Das Leben Zu Hause

Als Arabelle zur Karawane zurückkehrte, hatte sich dichter, bedrückender Nebel über die Felder gelegt. Die Feuchtigkeit setzte sich auf ihrer Haut ab, und sie konnte nur wenige Schritte weit sehen. Den Weg fand sie überwiegend, indem sie meckernden Geräuschen folgte.

»Wie soll ich meine Waren ausstellen, wenn ich meine Kundschaft nicht sehen kann – oder nicht weiß, ob jemand versucht, mich zu bestehlen?«

»Verflucht sei der Schöpfer dieses Nebels. Eine so dichte Brühe ist mir noch überhaupt nie untergekommen. Bei solchen Bedingungen kann ich meine Schafe nicht auf die Weide führen. Ich würde sie alle verlieren!«

Arabelle hörte rennende Schritte. Gleich darauf pflügte jemand mit voller Wucht in sie hinein und stieß sie zu Boden. Einen Moment lang fürchtete sie, angegriffen zu werden. Dann erkannte sie, dass nur ein junges Mädchen mit ihr zusammengestoßen und selbst auf dem Boden gelandet war.

»Wie dumm kann man eigentlich sein?«, schimpfte das Mädchen. »Was machst du denn hier draußen? Auf der Wiese sollte eigentlich niemand sein.«

»Und wieso um alles in der Welt rennst du, wenn du nicht sehen kannst, wohin du unterwegs bist?«, entgegnete Arabelle und rieb sich den Arm. Es fühlte sich so an, als würde sich an der Stelle ein blauer Fleck bilden.

Offenbar erkannte das Mädchen erst in dem Moment, wen es über den Haufen gerannt hatte, denn die Augen der Kleinen wurden groß, und sie japste. »Prinzessin! Es tut mir so leid! Meine Schwester und ich haben Fangen gespielt. Ich bin vor ihr weggerannt.«

Arabelle lächelte. »Ist schon gut. Ich kenne dich, oder? Bist du die Tochter von Frau Mizmer?«

Das Mädchen nickte. »Ja, Herrin. Mein Name ist Zoe.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dich oft in den Kochzelten gesehen zu haben. Deine Schwester hat immer gesagt, du wärst mit den Schafen spielen.«

Zoe rümpfte die Nase. »Mama wollte mich letztes Jahr dazu bringen, kochen zu lernen. Sie meint, mein Platz wäre bei solchen Aufgaben. Aber als ich gesehen habe, wie Mama den Hammeleintopf zubereitet hat, bin ich schreiend aus dem Zelt geflüchtet.«

Arabelle unterdrückte ein Lachen. Ihr hatten Blut und Fleisch nie etwas ausgemacht, aber sie wusste, dass manche Mädchen bei derlei Dingen zimperlich waren. »Was machen du dann, wenn du nicht kochst?«

Zoe wischte sich Gras von der Hose und vom Hemd. »Jetzt, da ich neun bin, lässt mich Papa mitkommen, um die Schafe und Ziegen zu hüten. Aber bei dem Nebel geht das nicht. Deshalb hat er gesagt, Alexandra und ich können spielen.«

Arabelle wurde klar, dass sie dieses Mädchen und den Nebel vielleicht zu ihrem Vorteil nutzen könnte. »Zoe, ich vergesse, dass du mich umgerannt hast, wenn du eine Kleinigkeit für mich tust.«

Zoe kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Macht Ihr etwas Heimliches?« Arabelles Wangen loderten. »Ich bin heute abseits der Karawane gewandert ...«

Zoe schnappte nach Luft und sah sich um. »Wo sind Eure Leibwächter? Ihr sollt doch nie ohne sie sein, oder?«

Die Prinzessin legte einen Finger an die Lippen. Das Mädchen konnte ruhig ein bisschen unauffälliger sein. »Ich habe mich von ihnen weggeschlichen. Weil ich es nicht leiden kann, wenn sie mir auf Schritt und Tritt folgen. Aber ich dachte mir, wenn jemand fragt, ob du mich gesehen hast, könntest du sagen, ich wäre dir am Vormittag immer wieder mal in verschiedenen Bereichen der Karawane aufgefallen. Vater wird so leicht besorgt um mich. Er würde sich besser fühlen, wenn er wüsste, dass ich in der Nähe geblieben bin. Ich stecke ohnehin schon in Schwierigkeiten, weil ich mich von meinen Leibwächtern weggeschlichen habe, aber ich will nicht, dass er sich zu sehr sorgt.«

