Arabelle trug ein wallendes Gewand und behielt die Kapuze auf, als sie zu Maggies Zelt begleitet wurde. Ihre Zofe nähte an der Seide, die sie zuvor für ihre Herrin gekauft hatte.
Maggie schaute auf und lächelte breit. »Oh, Prinzessin! Ich habe heute hervorragende Stoffe gefunden. Bis zum Ende der Woche sollte es mir gelingen, ein paar neue Kleider für Euch fertig zu haben.«
Arabelle bedachte ihre Freundin mit einem wissenden Lächeln. »Hast du Hassan gefunden?«
Maggie lief rot an. »Hassan? Was wisst Ihr über ihn?« Ihre Züge fielen in sich zusammen. »Oh – Ihr habt doch nicht etwa auch ein Auge auf ihn geworfen, oder? Meint Ihr, dass Euer Vater damit einverstanden wäre?«
Die Prinzessin lachte prustend. »Nein, Maggie, ich habe kein Auge auf Hassan geworfen. Aber falls du dich interessierst, könntest du Konkurrenz haben, glaube ich. Er scheint etlichen jungen Frauen zu gefallen.«
Maggie beugte sich näher. »Ich weiß, aber ich bin im Vorteil.«
»Ach ja?«
»Ich habe Hassan heute auf dem Markt belauscht, wie er mit einem Waffenschmied darüber gesprochen hat, dass er eine vernünftige Scheide für seinen Stab braucht. Ist anscheinend schwierig, eine zu finden, weil so wenige Leute regelmäßig einen Stab als Waffe benutzen. Also ...«
Maggie öffnete die Truhe am Fußende ihres Betts und holte gegerbte Lederstreifen heraus, die sie zu einem Gürtel mit einer daran befestigten, schlauchförmigen Scheide geflochten hatte. Stolz zeigte sie Arabelle, wie sich der Gürtel um die Taille anlegen ließ und wies darauf hin, dass die Scheide ein Innenfutter aus Seide besaß, um zu verhindern, dass der Stab darin stecken bleiben konnte.
»Die Leder- und Seidenreste habe ich von anderen Arbeiten aufbewahrt und mir damit mein Geschick beim Flechten zunutze gemacht. Also, was meint Ihr?« Hoffnungsvoll sah sie Arabelle an. »Wenn ich ihm etwas vorlege, das sonst niemand hat, bringt mir das bestimmt sein Wohlwollen ein, meinen Ihr nicht auch?«
Arabelle hatte sich zwar nie groß damit beschäftigt, wie man die Aufmerksamkeit junger Männer erlangte, aber sie fand keinen Fehler in Maggies Denkweise. Sie lächelte. »Ich denke schon.«
Maggies Züge hellten sich auf. »Dann zeige ich es ihm morgen!« Sie verstaute den Gürtel und die Scheide wieder in der Truhe. »Oh, aber Prinzessin, braucht Ihr etwas?«
»Ja, und es ist sehr wichtig.« Sie bedeutete Maggie, sich aufs Bett zu setzen, dann ließ sie sich im Schneidersitz vor ihr nieder und ergriff die Hände ihrer Vertrauten. »Maggie, du musst bei deinem Leben und deiner Ehre schwören, dass du niemandem davon erzählst, was ich dir gleich anvertraue.«
Maggie wirkte neugierig, aber sie nickte. »Ich schwöre es, Herrin Arabelle. Ich würde nie Euer Vertrauen missbrauchen.«
»Du darf nicht mal meinem Vater davon erzählen, Maggie. Dieses Geheimnis musst du mit ins Grab nehmen. Es stehen Leben auf dem Spiel. Verstehst du?«
Mittlerweile wirkte ihre treue Zofe besorgt, doch sie nickte erneut feierlich. »Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich alles, was Ihr mir heute Abend anvertraut, geheim halte und nie einer lebenden Seele gegenüber erwähnen werde.«
Arabelle atmete erleichtert seufzend durch – und schilderte dann Maggie die Ereignisse dieses Morgens. Die Begegnung mit dem giftigen Drachen. Die Rettung durch den Elfen. Als Arabelle die Bluse anhob, um ihr die Male an den Rippen und die verfärbte, fleckige Haut um sie herum zu zeigen, schnappte Maggie nach Luft. Und als Arabelle ihrer Zofe von dem Gift und davon erzählte, und was sie tun musste, um zu überleben, brach Maggie in Tränen aus.
