Das Leben Eines Waisenkinds

Als Grisham irgendwann nach Mitternacht in der Dunkelheit erwachte, war sein erster Gedanke: Jetzt ist offiziell mein zwölfter Geburtstag.

Obwohl es niemanden sonst kümmerte, fühlte es sich für Grisham gut an, dass er es in dieser seltsamen Welt zu einem weiteren Geburtstag geschafft hatte.

Und er konnte sich glücklich schätzen, mit einem Dach über dem Kopf in einem Bett zu liegen – auch wenn sich das Dach über den Schlafsaal eines camorrischen Waisenhauses spannte, vollgestopft mit weiteren Pritschen und anderen Waisenkindern. Jedes Mal, wenn sich eines der Menschenkinder über die Schlafsituation beschwerte, erinnerte er sich an eine dunklere Zeit im ersten Jahr nach dem Tod seines Vaters. Damals war er durch die Straßen von Cammoria geirrt und hatte unter rattenverseuchten Müllhaufen geschlafen, um nicht zu erfrieren.

Er wähnte sich glücklich, diese Pritsche zu haben. Grisham erinnerte sich noch lebhaft an den Tag, als er zum ersten Mal in den Schlafsaal gelassen wurde und eine dünne Decke bekam. Damals war er fassungslos über sein Glück gewesen.

Er rollte sich auf die Seite und schloss die Augen. Zwölf Jahre alt . In Anbetracht aller Umstände nicht übel.

Bald fiel er in einen unruhigen Schlaf und durchlebte im Traum noch einmal den Moment, der sein Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte.

* * *

Grishams Volk kannte man als die Ta’ah. Sie lebten tief unter der Erde, geschützt vor den Gefahren der Welt über ihnen. Größtenteils geschützt. Sogar tief in ihren Tunneln und Höhlen stießen die Jagdgesellschaften gelegentlich auf einen verirrten Dämon von der Oberfläche oder, schlimmer noch, auf eine der gefürchteten Priesterinnen von Lilith.

Dennoch war es wesentlich besser als oben, wo fast alles Leben ausgelöscht und sämtliche Anzeichen der Zivilisation vernichtet worden waren. Es lag Jahrhunderte zurück, dass sich ihr Volk zuletzt in diese verfluchte Welt gewagt hatte. Warum auch, wenn sie dank der Magie der Ältesten in der Sicherheit ihrer Eigenheime bleiben konnten?

Grisham jedoch war die Geborgenheit eines Zuhauses nicht vergönnt. Denn die Seher ihres Volkes hatten erklärt, Grisham und sein Vater wären dazu bestimmt, einen Vertrag über die große Barriere zum thariginischen König zu bringen.

Grisham fand den Gedanken unvorstellbar. Er konnte sich nicht ansatzweise ausmalen, wie die Außenwelt sein könnte. Die Ältesten hatten versichert, das Leben oben wäre auf der anderen Seite der Barriere viel sicherer als hier. Trotzdem blieb Grisham argwöhnisch und ängstlich.

Diese Mission führte Grisham und seinen Vater in eine verborgene Kammer der untersten Ebene in der unterirdischen Heimat der Ta’ah. Nur mit Erlaubnis der Ältesten durfte man diese Ebene der höchsten Sicherheitsstufe betreten.

Ein Spiegel stand an einer Wand. Grisham hatte bisher nur in ehrfürchtig geflüsterten Bemerkungen davon gehört. Ihn überraschte, dass der Spiegel in seinem Metallrahmen völlig gewöhnlich aussah, etwa anderthalb Meter hoch und knapp zwei Meter breit. Bemerkenswert fand er daran höchstens, dass der Rahmen eine Reihe von Einkerbungen aufwies, jeweils so groß wie ein Fingernagel.

Zwei der Ältesten hatten sie in die Kammer begleitet. Sie holten leuchtende Edelsteine aus ihren Gewändern und legten sie in ausgewählte Einkerbungen des Metallrahmens. Nach kurzer Zeit verblasste der Schein der Edelsteine. Stattdessen erschienen winzige Lichter am Rahmen, gingen in einer Abfolge, die sich um den Spiegel herumbewegte, an und aus, wurden schneller und schneller, bis es so wirkte, als raste ein einzelnes Licht im Kreis um den Rahmen.

