu Lebzeiten meines Großvaters hat noch König Harold Thariginian geherrscht. Aber alle seine Nachkommen hat ein frühes Ableben ereilt, und seither sind wir ohne Königshaus.«

»Und danach hat der Zauberer Azazel die Macht übernommen?«

»Sprechen wir b-bitte nicht über Azazel«, stammelte Roselle.

»Aber der Erste Protektor war doch auch ein Zauberer, oder?«, fragte Arabelle.

»Ja«, bestätigte ihr Vater. »Er war außerdem ein großer Krieger und König.«

»Aber wenn Zauberei für Gutes eingesetzt werden kann wie vom Ersten Protektor, warum hat Azazel sie dann verboten?«

Plötzlich wirkte ihr Vater unbehaglich und etwas blass.

Roselle räusperte sich. »Wollen wir uns nicht lieber etwas Erfreulicherem widmen? Sprechen wir doch über die Beziehung unseres Volks zu den Stadtbewohnern von Trimoria.«

Aber als die Lehrerin darüber zu reden begann, hörte Arabelle nicht zu. Sie war zu beschäftigt damit, über die merkwürdige Reaktion ihres Vaters zu grübeln.

* * *

Innerhalb der Karawane durfte Arabelle, wohin sie wollte. Allerdings hatte ihr Vater einige Regeln aufgestellt, gegen die sie nie verstoßen durfte. Die erste bestand darin, niemals die nähere Umgebung der Karawane zu verlassen, ohne ihm zuvor Bescheid zu geben. Die zweite lautete, dass sie überallhin von einer Eskorte begleitet werden musste.

An diesem Tag verstieß sie gegen beide Regeln.

Es geschah, nachdem die Karawane ihr Lager am Waldrand östlich von Aubgherle aufgeschlagen hatte. Arabelle kannte die Gegend, denn Aubgherle war eine größere Stadt. Deshalb blieben sie hier manchmal einen Monat am Stück. Bei solchen Aufenthalten nutzte sie jede Gelegenheit, um ihre Leibwächter abzuschütteln und die Wälder auf eigene Faust zu erkunden. Sie genoss die Einsamkeit, die sie tief zwischen den Bäumen fand.

Dichter Nebel verhüllte das stille Tal, während sie nach schwer auffindbaren Wesen suchte. Ihr Vater glaubte nicht an Elfen. Genau wie die meisten Menschen.

Arabelle wusste es besser.

Sie hatte sie nicht nur schon mehrmals flüchtig erspäht, in seltenen Fällen hatte sogar einer der jüngeren Elfen angehalten, um mit ihr zu sprechen. Manche beherrschten kein Trimorianisch, andere schon. Es handelte sich um eine bezaubernde Rasse wunderschöner Menschen, aber sie meisten hegten ausgeprägten Argwohn gegen Menschen.

Insgeheim hatte Arabelle vor, ihr Vertrauen zu gewinnen.

Es war noch sehr früh am Morgen. Die Ankunft der Sonne kündigte sich erst kaum wahrnehmbar mit einem pfirsichfarbenen Schimmer am Horizont an. Arabelle schlich auf Zehenspitzen und suchte nach den Spuren, die Elfen manchmal hinterließen. Plötzlich durchbrach ein hohes, gurgelndes Grollen die Stille, und eine grün geschuppte, echsenähnliche Kreatur der Größe eines ausgewachsenen Hunds brach aus dem Unterholz hervor.

Das Wesen bedachte Arabelle mit einem unheilvollen Blick, der ihr einen Schauder über den Rücken jagte. Etwas Vergleichbares hatte sie in Trimoria noch nie gesehen. Auch gehört hatte sie noch nie von so etwas. Die bösartigen, gelb-schwarzen Augen starrten sie finster an, als die Kreatur bedrohlich knurrte. Dann kratzte sie mit den Krallen über den Boden, breitete Flügel aus und spannte den Körper zu einem Sprung an.