Meine arme mitfühlende Freundin.
»Ich weiß, es ist hart, Maggie. Aber ich werde dagegen ankämpfen, und ich brauche dabei deine Hilfe. Einer der Elfen will mir beibringen, wie ich mit diesem Gift leben kann. Ich soll ihn heute um Mitternacht treffen. Aber weder mein Vater noch Tabor würden mir je erlauben, allein in den Wald zu gehen.«
»Herrin, ich will tun, was ich kann. Aber wie soll ich euch unbemerkt in den Wald bringen?«
»Ich kann die Elfen nicht unbemerkt besuchen. Du schon.«
»Das verstehe ich nicht.«
Arabelle grinste. »Wir tauschen die Plätze. Du gehst von hier in meinen Gewändern zu meinem Zelt und schläft dort heute Nacht. Ich bleibe hier in deinem Zelt und breche später in einem deiner Reisemäntel auf. Niemand wird auf mein Kommen und Gehen achten, weil man mich für dich halten wird.«
Maggie schüttelte den Kopf. »Aber Herrin, das ... das kann ich nicht. Was, wenn Tabor mir auf dem Weg zum Zelt eine Frage stellt? Ich kann ja nicht einfach so tun, als wäre ich stumm.«
»Doch, das kannst du tatsächlich.« Wieder lächelte Arabelle. »Ruf Tabor jetzt gleich herein. Sag ihm, ich hätte Halsschmerzen und bräuchte Tee mit Honig, um sie zu lindern.«
Maggie lächelte, als sie verstand, und rief nach dem Leibwächter der Prinzessin. Tabor steckte den Kopf mit mürrischer Miene ins Zelt herein und brummte, als Maggie nach Tee verlangte. Er wandte sich an jemanden draußen. »Ahmed, hol Tee mit Honig für die Prinzessin.«
Maggie lächelte. »Danke, Tabor. Ich denke, es wäre am besten, wenn Herrin Arabelle heute Abend nicht mehr spricht. Kannst du sie bitte zurück zu ihrem Zelt begleiten, nachdem sie ihren Tee getrunken hat?«
Tabor brummte erneut. Anscheinend war auch er an diesem Abend stumm.
Als der Tee gebracht wurde und sich Tabor aus dem Zelt zurückgezogen hatte, tauschten Arabelle und Maggie die Kleidung – und wechselten einen verschwörerischen Blick.
»Glückwunsch, Maggie«, flüsterte Arabelle. »Du bist jetzt eine stumme Prinzessin.«
Maggie lächelte.
* * *
Nachdem Maggie mit Tabor gegangen war, zählte Arabelle von tausend rückwärts, um genug Zeit für den Fall verstreichen zu lassen, dass etwas schiefginge. Als sie schließlich hinaustrat, war sie angespannt, stellte jedoch wie erhofft fest, dass niemand sie beachtete. Immerhin war sie nur eine Dienerin, keine Prinzessin, und konnte somit gehen, wohin sie wollte.
Bald hatte sie die Karawane hinter sich gelassen und durchquerte das an den Wald grenzende Feld. Arabelle wusste nicht, wo am Waldrand sie sich mit Castien treffen sollte, und sie konnte sich nicht genau erinnern, wo sie sich von dem Schwertmeister der Elfen getrennt hatte. Sie würde einfach langsam weitergehen und hoffen müssen, dass er sie finden würde.
