Meuchlerausbildung

Kirag stand in einer versteckten Nische hoch über dem Thron seines Herrn. Er hielt Wache, bewaffnet mit einer Armbrust aus Drachenknochen, geladen mit einem vergifteten Pfeil aus Damantit. Zu seinen üblichen Aufgaben gehörte es, körperliche Angriffe auf Azazel zu verhindern und seine Armee von Vollstreckern anzuführen. An diesem Tag hatte er schlichtere Anweisungen. Während Azazel unterwegs war und Getreidelieferungen überprüfte, durfte Kirag niemanden in den Thronsaal lassen, abgesehen von den dort postierten Wachen. Tatsächlich sollte er jeden, der auch nur versuchte, den Raum zu betreten, auf der Stelle töten.

Zu den Eigenschaften, denen Kirag seinen Aufstieg verdankte, gehörte seine Geduld. Er konnte weit über einen Tag lang regungslos ausharren und auf das Auftauchen seiner Beute warten. Auch ließ er sich nie von etwas erschrecken. Schreckhaftigkeit war ein Zeichen von Schwäche. Und seine Mutter hatte alle Schwäche aus ihm herausgeprügelt – in einem Alter, in dem er noch kaum sprechen konnte.

Die Tür zum Thronsaal flog auf, doch es handelte sich nicht um einen Eindringling. Es war Azazel selbst, der die Wachen lauthals aufforderte, sofort zu verschwinden. Sie wieselten zur Tür. Kirag nicht. Er wusste, dass von ihm erwartet wurde, auf seinem Posten zu bleiben.

Azazel schaute zu ihm auf. Seine Augen blitzten feurig, als er die Gegenwart des Soldaten mit einem Nicken zur Kenntnis nahm. Dann bestieg er seinen Thron und wartete.

Bald stieg Kirag der Geruch von brennendem Schwefel in die Nase, und Nebel bildete sich vor dem Thron. Im Nu verdichtete sich der Nebel zur Gestalt einer Frau.

Als Anführer von Azazels Vollstreckern war Kirag hinlänglich vertraut mit Magie – diese Magie jedoch bereitete ihm aus einem einzigen Grund Unbehagen: Sie schien nicht von seinem Herrn zu stammen. Kirag hatte so gut wie nie Magie bezeugt, die von jemand anderem als Azazel selbst ausging.

Na ja, abgesehen von meiner Mutter , dachte er.

Aber dieses Geheimnis behielt Kirag streng für sich. Er wollte noch nicht mal an die dunkle Magie denken, die seine Mutter vor so vielen Jahren an ihren Opfern gewirkt hatte.

Die Frau vor dem Thron ergriff das Wort. »Nimm dich in Acht, Azazel.«

Sie war zierlich, hatte langes blondes Haar, braune Haut und Ohren, die auf elfische Abstammung hindeuteten.

Azazel erhob sich. Auch das beunruhigte Kirag. »Was meinst du, Ellisandrea?«

»Ich sehe Gefahr vorher. Halte Ausschau nach Fremden in Trimoria. Sie bedrohen alles, was wir erreicht haben.«

»Fremde?«, wiederholte Azazel. »Aber in Trimoria gibt es keine Fremden. Dank dieses törichten Beschützers sind wir von einer undurchdringlichen Barriere umgeben.«

»Ich kann nicht sehen, woher sie kommen«, sagte die Frau. »Aber sie stammen nicht aus Trimoria, und sie gehören nicht hierher. Finde sie, oder sie werden alles gefährden, wonach wir streben.«

»Ich lass die Fremden von meinen Männern aufspüren und zu mir bringen«, verkündete Azazel.

Die Äußerung vergrößerte Kirags Unbehagen nur zusätzlich. Er kannte die Barriere gut. Die erste Begegnung damit hatte er, als er fünf Jahre alt gewesen war und mit seiner Mutter in den Bergen gelebt hatte. Damals hatte er einen Wolfswelpen liebgewonnen, der begonnen hatte, ihm zu folgen. Aber er wusste, dass er ihn vor seiner Mutter geheim halten musste. Sie würde den Welpen nur zerstampfen, foltern oder Schlimmeres.