Grisham zitterte, konnte seine Nervosität nicht verbergen.

Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Keine Sorge. Ich bin schon durch solche Reisegeräte gegangen. Es tut nicht weh.«

Die beiden Ältesten standen mit geschlossenen Augen an den Seiten des Reiseportals und summten. Das Flackern der Lichter steigerte sich. Bald wurde die Rotation so schnell, dass die einzelnen Lichter zu einem durchgehenden Lichtkreis um den Spiegel verschmolzen. Der Kreis pulsierte, flammte grell in den Infrarotbereich, und die Reflexion im Spiegel löste sich auf. Stattdessen zeigte er die Welt oben.

Zum ersten Mal im Leben sah Grisham die Sonne. Sein Vater drückte ihm die Schulter. »Bist du bereit?«

Grisham sah sich ein letztes Mal im Raum um. Mittlerweile wiegten sich die Ältesten hin und her und murmelten einen Sprechgesang, die Augen nach wie vor geschlossen. Knisternde Energie wirbelte durch die Kammer und sträubte Grisham die Haare.

Er nickte. »Ich bin bereit.«

Zusammen traten sein Vater und er vor.

Grisham verspürte nur ein kurzes Schwindelgefühl, dann war er angekommen. Durch die Veränderung des Luftdrucks fielen ihm die Ohren zu. Eine kühle Brise wehte ihm ins Gesicht, und er atmete die unbekannten Gerüche einer neuen Welt ein. Als er zurückschaute, fehlte jede Spur von der Höhle oder dem Portal.

Er war tatsächlich durch das Portal gereist – und durch die Barriere.

»Müssen wir uns hier nicht vor Dämonen fürchten«, fragte er.

Sein Vater legte ihm den Arm um die Schulter. »Nein, mein Sohn. Der thariginische König beschützt uns innerhalb seiner Barriere. Und jetzt fahren wir mit unserer Mission fort. Wir suchen den Erben des thariginischen Königs und helfen ihm, unsere beiden Völker wiederzuvereinigen.«

* * *

Grisham wäre nie der Gedanke gekommen, die Bürger eines geschützten Lands könnten für sie eine ebenso große Gefahr darstellen wie die Dämonen außerhalb der Barriere. Aber schon bald musste er feststellen, dass sein Vater und er selbst innerhalb der Barriere nicht sicher waren.

Ihre Schwierigkeiten fingen an, als Grishams Vater ein Feuer entfachte, indem er die Hand schwenkte – einfach gewobene Magie. Sie hatten sich allein in einer verlassenen Scheune gewähnt. Aber wie sich herausstellte, wurde die Magie von einem auf dem Heuboden über ihnen versteckten Menschen beobachtet.

Der Mensch schrie erschrocken auf, schoss aus seinem Versteck hervor und rannte nach draußen. Zum Glück hatten Grisham und sein Vater bereits das Weite gesucht, bevor schwarz gekleidete Soldaten eintrafen, um nach dem Rechten zu sehen.

Zu dem Zeitpunkt waren sie noch völlig naiv, was dieses neue Land anging. Sie hatten keine Ahnung, warum das Aufblitzen von Magie für solches Aufsehen gesorgt hatte. Das wurde ihnen erst später klar. Wie sich herausstellte, regierte ein Zauberer namens Azazel das Land innerhalb der Barriere mit eiserner Faust. Das Volk von Trimoria litt unter dem Joch seiner Tyrannei. Er war der letzte verbliebene Zauberer innerhalb der Barriere – alle anderen Magier hatte er ausgelöscht. Und er kannte keine Skrupel, ein ganzes Dorf in Schutt und Asche zu legen, um seine Regeln durchzusetzen. Sie hatten gegen die Regel verstoßen, dass Magie ausschließlich von Azazel gewirkt werden durfte. Wer es trotzdem tat, wurde zum Tode verurteilt.