Unterwegs folgte ihr Blick einem Kaninchen, das durch die Maisreihen des Felds hoppelte, vorbei an mehreren unter der Erde buddelnden Wühlmäusen. Sie ...
Moment. Wie konnte sie diese Tiere sehen? Wolken verdeckten den Mond, weshalb fast pechschwarze Finsternis herrschte. Dennoch konnten ihre Augen das Kaninchen klar und deutlich wie am helllichten Tag sehen. Und die Wühlmäuse ...
Die Wühlmäuse befanden sich unter der Erde .
Aufregung strömte durch ihre Adern, als sie sich an ihr Gespräch mit dem geheimnisvollen Seder erinnerte.
Wenn du aufwachst, wirst du in der Lage sein, jedes Lebewesen aufzuspüren, das du dir vorstellst ...
Konnte Seder das damit gemeint haben?
Ihr kam ein Gedanke. Sie schloss die Augen und rief sich ein Bild von Castien ins Gedächtnis. Die markante Kieferpartie, die elfische Form der Ohren. Arabelle sah ihn zwar nicht so wie die Tiere, aber sobald sie ihn sich vorstellte, spürte sie ihn.
Sie wusste, wo er sich aufhielt.
Arabelle begann, in die Richtung zu laufen, und sie nahm ihn stärker wahr. Sie achtete nicht auf die Umrisse der Waldtiere – die sie mittlerweile am Rand des Bewusstseins überall wahrnahm – und richtete das Augenmerk nur auf Castien. Bald fühlte es sich an, als könnte sie den Herzschlag des Elfen beinah hören.
Plötzlich blieb sie stehen. Ihr Gefühl teilte ihr mit, dass er sich genau an dieser Stelle befinden sollte, aber ...
Sie schaute auf. Der lächelnde Elf saß auf einem Ast über ihr.
»Gut«, sagte er. »Du besitzt einen ausgeprägten Waldsinn. Überrascht mich, ihn bei einem Menschen festzustellen. Erst recht bei einem so jungen Menschen wie dir.«
Röte loderte in Arabelles Wangen, und sie beschloss, ihm nichts von Seders Geschenk zu erzählen.
Der Elf hopste von dem Ast herab. »Zeit für die wichtigsten Lektionen deines Lebens. Komm mit.«
Er führte sie durch den Wald. Mit ihrer neu erlangten Nachtsicht konnte Arabelle seinen Bewegungen mühelos erkennen. Er strahlte ein übernatürliches Leuchten ab – eine andere Schattierung als die der Tiere. Dennoch fand sie es nicht einfach, ihm zu folgen. Während er sich anmutig duckte und den Ästen und Dornen auswich, die sich nach ihnen streckten, stolperte sie linkisch hinterdrein und schien sich mit dem Gewand an allem zu verfangen. Als sie anhielten, war Arabelle überzeugt davon, völlig zerrupft auszusehen.
Castien kniete sich neben einen Busch und zeigte darauf.
»Siehst du dieses Blatt, das wie ein Amboss geformt ist? Es ist schwer, in der Dunkelheit die Farben zu erkennen, aber es ist ein grünes Blatt, durchzogen von dünnen roten Adern. In der alten Sprache heißen sie Tiskah -Blätter – wie die Menschen sie nennen, ist mir nicht bekannt. Aus diesen Blättern kann man einen heilenden Tee herstellen, der schlimme Träume abschwächt.«
»Verstehe. Also soll ich einen solchen Tee kochen und trinken?«
Der Elf schüttelte den Kopf. »Nein. Alles, was ich dir zeige, ist ein Hilfsmittel. Vorerst musst du nur zuhören und lernen, was ich dir sage.«
»Aber ...«
Castien hob die Hand. »Lass mich erst eine Antwort zu Ende bringen, bevor du eine weitere Frage stellst.«
Schweigend wartete Arabelle.