Zoe kaute auf der Unterlippe, bis sie schließlich nickte. »Ich verrate Euch nicht. Und falls mich jemand fragt, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich Euch kurz nach dem Frühstück gesehen habe, wie Ihr Äpfel angeschaut habt, und ein anderes Mal, wie Ihr Seidenkopftücher bewundert habt.« Sie zwinkerte. »Ich kann hinterlistig sein, wenn ich muss.«

»Danke.« Arabelle umarmte das Mädchen.

Eine dröhnende Stimme ertönte hinter ihr. »Da seid Ihr ja, Prinzessin! Wo seid Ihr gewesen? Ich habe den ganzen Morgen nach Euch gesucht. Der Scheich wünscht, mit euch zu sprechen.«

Es war Tabor, einer von Arabelles Leibwächtern, der wie immer finster dreinschaute. Bevor Arabelle antworten konnte, ergriff Zoe das Wort. »Es tut mir leid, Herr.«

Ihr Gesicht wurde knallrot, und Tränen kullerten ihr über die Wangen. »Mein Hündchen ist gestorben. Einer der Wagen hat es im Nebel überfahren. Die Prinzessin hat mir geholfen, es zu begraben.« Sie hielt kurz inne, um ein herzzerreißendes Schluchzen einzustreuen, bevor sie hinzufügte: »Sei nicht böse auf sie. Es ist alles meine Schuld.«

Tabors Gesichtsausdruck wurde milder. »Nun ja ... ich ...«

Arabelle erstaunte – und beeindruckte – die Fähigkeit des Mädchens, so schnell zwischen verschiedenen Gefühlen umzuschalten. Sie umarmte Zoe erneut. »Es tut mir so leid um dein liebes Hündchen. Bestimmt fühlst du dich bald wieder besser.«

Mit dem Rücken nach wie vor zu Tabor zog sie sich ein wenig zurück und bildete mit den Lippen das Wort Danke .

Zoe lächelte kaum merklich, bevor sie sich umdrehte und im Nebel verschwand.

* * *

»Mein Herzblatt, ich habe mich um deine Sicherheit gesorgt. Du weißt, dass du nicht ohne Begleitung unterwegs sein sollst.«

Arabelle und ihr Vater saßen im Schneidersitz im Zelt ihres Vaters und warteten auf ihr Mittagsmahl. Reumütig ließ Arabelle den Kopf sinken.

»Wir haben fast tausend Zelte in unserer Karawane«, fuhr ihr Vater fort, »und nicht alle davon gehören zu unserem Volk. Es gibt Leute ohne Respekt davor, wer du bist, Liebes.«

»Ja, Vater.«

Diesen Vortrag hatte Arabelle schon viele Male gehört. Ihr Vater würde wiederholen, dass ihre Familie eine große Verantwortung trug und sie das Juwel ihres Volkes wäre.

Wenn er nur die Wahrheit wüsste: dass sie nunmehr dazu verdammt war, an einem Gift zu sterben, für das niemand ein Gegenmittel besaß.

Die Dienstmägde brachten mehrere große Teller mit Essen für sie beide. Einer enthielt Arabelles Lieblingsspieße, das Fleisch außen schön knusprig, innen saftig-rosa. Ein anderer wartete mit verschiedenstem Gemüse auf einem Bett aus perlförmigen Weizennudeln auf, ein dritter mit frisch gebackenem Fladenbrot. Daneben stand eine Schale mit duftendem, gewürztem Olivenöl.

Es war eine wundersame Fülle, und Arabelle verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen.

Nicht jeder isst auch nur annähernd so gut wie ich.

Nachdem die Dienstmägde gegangen waren, setzte ihr Vater seinen Vortrag fort.

»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlieren, meine kostbare Blume. Du bist alles, was ich habe, seit deine Mutter bei deiner Geburt gestorben ist.«

»Ja, Vater.«

Er seufzte und nahm einen Bissen von dem Fladenbrot. »Hast du gewusst, dass deine Mutter den eigenen Tod vorhergesehen hat?«

Überrascht schaute Arabelle auf.