Natürlich wurde Kirag von ihr erwischt. Und als sie ihn mit dem jungen Wolf spielen sah, schnappte sie beide und hob sie hoch, einen in jeder Hand. Sie trug sie weit in die Berge hinauf zu einem Ort, den Kirag nie erkundet hatte. Dort ragte eine seltsame graue Nebelwand auf.

Sie schüttelte Kirag am Kragen. »Barriere. Was hineingeht, kommt nie zurück. Nicht durchqueren.«

Sie warf den Welpen ein Stück von der Barriere weg. Wie immer wieselte der junge Wolf mit aus dem Maul baumelnder Zunge zurück zu Kirag und wollte spielen.

Mutter zeigte auf den Welpen. »Siehst du? Kommt zurück.«

Sie hob den Welpen erneut auf. Diesmal warf sie ihn in den grauen Nebel.

Kirag wartete auf die Rückkehr seines kleinen Wolfs. Vergeblich. Mutter nickte. »Keine Rückkehr. Wolf tot. Lektion gelernt. Bleib weg.«

Kirag hasste die Erinnerung daran. Und was seine Mutter getan hatte. Aber er hatte die Lektion gelernt, die ihm seine Mutter beigebracht hatte. Dauerhaft.

Nichts überlebte die Barriere.

Deshalb blickte er im Thronsaal ungläubig zu seinem Herrn hinab. Wie kann Azazel so bereitwillig glauben, dass Fremde durch diesen Nebel gekommen sind?

Azazel wandte sich wieder an die Elfenhexe. »Was soll ich mit ihnen machen, wenn sie gefunden sind?«

»Sie müssen getötet werden.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Ellisandrea.« Azazel trat auf die Erscheinung zu und streichelte ihre Wange. Als er wieder das Wort ergriff, sprach er im Flüsterton. Kirag musste die Ohren spitzen, um ihn zu hören. »Wann können wir uns wiedersehen, Liebste?«

Liebste?

Einen solchen Ton schlug Azazel nie an. Bei niemandem. Schwäche, Hingabe, Unterwerfung – alles Fremdwörter für Kirags Meister. Was bedeutete, dass diese Ellisandrea unvorstellbar mächtig sein musste, wenn sich sein Meister ihr gegenüber so verhielt.

»Bald. Tu, was du zu tun hast, dann wird alles wie versprochen.«

Damit verblasste die Frau, und der beißende Geruch verflüchtigte sich.

Azazel starrte einen Herzschlag lang ins Leere. Dann stapfte er zur Tür und riss sie auf. »Hergekommen!«, rief er die Treppe hinunter. »Ich habe Aufgaben für euch alle!«

Als sich gepanzerte Schritte näherten, schaute Azazel auf. »Kirag, ich weiß, dass du alles gehört hast. Ich will, dass du diese Mission leitest. Sie ist ab sofort deine einzige Aufgabe. Du wirst dein Augenmerk auf nichts anderes richten. Ellisandrea hat mächtige Vorahnungen. Ich kann dir versichern, was sie mir erzählt hat, ist unbestreitbar wahr. Es sind Fremde in Trimoria. Oder es werden welche kommen. Ihr Verständnis der Zeit unterscheidet sich von unserem – was sie sieht, könnte in diesem Augenblick passieren oder in einem Jahr. Das macht deine Mission anspruchsvoller. Aber du darfst nicht versagen.«

Kirag nickte. »Ja, Meister.«

Die anderen Soldaten betraten den Thronsaal und nahmen ihre vorgesehenen Positionen ein. Azazel wandte sich ihnen zu.

»Ich habe eine Mission für euch. Kirag führt euch dabei an ...«

* * *

Kirag lief auf dem Sammelplatz auf und ab, während die Soldaten aus Azazels Turm strömten und Formation einnahmen. Seine Aufgabe war einfach erklärt, aber schwierig zu erfüllen.

Er hatte keine Ahnung, wo und wann diese Fremden auftauchen würden, wie viele es sein würden oder wie sie aussahen.

Für jemanden ohne seine Erfahrung wäre es vielleicht ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Er aber hatte ein paar Ansätze. Zuerst musste er die Anzahl der Duos in seinem Aufgebot von Meuchlern erhöhen.