»Gut«, befand Castien. »Du bist nicht annähernd so ungeduldig, wie ich befürchtet habe. Was das Blatt angeht – du solltest eben keinen Tee daraus trinken. Für dich ist traumloser Schlaf nicht nützlich. Zwar verwendet man die Blätter in der Regel, um böse Träume zu verhindern, aber wenn man genug davon in einem Tee ziehen lässt, wird er sehr stark. Dann kann sich die Person, die den Tee trinkt, an nichts mehr erinnern, was in den letzten Stunden vorgefallen ist. Das ist ausgesprochen nützlich, wenn jemand ein Ereignis aus der jüngeren Vergangenheit vergessen soll – zum Beispiel, wenn man von jemandem gesehen wurde, von dem man nicht gesehen werden wollte.«
»Wenn es dazu kommt, wie soll ich die Person dann dazu bringen, einen Tee zu trinken, den ich brühe? Das erscheint mir unpraktisch.«
Der Elf schmunzelte. »Ausgezeichnete Frage, junges Fräulein. Es ist unpraktisch. Aber man kann das Blatt auch trocknen und zu einem Pulver mahlen. Dadurch wird es sehr wirkungsvoll. Eine kleine Prise des Pulvers erzielt dieselbe Wirkung wie eine ganze Tasse Tee. Mehr davon kann eine tödliche Waffe sein.«
Plötzlich begriff Arabelle. Castien brachte ihr nicht nur bei, wie sie das Gift in ihr überleben konnte – er brachte ihr allgemein bei, wie man überlebte. Sie hatte im Leben noch nie einen Grund gehabt, jemanden anzugreifen. Nun jedoch ... würde ihr Leben für immer völlig anders sein. Bei dem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen.
»Falls du je in eine Lage gerätst, in der du das Pulver vielleicht verwenden musst«, fuhr Castien fort, »empfehle ich dir dringend, eine Maske zu tragen, damit du es nicht selbst einatmest. Es würde zu stundenlanger Bewusstlosigkeit führen – was in deinem Fall einem Todesurteil gleichkäme. Du darfst nie, nie das Gift vergessen, das durch deine Adern fließt.«
Arabelle nickte. »Ich lasse mir für alle Fälle von Maggie eine Maske anfertigen.«
Castiens Gesichtsausdruck wurde ernst. »Diese Maggie darf nichts von dem erfahren, was ich dir beibringe.«
»Ich verstehe.«
In den nächsten zwei Stunden führte der Schwertmeister Arabelle durch den Wald und erteilte ihr allerlei Lektionen. Er erwies sich als Kräuterkundler als genauso erfahren wie im Umgang mit Waffen. Sie lernte, welche Baumrinden gegen Schmerzen helfen konnten, welche Pflanzen man kauen konnte, um wach zu bleiben – für ihren Zustand besonders nützlich – und welche Säfte man als tödliche Gifte zur Beschichtung von Klingen oder Pfeilen verwenden konnte.
Schließlich zog Castien einen schimmernden Dolch aus einer Scheide an seiner Hüfte. »Hast du schon mal einen Dolch benutzt?«
»Nur beim Essen.«
Castien reichte ihr die Klinge mit dem Griff voraus und lächelte. »Erste Regel: Halte das spitze Ende immer von dir weg.«
Arabelle streckte die Hand nach dem mit Leder umwickelten Griff aus. Es überraschte sie, wie angenehm er sich in der Hand anfühlte. Fahles Mondlicht kämpfte sich durch die Wolken und das Blätterdach des Walds und brachte die Klinge mit seinem Schein zum Funkeln.
Die nächste Stunde verbrachten sie damit, den richtigen Umgang mit einem Dolch zu lernen – sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung. Das stellte sich zwar als schwieriger heraus als Kräuterkunde, aber in gewisser Weise auch als befriedigender. Den Dolch zu halten, vermittelte Arabelle ein Gefühl von Macht.