»Wie ich sehe, hast du es wohl nicht gewusst. Hat Roselle dir nicht von unserem Volk erzählt?«

»Sie hat mir erzählt, dass die Imazighen schon immer als freies Volk durch die Lande gezogen sind, getrennt von anderen, und ...«

Er winkte ab. »Ja, ja. Ich will auf die Seher hinaus. Von Zeit zu Zeit wird ein oder eine Imazighen mit der Fähigkeit geboren, Visionen der Zukunft zu sehen. Deine Mutter wurde von Kindesbeinen an von solchen Visionen geplagt. Manche gut. Manche schlecht. Und kurz vor ihrem Tod hat sie viel vorhergesehen.«

»Auch irgendetwas über mich?«, fragte Arabelle.

Ihr Vater sah sie zwar freundlich an, doch sie merkte, dass ihm Tränen zu kommen drohten. »Ja, mein Herzblatt. In dir hat sie große Verwirrung gesehen. Eine mögliche Gefahr für dein Leben. Ich musste ihr schwören, für deine Sicherheit zu sorgen. Außerdem hat sie mir gesagt, dass du der Schlüssel zur wahren Freiheit für die Imazighen sein könntest. Du siehst also, deine Sicherheit ist wichtiger, als dir bewusst ist.«

Arabelle erfuhr gern etwas über ihre Mutter, aber diese Visionen fand sie beängstigend. Verwirrung? Gefahr? Konnte ihre Mutter vorhergesehen haben, was sich an diesem Tag ereignet hatte? Das Gift?

»Was hat sie damit gemeint, Schlüssel zur Freiheit?«, fragte sie.

Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Ihre Visionen waren nicht immer so klar, wie es mir – oder ihr – lieb gewesen wäre. Aber ...« Er rutschte näher zu Arabelle und flüsterte ihr ins Ohr. »In denselben Visionen, kurz vor ihrem Tod, hat sie eine Gefahr für Azazel gesehen. Welcher Art, das ging daraus nicht klar hervor. Es ging um Dämonen, Elfen und die Barriere. Möglicherweise. Wie gesagt, manche Visionen waren weniger aufschlussreich als andere.«

»Weiß Azazel von dieser Gefahr?«, flüsterte Arabelle zurück.

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nicht von deiner Mutter, so viel steht fest. Sie hat diesen bösen Zauberer dafür verabscheut, dass er unser Volk unterjocht und gezwungen hat, für ihn zu arbeiten. Unser Volk wäre vielleicht völlig vernichtet worden, wenn mein Großvater nicht zugestimmt hätte, seinen Abschaum durch Trimoria zu eskortieren.«

Bei der Erwähnung der Schande ihres Volks runzelte Arabelle die Stirn.

Mögen die Sklavenhändler Azazel und all seine Lakaien in die kältesten Gruben der Niederwelt bringen.

»Hat sie noch etwas über mich vorhergesehen?«, fragte sie.

»Nur, was ich gesagt habe. Ich fürchte, du wirst kein leichtes Leben haben, mein Herzblatt. Aber du wirst unser Volk zur Erlösung führen.« Mit Tränen in den Augen lächelte er sie an. Und als sich die Tränen lösten und über seine Wangen kullerten, fühlte sich Arabelles Kehle vor Rührung wie zugeschnürt an. Insgeheim lagen die Gefühle ihres Vaters immer dicht unter der Oberfläche, was er ausschließlich ihr anvertraute. Etwas wie diese innige Bindung zwischen ihnen, die sie von innen heraus wärmte, würde sie wahrscheinlich nie wieder erfahren. Ihr Vater war der einzige Mann, dem sie vertrauen konnte.

Er atmete tief ein und blies langsam die Luft aus. »Weißt du, mein Herzblatt, sie hat dich wirklich geliebt. Sie hat gewusst, dass sie bei der Geburt sterben würde. Trotzdem hat sie nur Freude bei dem Gedanken empfunden, dich auf die Welt zu bringen. Ich wünschte nur, sie könnte hier sein und sehen, was für eine wunderbare junge Frau aus dir wird.«

Arabelle lächelte trotz der eigenen aufquellenden Tränen. »Ich wünschte auch, sie könnte hier sein.«

* * *

Nach dem Essen saß Arabelle mit Roselle hinter ihrer Schulter an dem geschnitzten Schreibtisch aus Holz in ihrem Zelt. Ihre Lehrerin wollte sie dazu bringen, an Mathematik zu arbeiten, doch Arabelle hatte andere Vorstellungen. Sie wollte mehr über der Visionen ihrer Mutter erfahren.