Plötzlich sauste eine Reihe grauer Schemen vorbei. Das Wesen gab einen röchelnden Laut von sich, als auf einmal zwei Pfeile aus seiner Brust ragten.

Ein Elf tauchte aus dem Nichts auf und hieb dem Monster mit seinem Schwert in den Hals, enthauptete es mit dem einen Streich beinah. Aus dem zuckenden Körper strömte pulsierend Blut, als es die schlangenartigen Augen zum letzten Mal schloss.

Der Elf drehte sich Arabelle zu. »Bist du verletzt?«

Sie spürte auf der Brust etwas Nasses, das ein Brennen verursachte. Als sie den Blick senkte, sah sie zwei qualmende Löcher in ihrer Reisekleidung. Die Kreatur hatte sie mit etwas bespuckt, bevor der Elf sie töten konnte. Die Welt verschwamm, neigte sich plötzlich, und der Boden raste ihr entgegen.

* * *

»Arabelle, es geht dir nicht gut.«

Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber es gelang ihr nicht.

Ich kann mich nicht bewegen.

»Du bist nicht gelähmt. Nur bewusstlos.«

Ich fühle mich nicht bewusstlos. Warte ... Woher weißt du, dass ich dachte, ich wäre gelähmt?

»Mein Name ist Seder, und du wirst gerade versorgt. In der Zwischenzeit können wir uns auf diese Weise unterhalten. Sprich in deinem Geist – ich kann dich hören.«

Bist du ein Elf? Können Elfen Gedanken lesen?

»Nein, ich bin kein Elf. Ich bin ... etwas anderes. Stell dich mir als Naturgeist vor. Hör gut zu. Ich erzähle dir eine Geschichte, in der du eine Rolle spielst. Es ist an der Zeit, dass du eine große Verantwortung übernimmst.«

Bekomme ich noch mehr von den Elfen zu sehen?

»Ich kann dir versprechen, dass sich deine Beziehung zu den Kindern des Waldes von diesem Moment an für immer verändern wird.«

Dann erzähl!

»Diese Geschichte beginnt vor vielen Tausend Jahren. Damals hat der Schöpfer meine Welt und mich erschaffen und mir einen Bruder namens Sammael gegeben. Sammael hatte Freude daran, überall Chaos zu säen, wo Ordnung geherrscht hat, ich hingegen hatte Freude daran, Ordnung aus Chaos entstehen zu lassen. Wir waren ein gegengleiches Paar.

Wir haben erfahren, dass es noch andere Welten mit weiteren Kindern des Schöpfers gab. Aber Sammael und ich waren anders als die meisten seiner Kinder. Wir konnten die Entfernungen zu diesen anderen Welten überwinden, während es die Bewohner jener anderen Welten offenbar nicht konnten.

Mein Bruder hatte das Bedürfnis, auch dort sein Chaos zu säen. Ich habe immer gewusst, dass es mich gibt, um die Handlungen meines Bruders auszugleichen. Sollte es ihm je gelingen, ohne mein Gegengewicht Einfluss in einer Welt zu erlangen, wären die Folgen für jene Welt verheerend.

Genau das vollzieht sich hier. Mein Bruder hat einen Weg gefunden, einen bedeutenden Teil seines Wesens in deine Welt zu entsenden. Er will das Land, das du Trimoria nennst, in Stücke reißen. Ich versuche, das zu verhindern. Und ich habe vorhergesehen, dass du ein Teil meiner Pläne sein musst.«

Wie könnte ich dabei helfen? Ich bin nur ein Mädchen und weiß noch nicht mal, wie man ein Schwert führt.

»Die Fäden des Schicksals haben sich um deine Familie gesponnen. Und einen besonderen Knoten bilden sie um dich, Arabelle, Prinzessin der Imazighen. Ich wünschte, ich könnte dir die Reise erleichtern, denn du wirst sehr leiden. Aber du wirst gerade durch dieses Leiden viel über dich selbst und darüber erfahren, was dir vorherbestimmt ist.«

Was soll ich tun?