Am Ende wollte Arabelle den Dolch an Castien zurückgeben, aber er winkte ab.
»Betrachte ihn als Geschenk. Behalte ihn immer in deiner Nähe und übe regelmäßig damit. Ich habe dir zwar die Grundlagen beigebracht, trotzdem musst du weiter üben, üben, üben.
Und wenn du denkst, du bist schon gut geworden, dann übst du dennoch weiter. Dein Leben sollte aus Schlafen, Essen und Üben bestehen.«
Arabelle betrachtete den Dolch zweifelnd. »Castien, ich bin dir dankbar für den Unterricht. Aber ich dachte, du willst mir beibringen, wie man nicht einschläft. Ich werde nie einen Dolch oder Tee brauchen, wenn ich im Schlaf dahinscheide.«
Castien schaute zum Himmel auf. »Dafür ist noch Zeit. Wir haben noch mindestens drei Stunden bis Sonnenaufgang. Fangen wir gleich an.«
»Großartig. Soll ich einen Tee kochen? Rinde kauen? Was soll ich tun?« Der Elf lachte. »Nein. Du übst. Du brauchst keine Pflanze – nur Willenskraft und Gewohnheiten. Wenn du einschläfst, musst du dich darauf konzentrieren, auf das innere Zeitgefühl deines Körpers zuzugreifen. Wenn du weißt, dass du in einer Stunde aufwachen musst, wirst du es tun. Versuch es jetzt.«
»Was? Sofort? Einfach so ... einschlafen und aufwachen?« Ein Anflug von Angst durchlief Arabelle.
Castien bedachte sie mit einem beruhigenden Lächeln. »Ich passe auf und sorge dafür, dass nichts schiefgeht. Versuch trotzdem, dir einzureden, ich wäre nicht hier. Sag deinem Körper, dass er tun muss, was notwendig ist.«
Mit seiner Zusicherung legte sich Arabelle auf ein Bett aus Moos am Fuß eines Baums, zog ihr Gewand enger um sich und konzentrierte sich auf die unmöglich erscheinende Aufgabe, genau eine Stunde lang zu schlafen.
* * *
Als Arabelle die Augen aufschlug, herrschte noch Nacht, doch sie merkte, dass Zeit vergangen war. Die Geräusche des Walds hatten sich verändert, und Castien kauerte auf den Fersen und beobachtete sie von einer anderen Stelle. Auch ihr steifer Nacken verriet ihr, dass sie geschlafen haben musste.
»Wie lange?«, fragte sie.
»Zehn Minuten weniger als eine Stunde. Sehr gut für jemanden, der sich vorher noch nie selbst wecken musste.«
Arabelle verspürte warmen Stolz darauf, etwas vollbracht zu haben. »Ich hab’s geschafft!« Castien richtete sich auf. »Ich wusste, dass du es kannst. Jetzt steh auf und beweg dich. Du musst dafür sorgen, dass sich das Gift durch deinen Körper bewegt und nicht kristallisiert.«
Der Schwertmeister bürdete ihr verschiedene Übungen auf, die ihre Oberschenkel zum Brennen brachten und dafür sorgten, dass sich ihre Arme danach wie schlaffe Nudeln anfühlten. Umso schwieriger gestaltete es sich, weil sie sich vor Schlafmangel wie benommen fühlte.
Ob ich das für immer schaffe?
Castien erklärte ihr den Zeitplan, an den sie sich halten musste. »Zwei Stunden Schlaf, unmittelbar gefolgt von einer Stunde anstrengender Ertüchtigung. Keine Ausnahmen. Mit der Zeit wirst du feststellen, dass dein Körper eigentlich nicht mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht braucht. Mach damit und mit den Klingenübungen weiter, dann bist du nicht nur sicher vor dem Gift, sondern wirst mit der Zeit selbst zu einer feinen Klinge.«
»Du sprichst von mir, als wäre ich eine Waffe.«
Castien lächelte. »Junge Dame, du wirst eine Waffe sein. Eine, die vermutlich viele unterschätzen werden.«
Arabelle spürte den Dolch in der Scheide unter ihrem Gewand und lächelte, als sie sich ausmalte, was die Leute denken würden, wenn sie wüssten, was sie in dieser Nacht getrieben hatte.