»Roselle, wie viel weißt du über Azazel, die Dämonenkriege und die Barriere?«

Ein Ausdruck der Bestürzung trat in Roselles faltige Züge. »Prinzessin! Für eine junge Frau ist es vollkommen unangemessen, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen.«

Ein Anflug von Zorn durchzuckte Arabelle und brachte die Male von der Verätzung durch das Drachengift zum Brennen. »Wenn du mir nichts über die Dinge beibringen kannst, die ich für wichtig halte, muss ich mir vielleicht eine andere Lehrerin suchen!«

Kaum war es ihr herausgerutscht, bereute sie es. Woher kam diese plötzliche Wut?

»Es tut mir leid, Roselle, ich wollte nicht ...«

Aber es war zu spät – Roselle wandte sich bereits empört schnaubend ab und stürmte mit der Ankündigung aus dem Zelt: »Davon wird der Scheich mit Sicherheit erfahren, Prinzessin.«

* * *

Es war zwei Stunden nach Mittag, und Arabelle ging durch die Karawane. Tabor folgte ihr wie ein schweigsamer, muskelbepackter Schatten. Erfreut stellte sie fest, dass sich der Nebel lichtete. Die Leute bauten endlich ihre Stände auf und bereiteten sich auf Handel vor.

Allerdings wanderte sie nicht ziellos umher, sondern suchte nach Maggie, ihrer Zofe. Leider erledigte Maggie tagsüber Besorgungen. Das bedeutete, sie konnte so gut wie überall sein.

Vor ihr herrschte irgendein Tumult, den das Klirren von Metall auf Metall begleitete. Neugierig steuerte sie auf die Geräusche zu. Auf einer offenen Fläche zwischen mehreren Wagen und Zelten stieß sie auf mehrere Gardisten ihres Vaters beim Üben.

Tabor legte ihr die Hand auf die Schulter. »Prinzessin, vielleicht solltet Ihr Euch das nicht ansehen. Es könnte blutig werden.«

Sie schwenkte wegwerfend die Hand. »Ich bin kein kleines Mädchen, Tabor. Ein bisschen Blut verkrafte ich.«

Interessiert beobachtete sie das Geschehen. Allerdings schien es sich um keine gewöhnliche Übungseinheit zu handeln – es sah eher nach einem echten Kampf aus. Einer der Gardisten trat gegen einen sehr kleinen Mann mit einem Streitkolben und einem Schild an. Nein, nicht gegen einen kleinwüchsigen Mann – gegen einen Zwerg.

Sie stupste Tabor. »Was ist hier los?«

»Um als Gardist in die Diensten Eures Vaters eintreten zu können, muss man sich zuerst als tüchtiger Kämpfer beweisen. Offensichtlich hat dieser Zwerg entschieden, sich um eine der offenen Stellen zu bewerben.«

»Musstest du dich auch so bewähren?«

»Ja, Prinzessin. Obwohl das schon sehr lange zurückliegt.«

»Und wen hast du verärgert, dass du zu der Aufgabe verdonnert worden bist, auf mich aufzupassen?«

Obwohl sie in verspieltem Ton sprach, runzelte Tabor ernst die Stirn. »Ich habe niemanden verärgert. Ich hatte die große Ehre, der Beschützer Eurer Mutter gewesen zu sein. Und vor Eurer Geburt habe ich ihr geschworen, dass ich Euch vor jedem körperlichen Schaden bewahren würde. Diesen Eid ehre ich jeden Tag.«

Als Tabor so ehrfürchtig über ihre Mutter sprach, spürte Arabelle, wie ihr Tränen in die Augen traten. Plötzlich betrachtete sie den Mann durch seine Hingabe und sein Pflichtgefühl mit neuer Wertschätzung.