Deshalb genügte das schlichte Entfachen eines Feuers, um die Aufmerksamkeit der als Azazels Vollstrecker bekannten Soldaten zu erregen.

Leider gestaltete es sich für sie nicht einfach, sich unter Menschen zu verstecken. Für die Menschen über der Erde, die noch nie einen Ta’ah gesehen hatten, sahen sie wie Zwerge aus – nur mischten sich Zwerge selten unter Menschen. Deshalb fielen ein erwachsener Zwerg und sein Kind sofort auf.

Sie überlebten nur, weil sein Vater so geschickt darin war, Illusionen zu weben. Wenn sie stillstanden, konnte er sie völlig unsichtbar machen. Wenn sie sich bewegten, krümmte dieselbe Illusion das Licht um sie herum so, dass sie mehrere Schritte von ihrem tatsächlichen Standort entfernt zu sein schienen. Ohne diesen Trick hätte sie schon so mancher Armbrustpfeil getroffen.

* * *

Grisham flüchtete mit seinem Vater aus den besiedelten Gebieten. Sie suchten Zuflucht in einer Höhle in den Bergen. Grisham fühlte sich in der Höhle ohnehin wohler als in der Oberwelt. Beim Anblick der Wolken und des Himmels wurde ihm schwindlig.

Wie können sich die Oberweltler bloß daran gewöhnen, keine Decke über dem Kopf zu haben? Dennoch harrte Grisham in der Nähe des Eingangs aus, während er auf die Rückkehr seines Vaters von der Nahrungssuche wartete. Papa hatte vor dem Aufbruch ein Schutzgeflecht über den Eingang gewoben. Dadurch blieb Grisham unsichtbar für zufällig vorbeikommende Menschen oder Tiere.

Doch wie Grisham bald herausfinden sollte, verbarg das Geflecht nicht seinen Geruch.

Ein riesiger Soldat tauchte zwischen den Bäumen hervor auf und betrat die Lichtung unmittelbar vor der Höhle. Er ähnelte kaum einem normalen Mann, denn er ragte zwei Kopf höher auf als die meisten. Außerdem standen lange Hauer aus seinem Unterkiefer hervor. Er schnupperte, dann schwenkte er den Blick der gelben Augen in die Richtung der Höhle.

Grisham erstarrte. Sein wilder Herzschlag dröhnte ihm durch die Ohren.

Der Hüne schnupperte erneut, knurrte und stapfte zielstrebig, bedrohlich auf die Höhle zu.

Grisham wusste nicht, was er tun sollte. Die Höhle war nicht tief. Er konnte sich nirgendwo verstecken und nirgendwo flüchten. Also konnte er nur ausharren, sich ruhig verhalten und hoffen, dass dieses menschenähnliche Ungetüm abdrehen würde.

Dann schleuderte wie aus dem Nichts ein Energiestoß die bedrohliche Gestalt von den Beinen, und Papas Stimme rief: »Ich habe dir gesagt, du sollst dich von mir und den meinen fernhalten!«

Grishams Vater trat zwischen den Bäumen hervor und hielt auf den Soldaten zu. Er schleuderte einen weiteren sengenden Blitz, der den Soldaten unter Krämpfen zucken ließ. Knisternde Energie ließ den Körper den Rücken durchwölben, und der Getroffene brüllte vor Schmerz.

Papa holte mit dem Arm zum Todesstoß aus.

Aber bevor er den Zauber vollenden konnte, wurde er schlagartig von einem Flammensturm verschlungen.

Grisham unterdrückte einen Aufschrei.

Ein anderer Mensch erschien. Er trug ein rotes Gewand und hatte ein Grinsen im Gesicht. Rauch kräuselte sich von seinen Fingerspitzen. Hinter ihm folgten etwa zehn mit Armbrüsten bewaffnete Soldaten, alle in der vertrauten schwarzen Rüstung mit roten Insignien auf der Brust. Azazel und seine Vollstrecker.

Grishams Herz drohte, ihm aus der Brust zu springen. Er wollte zu seinem Vater laufen, konnte aber nur entsetzt zusehen.