Castien schaute zum Horizont. »Du musst bald zurück nach Hause. Die Morgendämmerung naht.«
»Kann ich dich besuchen, wenn die Karawane das nächste Mal in der Gegend ist?«
»Du kannst nach mir suchen, und vielleicht lasse ich mich wieder von dir finden, junge Prinzessin.« Castien holte ein abgenutztes, ledergebundenes Buch aus seinem Kittel hervor und reichte es ihr. »Dieses Handbuch enthält Verwendungsmöglichkeiten für viele verbreitete Pflanzen. Lies auch das aufmerksam, denn ich bezweifle, dass menschliche Gelehrte viel über solche Dinge geschrieben haben.«
Aus einer Eingebung heraus umarmte Arabelle ihren elfischen Lehrmeister. »Danke, Castien.«
Er erwiderte die Geste und flüsterte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann fügte er hinzu: »Lebe gut, junge Arabelle. Beweise dir deinen Wert und erfülle dein Schicksal.«
* * *
Die ersten Lichtstrahlen lugten gerade über den Horizont, als Arabelle in Maggies Zelt huschte. Sie zog ihre Robe aus und schlüpfte unter die Decke, um dringend benötigten Schlaf nachzuholen.
Nur wenige Herzschläge schienen vergangen zu sein, als Maggie sie schüttelte. »Herrin! Herrin! Wacht auf! Ihr dürft nicht schlafen, wisst Ihr noch?«
Arabelle stöhnte, streckte die Glieder und spürte eine merkwürdige Taubheit darin. Schlagartig wurde sie hellwach. Ihr Blut verwandelte sich in Eiswasser, als ihr klar wurde, was beinah passiert wäre. Wie konnte ich nur so bald so unvorsichtig werden?
Schnell sprang sie aus dem Bett, stampfte mit den Füßen und ballte wiederholt die Hände zu Fäusten, um den Blutkreislauf anzuregen.
»Wie spät ist es?«, fragte sie.
»Erst kurz nach Sonnenaufgang. Oh Herrin, ich war so besorgt um Euch.
Wir haben nie besprochen, wie ich aus Eurem Zelt verschwinden sollte, ohne Verdacht zu erregen. Ich fürchte, ich könnte Eure Leibwächter verärgert haben.«
»Schnell«, sagte Arabelle. »Gib mir meine Sachen und schlüpf in deine.« Rasch zogen sie sich die richtigen Gewänder an, und gerade noch rechtzeitig. Maggie rückte ihre Kleidung noch zurecht, als sich die Zeltklappe öffnete und Tabor den Kopf hereinsteckte.
»Prinzessin! Warum habt Ihr nicht auf Eure Leibwächter gewartet? Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Entschuldige, Tabor, aber ich musste sofort mit Maggie reden. Und weil es noch früh war, wusste ich, dass es dauern würde, bis sie sich versammeln.«
Tabor brummte und warf Maggie einen finsteren Blick zu, als wäre es ihre Schuld. Die Zofe blickte auf ihre Füße, konnte ihm nicht in die Augen sehen.
»Ihr beide führt irgendetwas im Schilde, und das gefällt mir gar nicht . Ich werde Eurem Vater von dem Vorfall berichten müssen, Prinzessin.« Er zog den Kopf aus dem Zelt zurück, tauchte jedoch gleich wieder auf. »Eure Leibgarde wartet draußen, Prinzessin. Bitte versucht, Euch zu benehmen.« Und damit verschwand er wieder.