»Es tut mir leid, Tabor. Ich weiß, ich bin furchtbar, weil ich mich ständig davonschleiche und vor dir verstecke.«

»Das ist nur zu erwarten, Prinzessin. Eure Aufgabe besteht darin, die zu sein, die Ihr seid. Meine Aufgabe ist, zu verhindern, dass Euch Unheil widerfährt.«

Durch die offensichtliche Hingabe des Mannes fühlte sie sich umso schuldiger dafür, ihm ein tödliches Geheimnis zu verschweigen. Ein Geheimnis, das sie zwang, sich in dieser Nacht erneut davonzuschleichen. Sie musste sich mit Castien treffen. Schlafen durfte sie nicht, bevor sie nicht gelernt hatte, was immer er ihr beibringen konnte.

In dem Moment zielte der Zwerg mit wildem Schwung auf das ungeschützte Knie seines Gegners. Der Mann wäre vermutlich sein Leben lang gehumpelt, wenn der Schlag ihn getroffen hätte. Aber der Zwerg bremste den Streitkolben im letzten Augenblick und versetzte dem Soldaten stattdessen mit dem Schild einen so kraftvollen Stoß, dass er buchstäblich aus dem Ring flog.

Die Umstehenden jubelten.

Der Gardist, der als Schiedsrichter fungierte, schwenkte eine weiße Flagge. »Der Gewinner ist Oda, der Zwerg.« Er drehte sich Oda zu. »Gehörst du einem Clan an?«

Oda steckte den Streitkolben an seinen Gürtel und lächelte. »Natürlich. Ich bin ein Steinfaust.« Er ging hinüber zu seinem Gegner und half ihm auf. »Du musst lernen, deinen Schild richtig einzusetzen«, meinte er zu dem Gardisten. »Hätte ich den Streitkolben nicht zurückgehalten, wäre dein Knie bis zum Tag deines Tods nutzlos gewesen. Das wollte ich nicht auf dem Gewissen haben.«

Tabor rief dem Mann mit der weißen Flagge zu. »Khalid, stell den Mann ein. Er mag von kleinem Wuchs sein, aber er ist in jeder Hinsicht groß, auf die es ankommt – Ehre und Können.«

Khalids Augen wurden groß, als er Tabors Blick begegnete. Dann nickte er. »Ja, Herr. Dein Wille geschehe.«

»Warum verehrt der Soldat dich so?«, fragte Arabelle.

Tabor tat die Frage ab, indem er mit der Zunge schnalzte. »Ich bin der leitende Gardist in den Diensten Eures Vaters. Wem sonst würde er anvertrauen, zuerst über seine Gemahlin und dann über seine Tochter zu wachen?«

»Wie kommt es, dass ich davon nie erfahren habe?«

»Nur die Schwachen und Dummen haben es nötig, darüber zu reden, wer sie sind. Ich glaube daran, dass die Taten eines Mannes lauter und wahrhaftiger sprechen als seine Stimme.«

Zwei neue Wettstreiter betraten den Ring, und ein Raunen ging durch die Umstehenden. Einen der beiden erkannte Arabelle, einen hünenhaften Soldaten mit gewaltigen Muskelbergen. Alle nannten ihn Oger. Arabelle wusste nicht mal, wie er wirklich hieß. Doch ausnahmsweise zog nicht dieser Riese die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich. Stattdessen hefteten sich alle Blicke auf seinen Gegner, einen großen, gutaussehenden jungen Fremden, der gekonnt einen Stab aus Eibenholz in einem Wirbel geübter, kreisförmiger Bewegungen schwang. Seine schulterlangen, honigblonden Locken, die strahlend blauen Augen und die markanten Gesichtszüge entlockten den Frauen unter den Zuschauern so manch schmachtendes Seufzen.

»Wer ist dieser Bewerber?«, fragte Arabelle ihren Leibwächter. »Prinzessin, dieser junge Mann gehört zu den Unzugehörigen.«

»Den Unzugehörigen?«

Tabor schüttelte den Kopf. »Davon hat Euch Roselle bestimmt erzählt. Ihr müsst beim Unterricht aufmerksamer sein.«

Arabelle verdrehte die Augen. »Dann betrachten wir das jetzt eben als Unterricht. Ich bin ganz Ohr.«