Das Knistern der Flammen ließ nach. Sein Vater lebte noch. Sein Bart jedoch war verbrannt, die Haut knallrot und wund.

»Du hast überlebt«, stellte der Zauberer lachend fest. »Sehr beeindruckend.« In seinen Händen verdichtete sich eine knisternde schwarze Energiekugel. »Mir ist vorher noch nie ein Zauberer aus den Rängen der Ambossklopfer begegnet. Wo es einen gibt, da muss es zwangsläufig auch andere geben. Keine Sorge. Ich kann dir versichern, dass ich deine Zwergenbrüder einen nach dem anderen aus ihren Löchern zerren werde. Einzeln, wenn es sein muss.«

Papa kniete, und Grisham spürte, dass er die Kräfte für einen tödlichen Energiestoß sammelte. Dann jedoch hielt er inne, drehte sich in Grishams Richtung und rief: »Wer weiß, wann man kämpfen muss und wann nicht, wird am Ende siegreich sein!«

Er hechtete zum Höhleneingang bis knapp vor das Schutzgeflecht und feuerte einen wilden Energiestoß in die überhängende Felswand ab.

Der Berg erzitterte, und Grisham wurde rückwärts geschleudert. Ein Spalt öffnete sich in der Höhlenwand hinter ihm. Gleichzeitig stürzten riesige Brocken der Felswand direkt auf seinen Vater, versiegelten den Eingang zur Höhle und quetschten das Leben aus der einzigen Familie, die Grisham hatte.

* * *

Grisham erwachte abrupt und trotz der Kälte in der Luft schweißgebadet.

»Wieder dieser Traum?«, fragte Wat, dem die Pritsche neben seiner gehörte. Wat zählte zu seinen wenigen Freunden im Waisenhaus.

Grisham nickte. »Leider.«

Wat seufzte wehmütig. »Ich wünschte, ich hätte Erinnerungen an meine Eltern. Für mich kommt die Oberin dem am nächsten, was ich je als Mutter oder Vater hatte.«

»Ich möchte lieber nicht darüber reden«, sagte Grisham. Drei Jahre waren seit dem Tod seines Vaters vergangen, trotzdem fühlte es sich immer noch wie gestern an. Die Seher hatten sich mit seinem Schicksal so sehr geirrt. Seine erfolglose Mission hatte mit dem Tod seines Vaters ebenso geendet wie Grishams Hoffnungen, je nach Hause zurückzukehren.

»Warum begleitest du mich heute nicht zur Jagd?«, schlug Wat vor. »Wir Zwerge müssen zusammenhalten. Du weißt so gut wie ich, dass für einen Zwerg keine Chance besteht, in dieser Stadt je adoptiert zu werden.«

Grisham setzte dazu an, den Kopf zu schütteln. Wat meinte es gut, aber Grisham durfte sich nicht gestatten, dass er sich auf irgendjemandes Gesellschaft verließ. Schon gar nicht auf die von Wat, der nicht mehr lange im Waisenhaus bleiben würde. Mit 17 würde er den Platz bald für jüngere Kinder räumen müssen. Ohne die Freundlichkeit der Oberin wäre er schon früher rausgeworfen worden. Zu seinem Glück hatte er bereits ein Wunder für einen verwaisten Zwerg vollbracht: Er hatte sich mit dem örtlichen Bibliothekar angefreundet und eine Lehrstelle in der Stadtbücherei erhalten.

»Komm schon, Grish. Was sagst du?«

Grisham schaute zu seinem Freund auf. Sobald Wat weg wäre, würde Grisham als einziger »Zwerg« im Waisenhaus zurückbleiben. Der letzte Anschein seiner Herkunft oder seines Volks würde zur Tür hinausmarschiert sein. Vielleicht sollte er die Gelegenheiten nutzen, solange er noch konnte.