Als er den Blick über die Soldaten wandern ließ, verspürte er einen Anflug von Abscheu. So klein, so unkoordiniert. Menschen . Sein eigenes Erbe war wesentlich komplizierter. Sein Großvater war ein Zwerg mit magischen Kräften gewesen, seine Großmutter eine Ogerin. Seine Mutter warf ihrem Vater vor, dass er ihre Mutter verzaubert und sie gezeugt hatte. Darauf ging ihre tief verwurzelte Verachtung für alle Zwerge zurück.

Kirag kannte seinen Vater nicht, vermutete aber, dass er ein Mensch war, denn seine Mutter hatte oft darüber gezetert, wie schwach menschliche Männer doch waren und dass sie bei Kirags Empfängnis mehrere versehentlich getötet hatte.

Trotz seiner gemischten Abstammung – oder vielleicht gerade deswegen – überragte Kirag die versammelten Soldaten. Er maß fast acht Fuß und wog anderthalbmal so viel wie der Größte von ihnen. Bisher war es noch keinem Menschen gelungen, ihn in einem Kampf auch nur zu fordern.

»Ich bringe euch in eines meiner Ausbildungslager!«, brüllte er den Versammelten zu. »Ihr beginnt alle im Rang von Maden. Heute seid ihr es kaum wert, eine Jauchengrube zu bewachen. Aber mit Ausbildung, Geschick und Glück überlebt ihr und werdet Mitglieder der Schwarzen Todeskrallen von Fürst Azazel. Als Todeskralle verdient ihr euch das schwarze Leder von Azazels Vollstreckern – und die damit verbundenen Ehren.«

Kurz verstummte er, um seine Worte einwirken zu lassen.

»Wer nicht willens ist, sich der Ausbildung zu unterziehen, soll jetzt gehen.«

Die meisten Soldaten verharrten regungslos und starrten stoisch geradeaus. Nur zwei Soldaten verließen die Ränge. Kirag zog zwei Dolche aus der Weste und schleuderte sie ihren davongehenden Gestalten hinterher. Die Klingen zischten durch die Luft und schlugen in die Rücken der Männer ein.

Voll Befriedigung beobachtete Kirag, wie die beiden tot zusammenbrachen.

»Erste Lektion. Ihr steht in Azazels Diensten. Euch wird die Gelegenheit geboten, euch weiterzuentwickeln. Beleidigt ihn nicht, indem ihr nicht euer Bestes gebt.«

* * *

Die zweite Lektion folgte an jenem Abend. Sie waren unverzüglich von Azazels Turm aufgebrochen. Als die Sonne am Horizont versank, versammelte Kirag die Männer um sich.

»Uns steht noch ein halber Tagesmarsch bevor, bis wir das Ausbildungslager erreichen. Wie ihr wisst, reisen Sklavenhändler durch die Ebenen von Trimoria und überfallen Ahnungslose und Unvorbereitete. In Azazels Diensten zu stehen, bedeutet, dass ihr euch nie unvorbereitet überraschen lassen dürft.«

Die Männer sahen sich gegenseitig unsicher an.

»Schlagt ein Lager auf, aber keines für 20 Soldaten, nur ein einzelnes Feuer für drei. Wählt drei Mann von euch aus, die in dem Lager am Feuer bleiben. Die anderen schlagen kalte Lager in 100 Schritt Entfernung auf. Stimmt jetzt ab.«

Die Soldaten zankten über kalte Rationen und darum, wer am Lagerfeuer bleiben durfte. Sie schlichteten die Unstimmigkeiten, indem sie losten. Sobald sie festgelegt hatten, wer im kalten und wer im warmen Lager übernachten würde, versammelte Kirag sie wieder.

»Die Männer im warmen Lager müssen die Nacht hindurch wachsam bleiben. Sklavenhändler greifen in der Regel in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang an. Bestimmt könnt ihr euch vorstellen, dass ein Lagerfeuer mit drei Soldaten ein verlockendes Ziel sein wird.«

Plötzlich blickten die Soldaten, die den vermeintlichen Vorzug des warmen Lagers gewonnen hatten, bedauernd auf ihre gezogenen Lose hinab.