»Ein Unzugehöriger ist ein Wanderer ohne verwandtschaftliche Bindungen – weder in der Karawane noch in den Ortschaften Trimorias oder, wie der Zwerg, zu einem Clan. Die meisten Unzugehörigen eignen sich nicht für zivilisierte Gesellschaften und leben versteckt – oder werden Opfer der Sklavenhändler.«

»Warum bewirbt sich so jemand um eine Stelle in der Garde meines Vaters?«

»Ich vermute, er will versuchen, sein Los im Leben zu verbessern, Prinzessin. Aber wenn das sein Ziel ist, wird er es schwer haben. Unzugehörige haben sich ihren schlechten Ruf redlich verdient. Es ist nicht einfach, solche Vorurteile zu überwinden.«

Als der junge Mann den Mantel abnahm, starrte Arabelle hin. Neben den perfekten Gesichtszügen besaß er einen schlanken, muskulösen Körperbau.

Ein Mädchen mit pechschwarzem Haar am Rand des Rings winkte mit einer Rose in Richtung des Unzugehörigen. Arabelle erkannte sie – es handelte sich um Alexandra, die älteste Tochter von Frau Mizmer. Die Schwester des Mädchens, mit dem sie an diesem Morgen zusammengestoßen war. Arabelle beschloss, hinüberzugehen und sie zu begrüßen.

»Oh, Prinzessin, wie schön, Euch zu sehen«, sagte Alexandra, als sie sich näherte. »Bist du auch hier, um Hassan zu sehen?«

»Hassan?«

Alexandra lief rot an. »Ist er nicht einfach hinreißend? Er ist erst letzte Woche angekommen, und schon hat jede junge Frau, die ich kenne, ein Auge auf ihn geworfen.«

Arabelle musste ihr recht geben, dass der Mann unbestreitbar gut aussah. Als er sich weiter aufwärmte, flatterte sein blondes Haar im Wind. Arabelle ertappte sich dabei, mit den Fingern unbewusst durch das eigene, dunkle Haar zu streichen, als wollte sie es mit seinem vergleichen.

Wie kindlich und unreif, auf die Haare eines Jungen eifersüchtig zu sein.

»Er ist erst 17 Jahre alt, deshalb verbietet mir Papa nicht, mit ihm zu reden«, schwärmte Alexandra. »Aber meine Mama sagt: ›Ich lasse auf keinen Fall zu, dass du dein Leben ruinierst, indem du einem Unzugehörigen hinterherläufst. Schon gar keinem Entstellten.«

»Entstellt?«, hakte Arabelle nach. »Soll das ein Scherz sein? Er sieht perfekt aus.« Kaum hatte sie das ausgesprochen, spürte sie, wie ihr Hitze ins Gesicht schoss und ihre ungerührte Miene Lügen strafte.

»Er ist perfekt«, pflichtete Alexandra ihr bei. »Aber schaut – er hat sechs Finger an jeder Hand. Nicht, dass es mich stört. Würdet Ihr Euch weigern, mit jemandem zu reden, nur weil er ein paar Finger mehr hat?«

Arabelle betrachtete die Hände des blonden Kriegers aus der Ferne eingehend. Er besaß tatsächlich sechs Finger an jeder Hand. In gewisser Weise empfand sie es als Erleichterung, dass dieses perfekte Musterbeispiel eines Mannes wenigstens eine Unvollkommenheit hatte.

Schließlich traten Hassan und Oger gegeneinander an – Hassan wirbelte seinen Stab, Oger schwang ein stumpfes Breitschwert. Obwohl Hassan gut und gern sechs Fuß groß war, überragte ihn Oger deutlich.

Eine Weile umkreisten sich die beiden Männer gegenseitig, beobachteten aufmerksam die Bewegungen des Gegners. Dann griffen sie wie auf dasselbe Stichwort gleichzeitig an. Ihre Waffen prallten aufeinander. Hassan wurde zurückgeschleudert und stolperte beinah aus dem Ring. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zurückzuerlangen.

»Wenn dieser Unzugehörige versucht, Stärke allein mit Stärke zu begegnen«, murmelte Tabor neben Arabelle, »wird das ein sehr kurzer Kampf.«

Hassan tänzelte näher zu dem riesigen Soldaten und holte erneut mit dem Stab aus. Alexandra quiekte erschrocken. Der Empfänger ihrer Zuneigung schien die Verteidigung damit zu weit geöffnet zu haben. Oger sah eindeutig dieselbe Gelegenheit und hieb wild auf Hassans ungeschützte Flanke ein. Aber irgendwie nutzte Hassan den eigenen Schwung und seinen Stab so, dass er an dem Hünen vorbeisprang. Dessen Schwert prallte harmlos dort auf die Erde, wo sich Hassan eben noch befunden hatte.