»Überleben.«

Überleben?

»Das Schicksal von allem, was du kennst, hängt von deinem Überleben ab. Such in deinem Inneren nach dem, was du brauchst. Es steckt in dir, fast alles zu vollbringen. Aber ... ich gewähre dir eine zusätzliche Fähigkeit, die dir die Reise erleichtern wird. Wenn du aufwachst, wirst du in der Lage sein, jedes Lebewesen aufzuspüren, das du dir vorstellst.

Jetzt entspann dich. Ich entlasse dich zurück ins Bewusstsein.

Denk daran, das Schicksal deines Volks und deines Landes liegt in deinen Händen.«

* * *

Als Arabelle die Augen aufschlug, erblickte sie einen runzligen Elf, der über ihr stand.

»Willkommen zurück unter den Lebenden, Wunderkind«, sagte der Elf lächelnd. »Eigentlich müsstest du tot sein.«

Tot? Warum sollte ich tot sein?

Der Elf antwortete nicht, und Arabelle wurde bewusst, dass sie immer noch in ihrem Geist sprach. Sie versuchte es erneut, diesmal laut.

»Warum sollte ich tot sein? Ich bin doch nur ohnmächtig geworden, nachdem ... nachdem ein Elf dieses zischende Ungeheuer erschlagen hat. Was war das überhaupt für eine Kreatur?«

Der alte Elf half ihr, sich aufzusetzen. Ihr Körper schmerzte, ihre Muskeln beschwerten sich lauthals über die Bewegung. Erst da bemerkte sie, dass sie keine Kleidung trug und ihren Körper eine durchdringend nach Kiefernharz riechende Salbe überzog.

Rasch bedeckte sie sich. »Wo sind meine Sachen?«

Der Elf holte ihre Kleidung von einem Tisch neben ihm. Als sie sich mit nach wie vor pochenden Muskeln anzog, klärte er sie auf.

»Du bist von einer Kreatur angegriffen worden, von der wir dachten, sie wäre längst ausgestorben. Ein verdorbener Drache. Oder wie es in einigen Geschichtsbüchern heißt, ein ›Drache mit Dämonenkuss‹. Im Gegensatz zu Drachen aus verbreiteteren Geschichten sind diese Drachen nicht in der Lage, vernünftig zu denken. Sie leben nur, um zu fressen, zu töten und Chaos zu verbreiten, sind Geschöpfe des Schmerzes und des Leids. Weil sie in ihrem blinden Streben nach Zerstörung unweigerlich mächtigeren Raubtieren über den Weg laufen, werden sie selten groß. Aber sie müssen nicht groß sein – sogar ein Schlüpfling wie der, dem du begegnet bist, ist tödlich. Diese Drachen greifen sowohl mit ihren Klauen als auch mit ihrer Spucke an. Dich hat letzteres getroffen, und das Gift der Kreatur ist durch deine Haut gesickert.«

Wäre Arabelle nicht selbst das Opfer gewesen, sie hätte es nicht geglaubt. Ein echter Drache?

»Und diese ... Salbe, die überall auf mir ist – hat sie mich geheilt?«

Der Blick des alten Elfen wurde düster. »Ich fürchte nein. Das Gift ist immer noch in dir und versucht, dich zu lähmen. Es gibt kein bekanntes Heilmittel. Aber ich habe meine Bibliothek durchforstet und eine Möglichkeit gefunden, das Einsetzen der Folgen hinauszuzögern. Entscheidend ist, dass sich das Gift nie zu lange an einer Stelle festsetzen darf. Wenn das geschieht, kristallisiert es und lähmt Muskeln. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis du nicht mehr atmen kannst und unweigerlich stirbst.«

Arabelle schnappte zittrig nach Luft. »Ich werde sterben?«

»Nicht, wenn du nicht willst«, verkündete eine andere Stimme. Ein zweiter Elf betrat den Raum. Arabelle erkannte ihn als jenen, der sie vor der Bestie gerettet hatte.