»Männer, wir haben zwei klare Vorteile. Erstens werden die Sklavenhändler nicht damit rechnen, dass über ein Dutzend Soldaten aus der Schwärze der Nacht anstürmt. Zweitens sind sie Sklavenhändler. Das bedeutet, sie werden versuchen, euch lebend zu fassen, statt euch zu töten.«

Kirag lächelte. »Für uns gilt keine solche Einschränkung. Ich erwarte von euch, dass ihr sie tötet. Richtet euch für die Nacht ein und seid gewappnet.«

* * *

Im Lager herrschte zwar Ruhe, doch man spürte die Spannung im Wind. Kirag beobachtete von dem Aussichtspunkt, den er sich ausgesucht hatte. Das Lagerfeuer würde meilenweit sichtbar sein. Er war zuversichtlich, dass es Sklavenhändler anlocken würde. Sie glichen Flöhen auf einem Zwinkerhund, schienen praktisch überall zu sein.

Diese Nacht sollte die erste Probe der Soldaten als Maden werden. Er hatte ihnen die Strategie gegeben. Ihre Aufgabe bestand darin, sie umzusetzen.

Kirag schärfte die Sinne, lauschte auf alles Ungewöhnliche. Einer der Männer in den kalten Lagern schnarchte. Nach wenigen Augenblicken jedoch verstummte das Geräusch abrupt. Vielleicht waren die anderen Männer der Gruppe doch keine völligen Narren.

Stunden vergingen, die Nacht zog sich hin, und immer noch stand Kirag wachsam da, witternd, lauschend.

Kurz vor Einbruch der Morgendämmerung hörte er das Knacken eines Zweigs. Seine überragende Nachtsicht – ein weiterer Vorteil seiner gemischten Herkunft – offenbarte sechs menschenförmige Umrisse, die vorbeischlichen, gefolgt von einer siebten Gestalt, die hoch über die anderen aufragte.

Na wunderbar, ein Oger. Für den Kampf gegen einen Oger sind diese Männer noch nicht bereit.

Während die Menschen außerhalb des Feuerscheins einen Kreis bildeten, hielt sich der Oger abseits der Gruppe. Langsam zog Kirag das Schwert aus der Scheide und schlich auf den Hünen zu.

Die sechs Sklavenhändler bewegten sich im Einklang und warfen Netze über die drei Männer im warmen Lager. Sofort hallten die Schlachtrufe der Soldaten aus dem kalten Lager durch die Dunkelheit, und sie fielen über die angreifenden Sklavenhändler her.

Bevor der Oger eingreifen konnte, hieb Kirag sein Großschwert über die Sehnen in der rechten Kniekehle des Ogers und durchtrennte sie. Das nutzlose Bein knickte unter dem Ungetüm ein, und Kirag rammte die Spitze der Klinge in den ungeschützten Hals des Ogers, warf sich mit vollem Gewicht dahinter. Blut schoss aus der Wunde.

Der Oger traf Kirag mit der Faust in die Brust, raubte ihm mit dem Treffer den Atem und ließ ihn rückwärts durch die Luft segeln. Doch Kirag ließ sich nicht beirren. Es war weder sein erster Kampf gegen einen Oger, noch der erste Treffer von einem, den er hinnehmen musste.

Er lachte, als der Oger versuchte, sich aufzurappeln. Das Ungetüm war zu dumm, um zu erkennen, dass es bereits besiegt war. Während es auf das nutzlose Bein starrte, das ihm nicht mehr gehorchte, pulsierte das Blut weiter aus der berechnet verursachten Wunde am Hals. Das war der Todesstoß gewesen.

Nach wenigen Augenblicken sackte der Oger zusammen und würde nie wieder aufstehen.

Im warmen Lager feierten die Soldaten. Alle sechs Sklavenhändler lagen tot oder sterbend da.

Die Männer haben sich gut geschlagen.

* * *

Als sich die schmuddelige Ansammlung von Maden dem Rand eines der Ausbildungslager näherte, bemerkte Kirag schwache Lichtzeichen mit gedämpften Lampen. Die Späher des Lagers hatten die Maden entdeckt. Und diese unerfahrenen Soldaten schienen keine Ahnung davon zu haben.

Kirag lächelte und ließ sich zurückfallen, während die Truppe den Pfad entlang fortsetzte. Den Männern stand eine wertvolle Lektion bevor.

Immer wachsam bleiben.