»Ja«, willigte er schließlich ein. »Ich begleite dich zur Jagd.«

Wats strahlendes Lächeln erhellte den Raum beinah. »Großartig! Ich sehe doch noch Hoffnung für dich. Ich leihe mir einen Bogen, dann versuchen wir, ein paar schöne fette Hasen zu erwischen. Das wird lustig. Du wirst sehen.«

* * *

Wat war der Einzige in Trimoria, mit dem Grisham richtig reden konnte. Der Tod seines Vaters hatte ihn früh gelehrt, dass er hier niemandem vertrauen konnte, also hatte er es nicht getan. Tatsächlich hatte er in drei Jahren mit niemandem außer Wat mehr als hundert Worte gewechselt – und sogar mit Wat redete er nicht viel. Ohne seinen Freund würde er niemanden mehr haben. Als er mit Wat durch die Wälder vor Cammoria wanderte, war er froh, dass er mitgekommen war.

Sein Freund hockte sich hin und hob Kaninchenkot auf. Er zerbröckelte ihn in der Hand, ließ ihn fallen und nickte. »Ist noch frisch. Sie müssen irgendwo in der Nähe sein.«

Grisham ließ den Blick über das Grasland wandern, entdeckte aber keine Anzeichen von Wildtieren. Beim Jagen sah Wat viel, das Grisham entging.

Dafür sah Grisham, dass irgendetwas mit seinem Freund vor sich ging. Wats Aura schwankte zwischen Weiß und Rot. Und wann immer er Grisham ansah, färbte sie sich dunkelviolett.

»Wat, stimmt was nicht? Du siehst nicht gut aus.«

Wat schaute zu ihm herüber. Und wieder wurde die Aura violett. »Was meinst du? Ich sehe aus wie immer.«

»Nein, du wirst violett, wenn du mich ansiehst. Du hast etwas auf dem Herzen, weißt aber nicht, wie du es sagen sollst.«

Wat zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Ich sehe violett aus?«

»Deine Aura, meine ich. Ich merke dir an, dass dich etwas beschäftigt.«

Wat öffnete den Mund, hielt inne, schloss ihn wieder und strich sich über den geflochtenen Bart. »Grisham, du siehst gerade meine Aura?«

Der Ausdruck in Wats Gesicht verriet Grisham, dass er womöglich gerade einen riesigen Fehler begangen hatte.

»Siehst ... siehst du denn keine Auren?«

Wat schüttelte den Kopf. »Nein, Grisham. Niemand sieht Auren.« Grisham brach kalter Schweiß aus. Ich bin so ein Idiot. Wahrscheinlich können nur die Ta’ah Auren sehen. Jetzt muss ich wieder weglaufen, bevor ...

»Keine Sorge.« Wat legte Grisham die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. »Ich erzähle es niemandem.«

Seine Aura schimmerte bei den Worten reinweiß. Die Aura der Wahrheit. Wat glaubte die eigenen Worte.

Zittrig seufzte Grisham vor Erleichterung.

»Aber Grish ... das solltest du unbedingt für dich behalten. Wenn irgendjemand davon wüsste, würde er dich vielleicht bei Azazels schwarz gepanzertem Abschaum melden.«

Grisham nickte. »Mach ich. Es ist nur ... Können wir einfach vergessen, dass ich je was darüber gesagt habe?«

»Was vergessen?«, fragte Wat grinsend. Er beugte sich näher. »Aber falls dir die Sache, die ich schon vergessen habe, irgendeinen Vorteil verschaffen kann, dann nutz ihn. Du wirst jeden Vorteil brauchen, den du kriegen kannst. Lass nur niemanden wissen, dass du benutzt, was ich vergessen habe.«

»Ich weiß nicht mal, wovon du redest«, erwiderte Grisham und lächelte.

»Ich auch nicht!«, sagte Wat. Beide lachten.

In der Ferne heulte ein Wolf, und Wat schaute jäh auf. »Das ist nicht gut. Wir sollten zurück in den Ort. Ich will hier draußen keinem Wolfsrudel über den Weg laufen.«

»Werden wir nicht. Die Wölfe sind noch eine Weile mit Fressen beschäftigt. Hast du das Heulen nicht gehört? Der Wolf hat eben erst sein Rudel gerufen und mitgeteilt, dass er Beute gemacht hat.«

Wat strich sich über den Bart und zog erneut die Augenbrauen zusammen. Grisham begriff, dass ihm ein weiterer Fehltritt unterlaufen sein musste. »Was hab ich jetzt wieder gemacht?«, fragte er.