»Das ist Castien«, stellte der ältere Elf vor. »Er hat dich zu mir gebracht. Er ist unser Schwertmeister und hat das Ungetüm verfolgt. Leider hat es dich erwischt, bevor er ihm beikommen konnte.«

»Danke, dass du mir das Leben gerettet hast«, sagte Arabelle. »Vorläufig«, fügte sie hinzu. Sie konnte nicht glauben, dass sie soeben aus heiterem Himmel zum Tod verurteilt worden war. Ich werde sterben.

Castien lächelte und legte Arabelle die Hände auf die Schultern. »Nicht nur vorläufig. Du darfst nur nicht über längere Zeit aufhören, dich zu bewegen, dann kannst du überleben, so lange du willst.«

»Aber das ist unmöglich. Irgendwann muss ich doch schlafen, oder? Ich sollte bereits tot sein!«

»Und das wärst du auch, aber ich habe regelmäßig deine Gliedmaßen bewegt, um das Einsetzen der Folgen zu verhindern. Sag: Willst du lang genug leben, um für dein Volk nützlich zu sein?«

Unzählige Gedanken schossen Arabelle durch den Kopf, aber nur einer zählte. »Natürlich will ich leben!«

»Gut. Denn es ist nicht unmöglich. Wir haben alte Aufzeichnungen über Elfen, die viele Jahrzehnte mit einem solchen Gift im Körper überlebt haben – indem sie nie länger als ein paar Stunden am Stück geschlafen haben. Du wirst lernen, ein bisschen zu schlafen, aufzuwachen, die Muskeln durch kräftige Bewegung mit Blut durchzuspülen, ein bisschen weiterzuschlafen und so weiter. Wie alles Neue wird es anfangs schwierig sein, aber du wirst es schaffen. Denn wenn nicht, stirbst du. So einfach ist das.«

Arabelle blickte auf ihre Brust hinab. »All das, weil ich angespuckt wurde?«

Castien ging zu einem Tisch in der Ecke und kehrte mit einem Schwert zurück – oder eigentlich den Überresten eines Schwerts. Er hielt es vor ihr hoch. »Siehst du die Löcher im Metall und die Teile der Klinge, die wie geschmolzen wirken?«

Sie nickte.

»Das ist die Waffe, mit der ich diese höllische Untier erschlagen habe. Sein Blut hat sich geradewegs durch das Metall gefressen. Also kannst du dir wohl vorstellen, wie kraftvoll das Gift der Bestie ist.«

Arabelle rieb sich die Rippen. »In Ordnung. Ich muss in Bewegung bleiben. Ich muss lernen, immer nur zwei Stunden am Stück zu schlafen. Und ich muss am Leben bleiben. Um meines Vaters und auch um Seders willen.«

Die Augen des älteren Elfen weiteten sich. »Hast du Seder gesagt?«

»Wahrscheinlich betet sie ihn bloß an, Eglerion«, sagte Castien.

»Ich bete ihn nicht an«, widersprach Arabelle. »Tatsächlich hatte ich noch nie von Seder gehört, bevor er mit mir gesprochen hat.«

Auf einmal starrten beide Elfen sie mit ungläubig großen Augen an.

»Seder hat mit dir gesprochen?«, fragte Eglerion. »Was hat er gesagt?« Arabelle schilderte die Unterhaltung, die sie mit der geheimnisvollen Stimme geführt hatte, die sich selbst Seder nannte.

Eglerions Augen wurden mit jedem Wort größer.