Als sie einen Gebirgspass hinter sich ließen, zeichneten sich eine halbe Meile entfernt Lagerfeuer ab. Und die trockenen Weiten zwischen den Maden und dem Lager ließen verräterische Anzeichen aufgewühlter Erde erkennen.

Kirag sah das, die Maden jedoch nicht.

Die Soldaten beschleunigten die Schritte in Erwartung einer baldigen warmen Mahlzeit. Erst, als sie die Falle erreichten, bemerkten ein paar der Männer das unnatürlich gewölbte Gelände und zögerten. Allerdings nur wenige – die Vorhut marschierte unbedarft weiter.

Einer der aufmerksameren Männer weiter hinten rief eine Warnung. Doch im selben Moment peitschte ein schallender Knall durch die Luft, und mehrere Männer schrien auf, als der Boden unter ihnen nachgab. Staubwolken stiegen aus dem Loch auf, dann senkte sich Stille wie ein Leichentuch herab.

Kirag trat mit dem Rest der Männer an den Rand der Grube. Angespitzte, vor frischem Blut rot schimmernde Holzpflöcke hatten die gefallenen Soldaten gepfählt.

»Wachsamkeit«, sagte Kirag. »Wenn ihr nicht stets nach allem Ungewöhnlichen Ausschau haltet ... wenn ihr je darauf vertraut, dass ihr in Sicherheit seid ... dann sterbt ihr.«

Eine Gruppe schwarz gewandeter Todeskrallen trabte auf sie zu. Der Mann an der Spitze trug zwei Dolche aus Obsidian in der Lederhose und eine Halskette mit dem Sanduhrsymbol Azazels.

Er blieb vor Kirag stehen und salutierte. »Fürst Kirag, willkommen im Ausbildungslager ...«

»Ich bin kein Fürst, du Narr, und vergiss das besser nicht. Es heißt Kirag oder Herr. Wenn du mich noch einmal als Fürst bezeichnest, teste ich deine Dolche an deiner Haut.«

Der Soldat erbleichte. »Ja, Herr!«

»Dein Name ist Glendale, richtig?«

»Ja, Herr!«

»Ich bringe dir neue Maden zum Ausbilden. Nach der heutigen Schulung habe ich eine besondere Mission für die Made, die sich bewährt. Du und ich unterhalten uns gleich morgen früh. Ich will hören, was du von den Maden hältst und Empfehlungen von dir erhalten.«

Glendale salutierte. »Ja, Herr! Ich prüfe sie auf Herz und Nieren!«

»Sie gehören ganz dir. Ich komme morgen früh zu unserem Gespräch zurück.«

Glendale wandte sich den Soldaten zu. »Versammeln! Ihr werdet mich mit ›Herr‹ anreden. Jemanden von Rang sprecht ihr nie mit seinem Namen an. Vergesst ihr es, handelt ihr euch zehn Peitschenhiebe ein.«

Während Glendale mit der Einleitung fortfuhr, sahen sich die Maden gegenseitig beunruhigt an.

Kirag nutzte die Gelegenheit, um den Weg für den nächsten Tag auszukundschaften. Als er sich entfernte, hörte er Glendales Stimme hinter sich. »Ihr werdet noch reichlich bluten, bis ihr entweder draufgeht oder euch das Recht erwerbt, das Leder der Todeskrallen zu tragen. Und jetzt Bewegung!«

* * *

Als sich Kirag dem Lager näherte, wich er vorsichtig den verschiedenen Fallen aus. Es war einige Stunden vor Sonnenaufgang am zweiten Tag im Lager. Ein Meuchler der Todeskrallen, der auf halbem Weg den Felsen hinauf hockte, nickte seinem Vorgesetzten zu. Der Mann hatte sogar Kirags verstohlene Annäherung bemerkt.

Gut.