»Du verstehst die Sprache der Wölfe?«

»Na ja ...« Grisham verstummte. Darüber hatte er noch nie wirklich nachgedacht. »So würde ich das nicht sagen. Es ist nicht so, als hätte ich je ein Gespräch mit einem Wolf geführt. Aber ich konnte spüren, was der Wolf gesagt hat.«

Wat lächelte. »Ein gut gemeinter Rat von einem Älteren und Weiseren unserer Art: Gib auch das vor niemandem zu. Kein Wunder, dass du so wortkarg bist, seit ich dich kenne. Belass es dabei. Solche Dinge könnten die Leute zu der Vermutung verleiten, du könntest ... Na ja, du weißt schon.«

»Magie wirken?«

»Genau.«

Auf dem Rückweg zu den Stadttoren schwieg Grisham. Er war damit beschäftigt, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen, was er je zu jemandem gesagt hatte. Dabei wurde ihm bewusst, wie oft er fast eine vermeintlich harmlose Frage gestellt hätte, die ihn hätte umbringen können.

Ich darf niemandem vertrauen. Niemals.

* * *

Im Ort begab sich Wat schnurstracks zur Bibliothek. Grisham kehrte allein zum Waisenhaus zurück. Kaum war er durch das äußere Tor eingetreten, rief die Oberin seinen Namen und kam freudestrahlend angewatschelt.

»Junger Grisham! Ich habe jemanden gefunden, der interessiert zu sein scheint, einen Zwerg zu adoptieren. Kannst du dir so viel Glück vorstellen?«

In Grishams Kopf tauchten so viele Fragen auf einmal auf, dass er als Antwort nur hervorbrachte: »Äh ...«

Die Oberin reichte ihm ein Pergament. »Ich wusste, du würdest begeistert sein. Du sollst dich mit dem jungen Paar in einer Schenke namens Besoffene Kuh treffen. Und bitte, Grisham, bemüh dich, ihnen zu zeigen, wie klug und freundlich du unter der missmutigen Fassade bist. Nimm sie für dich ein und lass sie dann ihr Zeichen auf das Pergament setzen. Danach füge ich mein Zeichen hinzu, und der Vertrag ist geschlossen. Du wirst eine Familie bekommen, Grisham. Ist das nicht wunderbar?«

Wie benommen starrte Grisham auf das fest zusammengerollte, mit Wachs versiegelte Pergament in seinen Händen. Er war immer noch fassungslos über die Neuigkeit. »Wie ist dieses Paar so?«

»Ich fürchte, ich habe die beiden nicht kennengelernt. Sie haben einen Kurier geschickt, um die Vorkehrungen zu treffen. Aber das alles erscheint mir sehr vielversprechend. Ach, was wirst du mir fehlen, mein stiller kleiner Junge.« Sie packte Grisham an den Schultern, drehte ihn herum und schob ihn vorwärts. »Geh los, bevor sie es sich anders überlegen können. Ich bin überzeugt davon, dass es dir so bestimmt ist.«

Grisham stolperte durch dichten Nebel zu der Schenke. Adoption? Er hatte nie ernsthaft in Erwägung gezogen, dass es dazu tatsächlich kommen könnte. Niemand in Cammoria würde einen Zwerg adoptieren.

Er verlor sich so in seinen Gedanken, dass er die zwielichtige Gestalt, die das Gasthaus von einer Gasse aus beobachtete, kaum bemerkte, obwohl ihre Aura vor unheilvollen schwarzen und roten Streifen nur so strotzte. Ebenso wenig fiel ihm auf, wie seltsam verwaist die Straßen waren.

Sonst wäre er vielleicht auf der Hut gewesen. So jedoch trat er über die Schwelle und spürte, wie ihn etwas Hartes am Hinterkopf traf. Er brach zusammen, und Dunkelheit schwappte über ihn hinweg.