Hassan ließ seinem Gegner keine Zeit, sich zu fangen, hieb mit dem Stab in Ogers Kniekehlen und ließ ihn hart auf dem Rücken landen. Hassan wirbelte herum und schwang das Ende des Stabs bis wenige Zoll vor Ogers Gesicht. Die Augen des großen Mannes schielten, als er darauf starrte.

Khalid schwenkte die weiße Flagge und beendete den Kampf. Alexandra quietschte so begeistert wie alle Frauen, die sich zum Zuschauen eingefunden hatten. »Oh Prinzessin, er hat gewonnen, er hat gewonnen!«

Als der Schiedsrichter einen braunen Waffenrock mit dem Zeichen der Karawane zu Hassan warf, wurde Alexandra noch aufgeregter. »Sie lassen ihn wirklich mit den Soldaten der Karawane arbeiten! Er bleibt bei uns!« Sie blickte an sich selbst hinab, dann schaute sie zur Prinzessin auf. »Ich muss mich umziehen. In dieser schlichten Kutte darf er mich nicht sehen!« Nach einem schnellen Knicks huschte sie davon.

Tabor schüttelte den Kopf. »Bitte Prinzessin, versprecht mir, dass Ihr euch nie so vom Aussehen eines Mannes hinreißen lasst.«

Arabelle lachte. »Keine Sorge. Vater hat unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er sich für mich darum kümmert, wenn die Zeit reif ist. Ich vertraue ihm.«

Tabor brummte anerkennend. »Kluges Mädchen. Euer Vater ist ein weiser Mann. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn alle Kinder so auf ihre Eltern hörten wie Ihr auf Eure.«

* * *

Da sie Maggie nicht in der Karawane finden konnte, folgerte Arabelle, sie müsste zum Marktplatz von Aubgherle gegangen sein. Eigentlich unnötig – alles, was man brauchte, gab es in der Karawane. Aber Maggie wurde immer ganz aufgeregt, wenn sie sich Aubgherle näherten. Sie hatte Arabelle schon Dutzende Male erzählt, dass es in der Ortschaft die besten Seidenweber von ganz Trimoria gab.

Während Tabor und seine Männer Arabelle auf Schritt und Tritt folgten, suchte sie nach den Seidenhändlern – vergeblich. Als sie allmählich frustriert wurde, beschloss sie, die Hilfe ihrer Aufpasser in Anspruch zu nehmen.

»Tabor, weißt du, wo die Seidenhändler sind?«

Er gab die Frage an seine Soldaten weiter. Einer davon nickte und ging voraus. Er führte sie durch ein Gedränge von Menschen, die um Waren feilschten. Der Mann schien sich in dem Bereich gut auszukennen. Arabelle hätte die Gardisten gleich am Anfang fragen sollen. Aber sie hatte ja nicht geahnt, dass einer von ihnen etwas von Seide verstehen würde.

Plötzlich legte Tabor ihr die Hand auf die Schulter und zog sie mit entschlossenem Griff hinter sich. Arabelle war klug genug, nicht dagegen aufzubegehren, aber sie spähte über seine Schulter, um zu sehen, was los war. Ein kurzes Stück vor ihnen zog einer von Azazels schwarz gekleideten Vollstreckern einen Mann von einem Stand weg. Der Mann tobte. »Das kannst du nicht machen! Ich habe nichts Unrechtes getan!«

Die Menschen auf dem Marktplatz wichen schnell zurück, um Platz für die Soldaten in Schwarz zu machen. Wer sich zu langsam bewegte, wurde geschlagen oder getreten und lief Gefahr, zusammen mit dem protestierenden Mann weggeschleift zu werden.

»Tabor, warum ...«

Mit einem strengen Blick brachte er Arabelle zum Schweigen.

Bald verschwanden die Soldaten außer Sichtweite, und statt dem Geschrei des Mannes kehrten die üblichen Marktgeräusche zurück. Arabelles Gruppe setzte sich wieder in Bewegung, wenngleich Tabor eine schützende Hand auf ihrer Schulter beließ.