Leise setzte er den Weg zu Glendales Zelt fort. Auch der Ausbildungsleiter ließ sich nicht überrumpeln. »Guten Morgen, Herr. Ich höre, dass du dich näherst.«

Kirag grinste. »Glendale, wärst du nicht wachsam gewesen, hätte ich dein Zelt betreten und dir vielleicht die Kehle aufgeschlitzt.«

Der Soldat hob die Zeltklappe an und winkte ihn hinein. »Das bezweifle ich nicht, Herr.«

Kirag lachte leise. »Das wird dann wohl warten müssen. Reden wir über die Maden.«

Glendale schlug Feuerstein auf Stahl und entfachte ein kleines Feuer. Kirag und er setzten sich mit überkreuzten Beinen einander gegenüber. »Was willst du wissen, Herr?« Glendale begann. »Sie sind undiszipliniert und nicht in Form. Aber die meisten lassen vielversprechende Ansätze erkennen und sollten die Ausbildung überleben.«

Kirag kratzte sich am frisch rasierten Kinn. »Die meisten , sagst du. Also sind wohl einige darunter, bei denen die Ausbildung nicht fruchten wird, richtig?«

Glendale nickte.

»Das macht nichts. Ich brauche heute ohnehin eine Made, um die es nicht schade ist. Einer der Unbelehrbaren wäre gut.«

Ein Lächeln breitete sich in Glendales Zügen aus. »Dafür ist Garog der Richtige. Er ist groß und stark, aber dumm. Ich glaube nicht, dass man ihm als Todeskralle je trauen könnte, und ich würde ihn auf keinen Fall in meinem Duo haben wollen.«

»Dann also Garog. Bring mich zu ihm.«

Glendale führte Kirag zwischen den Maden hindurch, die auf dem nackten Boden schliefen, so gut es ging. Auf Verstohlenheit wurde verzichtet. Die Männer am Boden robbten aus dem Weg und rieben sich den Schlaf aus den Augen.

Aber ihr Ziel erwies sich als schwerer zu wecken. Der Mann schnarchte tatsächlich weiter, sogar ziemlich laut. Er bekam nicht mit, dass seine Besucher geradewegs auf ihn zustapften.

Glendale trat gegen Garogs Füße. »Aufwachen, Made!«

Das weckte ihn. Schnell richtete sich der Soldat auf und schlug sich den Kopf an dem Wagen an, unter dem er geschlafen hatte. Verdutzt schaute er zu den beiden Männern auf, die über ihm standen.

»Herr?«

Glendale schnippte mit den Fingern vor dem Gesicht des Mannes. »Schau nicht so benommen drein, das ist peinlich. Kirag hat eine besondere Mission, und du bist dafür ausgewählt worden.«

Garog sah Kirag mit erschrockenem Blick an. »J-Ja, Herr.« Kirag musterte den Mann von oben bis unten. »Du bist angemessen gekleidet. Sonst brauchst du nichts für diese Mission. Komm mit.«

Damit wandte er sich ab und durchquerte das Lager, ohne nachzusehen, ob die Made ihm folgte. Es ließ sich ohnehin nicht überhören, wie linkisch Garog hinter ihm her stolperte.

Ja, der Mann eignete sich hervorragend.

Es ist an der Zeit, Mutter zu besuchen.

* * *

Tageslicht brach durch die Wolken, als sich Kirag über einen tückischen Pfad entlang einer Felswand bewegte. Garog folgte ihm schwer atmend. Kirag kannte diesen Weg gut. In seiner Jugend war er ihn tausende Male hoch und runter gelaufen. Es lag fernab der Zivilisation, doch genau so gefiel es seiner Mutter. Ihr Wunsch nach Einsamkeit ging wohl stark von ihrer Oger-Seite aus.

In Anbetracht ihres Hangs zu Gewalt war es wahrscheinlich für alle so am besten. Kirag hatte schon früh gelernt, sie außer bei den Mahlzeiten zu meiden. Sogar andere Oger mieden sie. Man hielt sie für verrückt, weil sie einen Großteil des Tags damit verbrachte, vor sich hin zu brummeln oder mit nicht vorhandenen Kreaturen zu sprechen. Seiner Mutter machte es nichts aus, gemieden zu werden. Selbst wenn ein Oger-Stamm bereit gewesen wäre, sie aufzunehmen, sie hätte sich geweigert.

Und nun musste sich Kirag noch einmal der Raserei seiner Mutter stellen. Ihm fiel keine andere Möglichkeit ein, die schier unmögliche Aufgabe anzugehen, die Azazel ihm gestellt hatte: unbekannte Fremde aufzuspüren, die jederzeit irgendwo in Trimoria auftauchen konnten. Mutter besaß die unheimliche Gabe, entfernte Ereignisse zu sehen, die noch nicht eingetreten waren.