Als sie fertig war, wandte er sich an Castien. »Du musst sie in deinen besonderen Fähigkeiten unterweisen. Ich kläre das mit der Xinthian, aber diese junge Dame muss die Möglichkeit erhalten, ihre Verpflichtungen gegenüber Seder zu erfüllen.«

Arabelle war verwirrt. »Xinthian?«

Eglerion legte ihr die Hand auf die Schulter. »Xinthian ist der Älteste unseres Volks. In Abwesenheit unserer Königin hat er die Befehlsgewalt in Eluanethra, unserer Heimat.«

Castien lachte leise. »Lass dich von Eglerion nicht zum Narren halten. Er ist fast so alt wie Xinthian und hat genauso viel zu sagen.«

Eglerion warf dem Schwertmeister einen strengen Blick zu, bevor er die Aufmerksamkeit wieder auf Arabelle richtete. »Dass Seder mit dir gesprochen hat ...« Er schüttelte den Kopf. »Mir war nicht bewusst, dass er überhaupt mit Menschen spricht. Daher muss seine Botschaft von großer Bedeutung sein. Er ist ein Geist mit großer Macht und ein Wohltäter für mein Volk. Ich würde seinen Worten vorbehaltlos vertrauen.«

* * *

Castien wurde damit betraut, Arabelle zurück zu ihrer Karawane zu begleiten. Während sie durch den nebligen Wald gingen, hatte Arabelle einige Fragen. Jede Menge sogar.

»Warum versteckt sich dein Volk vor den Menschen?«

Castien bedachte sie mit einem langen Blick. »Ich wüsste gern den Namen des Menschen, dem ich elfische Geheimnisse verrate.«

Arabelle spürte, wie sie unter dem Blick ihres Retters errötete. »Arabelle.«

»Also gut, Arabelle. Nichts, was ich dir mitteile, darf an andere weitergebeben werden. Verstehen wir uns?«

»Ich verstehe.«

»Du fragst, warum wir uns vor den Menschen verstecken. Es ist so, dass zwar die meisten Menschen freundlich und wohlmeinend sind, es aber unter euch auch welche gibt, die wir nicht ertragen wollen.«

»Meinst du Azazel?«

Castien nickte. »Ihn und jene, die ihm folgen. Obwohl ich darüber nicht ausführlicher sprechen kann. Es gibt Geheimnisse, die ich nicht preisgeben darf. Belassen wir es dabei, dass die Völker der Elfen und der Menschen nicht verfeindet sind, es aber am besten ist, wenn wir Abstand zwischen uns wahren. Vorläufig.«

Als sie sich dem Waldrand näherten, blieb Castien stehen.

»Es geht auf Mittag zu, und von hier aus findest du den Weg allein. Wir treffen uns um Mitternacht wieder an dieser Stelle, dann beginnen wir mit deiner Ausbildung. Und wenn dir dein Leben lieb ist, schläfst du nicht vorher ein.«

Arabelle schaute in Castiens mandelförmige Augen auf und betrachtete bewundernd sein kurz gestutztes, blondes Haar und die charakteristischen Elfenohren. Sein Erscheinungsbild wirkte zugleich fremdartig und wunderschön.

Während sie so nah bei ihm stand, breitete sich eine unangenehme Wärme durch sie aus.

Plötzlich wurde ihr bewusst, wie viel sie diesem mutigen Elfen verdankte, und die Ereignisse des Morgens brachen über sie herein. Sie wäre beinah gestorben. Und sie konnte immer noch sterben. Das alles wurde ihr zu viel. Ihre Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, und ungebetene Tränen flossen. Impulsiv schlang sie die Arme um Castiens Mitte, vergrub das Gesicht an seiner Brust und schluchzte.

Sie spürte eine tröstende Hand auf dem Rücken. »Arabelle, ich gebe dir das Rüstzeug, das du zum Überleben brauchst, das verspreche ich dir. Hingegen kann ich dir nicht versprechen, dass es einfach sein wird. Aber du wirst weiterhin ein Leben haben – um daraus zu machen, was immer du kannst.«

Sie drängte die Tränen zurück und schaute zu ihrem wundersamen Retter auf. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«

Castien trat einen Schritt zurück und legte ihr fest die Hände auf die Schultern. »Lass meine Bemühungen nicht umsonst gewesen sein, indem du jetzt stirbst. Deine Bürde ist schwer, aber es steckt in dir, etwas Besonderes für dein Volk und womöglich für ganz Trimoria zu werden. Heute Nacht beginnt dein Unterricht.«