Unterwegs lauschte Arabelle den Gesprächen der Leute.

»Ich wünschte, der Protektor könnte etwas gegen Azazels Männer unternehmen«, sagte eine Frau in einem hellen Kleid.

Ein bärtiger Händler antwortete: »So was sollte man besser nicht hoffen. Du willst doch nicht, dass Aubgherle dasselbe Schicksal wie Ilonia erleidet, oder?«

Arabelle schaute zu ihrem Leibwächter auf. »Tabor, darf ich dich etwas fragen?«

»Natürlich, Prinzessin.«

»Was ist mit Ilonia passiert?«

Tabor seufzte. »Prinzessin, Euer Gehör ist schärfer, als gut für Euch ist.«

»Sag es mir. Bitte.«

»Ich werde Euch antworten, aber danach will ich kein weiteres Wort darüber hören, solange wir in dieser Ortschaft sind. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

Tabor beugte sich nah zu ihr und sprach im Flüsterton. »Ilonia wurde zu Zeiten meines Großvaters durch ein Feuer völlig zerstört – und man schreibt den Brand dem Zorn Azazels zu. Es heißt, Azazel sei mehrere Jahrhunderte alt und es gäbe nichts, was jemand gegen die Macht des Zauberers ausrichten könnte. Die Asche von Ilonia gilt als Beweis, dass es kein gutes Ende nimmt, wenn sich jemand gegen ihn stellt, und sei es ein Protektor. So, und jetzt genug davon. Das ist gefährliches Gerede. Wenn Ihr mehr wissen wollt, wendet Euch bitte an Euren Vater.«

»Danke, dass du mir die Wahrheit gesagt hast, Tabor. Zu viele Leute versuchen, sie vor mir zu verheimlichen.«

»Ich werde Euch nie anlügen, Prinzessin. Allerdings steht es mir bei manchen Wahrheiten nicht zu, sie preiszugeben.«

Der leitende Gardist blieb vor einem Stand mit etlichen Ballen farbenprächtiger Seide stehen. Arabelle sah Maggie zwar nirgendwo, fand jedoch, es könnte sich lohnen, den Händler zu fragen, ob er sie gesehen hatte. Als sie erklärte, wer sie war, und beschrieb, wie Maggie aussah, erschien ein breites Lächeln im Bartgewirr des Mannes.

»Ja, Herrin, sie war hier, und sie ist eine sehr gute Kundin. Sie hat viel für Euch gekauft, das ich zur Karawane Eures Vaters liefern lasse.« Mit einem Blick zu den Soldaten ihrer Leibgarde fügte er hastig hinzu: »Aber die Lieferung ist erst vor wenigen Augenblicken aufgebrochen. Wir könnten sie noch abfangen, wenn Ihr zuerst einen Blick darauf werfen möchtet, Herrin.«

Arabelle winkte den Vorschlag ab. »Ich bin sicher, sie ist wunderbar. Ich will nur Maggie finden. Hast du gesehen, wohin sie gegangen ist?«

Der Händler wirkte erleichtert. »Tatsächlich habe ich beobachtet, wie sie einem Mann gefolgt ist, der vorbeikam, als wir den Handel gerade besiegelt hatten.«

»Wie hat der Mann ausgesehen?«

»Er trug das Zeichen der Karawane. Helles Haar, langer Stab. Gutaussehend, würde ich meinen. Er war in Richtung des Waffenschmieds unterwegs.«

Arabelle stöhnte. Also war auch Maggie nicht gefeit gegen Hassans Reize.

Sie dankte dem Händler und wandte sich an Tabor. »Weißt du, wo der Waffenschmied ist?«

»Ja, Prinzessin. Aber meint Ihr nicht, Eure Zofe könnte inzwischen zur Karawane zurückgekehrt sein?«

Er nickte in Richtung der Sonne, die auf den Horizont zusank.

»Wahrscheinlich hast du recht. Aber sehen wir trotzdem noch beim Waffenschmied nach, bevor wir umkehren. Ich darf sie nicht verpassen; ich muss vor Einbruch der Nacht mit Maggie reden.«

Mein Leben hängt davon ab.