Allerdings erreichte sie ihre Trancezustände selten, ohne sich zuvor in irgendeiner Weise mit brutaler Gewalt verausgabt zu haben. Dafür hatte Kirag die Made mitgebracht.

Er war sich nicht völlig sicher, ob Mutter sich ihrer Trancezustände überhaupt bewusst war. Sie schienen sich einfach ... nach besonders heftigen Gewaltausbrüchen einzustellen. Als Kirag es zum ersten Mal beobachtet hatte, war er selbst das Ziel des vorausgehenden Ausbruchs. Er hatte den Fehler begangen, Mutter zu fragen, ob er Brüder oder Schwestern haben könnte. Nachdem sie ihn beinah bewusstlos geprügelt hatte, verfiel sie in einen Dämmerzustand und nahm ihn nur halb wahr. So erfuhr er von dieser seltsamen Gabe, die sie besaß, obwohl er danach nie mit ihr darüber gesprochen hatte.

Während er nun die Felswand erklomm, sichtete er die Höhle seiner Kindheit. Er wusste, dass sich seine Mutter darin aufhielt – um diese Zeit am Morgen befand sie sich selten auf der Jagd, außerdem nahm er ihren Geruch wahr.

Er drehte sich um und beobachtete, wie sich Garog zum Gipfel der Felswand heraufschleppte. Der Anwärter im Rang einer Made war trotz seiner Größe und Stärke völlig erschöpft, was sich nicht übersehen ließ. Angewidert lächelte Kirag. Der Mann kam einer Verschwendung von Fleisch gleich.

Kirag hob einen Finger an die Lippen, um ihm Schweigen anzuzeigen, dann zeigte er auf die Höhle. »In dieser Höhle habe ich als Kind gelebt.«

Garog spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Höhle, dann sah er Kirag dümmlich an. »In der Höhle befindet sich eine Truhe mit einer besonderen Waffe«, fuhr Kirag fort.

»Sie ist im hintersten Teil der Höhle, und ich glaube nicht, dass ich mich dort noch hineinzwängen kann. Geh rein und zieh die Truhe heraus.«

Garog nickte mit einem schiefen, gierigen Grinsen.

Er suchte sich einen geeigneten Stock, band ein Tuch um sein Ende und zündete es mit Feuerstein und Stahl an. Mit hoch erhobener Fackel kam er zurück und betrat die Höhle.

Kirag wartete am Eingang. Nach wenigen Herzschlägen hörte er Garogs erschrockenen Aufschrei und das vertraute Gebrüll seiner Mutter. Dann folgten reißende Geräusche und die gurgelnden letzten Atemzüge von Garog.

Schließlich betrat auch Kirag die Höhle. Die Fackel war erloschen, nachdem sie dem klobigen Burschen aus der Hand gefallen war, doch Kirags Augen passten sich rasch an die Dunkelheit an. Seine Mutter kniete vor Garog – oder was von ihm übrig war. Teile von ihm lagen überall verstreut. Mutter verharrte regungslos. Nur ihre Lippen bewegten sich, und ihre Augen zuckten rastlos hin und her.

Es hatte geklappt.

»Mutter, Azazel hat mich beauftragt, Fremde zu finden, die nicht nach Trimoria gehören. Wo suche ich nach ihnen?«

Mutter schloss die Augen. Speichel bildete Schaum an ihren Lippen. Sie schwankte leicht.

Nach kurzer Zeit erschien ein Licht aus ihrem Inneren. Sie hörte auf, sich zu wiegen, und blinzelte heftig. »Ärger von den Imazighen.«

Wieder wiegte sie sich. Das Licht wurde heller. Ihr Körper versteifte sich. »Die Elfen«, stieß sie knurrend hervor. »Die Elfen machen Ärger.«

Das Wiegen setzte wieder ein. Das Licht begann zu funkeln. »Der Sumpf«, sagte sie. »Ärger aus dem Sumpf.«

Und damit wurde das Licht trüber, bis es erlosch. Schwärze erfüllte die Höhle, und Mutter brach zitternd zusammen, schlief zwischen den menschlichen Abfällen ein.

Kirag kroch aus der Höhle. Viel hatte er zwar nicht erfahren, aber wenigstens etwas.

Zumindest wusste er nun, wo er nach diesen Fremden suchen musste.