Arabelle wandte sich an Maggie. »Siehst du? Es ist alles in Ordnung.«
Maggie wirkte verunsichert. »Tabor scheint mir furchtbar wütend zu sein.«
»Tabor ist immer wütend.« Arabelle schwenkte wegwerfend die Hand. »Jetzt muss ich zurück in mein Zelt. Ich habe so viel zu tun. Kannst du meinem Vater und meiner Leibgarde mitteilen, dass ich heute in meinem Zelt bleiben werde? Schieb es auf die ›Halsschmerzen‹ von letzter Nacht, wenn du willst. Aber stell es nicht zu schlimm dar – ich will keine Besucher haben.«
»Seid Ihr sicher, dass ich sonst nichts tun kann, Herrin?«
»Oh, du kannst noch etwas für mich tun. Ich brauche eine neue Aufmachung. Etwas, womit ich nicht auffalle – also keine Seide. Vielleicht schwarz oder dunkelgrau. Nur ... gewöhnliche Kleidung. Und ich muss in der Lage sein, mich darin ausreichend für Übungen zu bewegen.«
Maggie wirkte aufgeregt. »Natürlich! Das klingt nach einem lustigen Unterfangen.« Sie befingerte das eigene Gewand und bemerkte den Schaden, den Arabelle vergangene Nacht daran angerichtet hatte. »Anscheinend muss ich wohl auch einen widerstandsfähigeren Stoff auftreiben.«
»Ach, und noch etwas. Ich brauche eine Maske – einen Tagelmust. Es muss nicht aus dem gleichen Stoff sein, aber ich will, dass ich ihn um den Kopf wickeln kann und er meinen Mund bedeckt.«
Maggie kicherte. »Herrin! Nur Eure Augen werden dann sichtbar sein. Ihr werdet aussehen wie meine Großmutter.«
»Ich habe meine Gründe«, erwiderte Arabelle lächelnd. »Ich mache mich sofort an die Arbeit, Herrin.«
Arabelle umarmte sie. »Vielen Dank. Und Maggie ... wenn wir unter uns sind, kannst du mich einfach Arabelle nennen.«
Maggie zog sich zurück und schüttelte entschieden den Kopf. »Auf keinen Fall, Herrin. Das wäre unangemessen.«
Ihre Antwort betrübte Arabelle zwar, doch sie konnte es verstehen. Die Imazighen betrachteten ihre Familie seit unzähligen Generationen als unangefochtene Anführer. Vor Jahrhunderten hatten sie über ein riesiges Land geherrscht, zu dem ihnen nunmehr eine magische Barriere den Zugang verwehrte. Doch obwohl von jenem Königreich nur noch die riesige Karawane und deren Leute übrig waren, wurde ihre Familie unverändert verehrt. Ihre Vorfahren hatten über die Jahrhunderte dafür gesorgt, dass ihr Volk beisammen geblieben war und sich seine Kultur bewahrt hatte – sogar durch die großen Dämonenkriege hindurch. Und es hieß, eines Tages würde ihre Familie die Imazighen zurück in ihr verlorenes Land führen.
Arabelle umarmte Maggie noch einmal. »Egal, wie du mich nennst, meine liebe Maggie, du sollst wissen, dass ich dich liebe.«
Damit wandte sie sich ab und verließ das Zelt, bevor Maggie die Tränen sehen konnte, die ihre Sicht trübten.
* * *
Arabelle verbrachte die nächsten zehn Stunden in ihrem Zelt mit gnadenlosen Abfolgen schwieriger Übungen, unterbrochen von kurzem, bangem Schlaf. Es war anstrengend – körperlich und geistig. Auch auf ihre Stimmung schlug es sich nieder. Sie konnte sich kaum vorstellen, das jeden Tag und jede Nacht ihres Lebens zu tun. Und doch hatte sie keine andere Wahl.
Es war bereits spät am Nachmittag, als sie sich in das nach Blumen duftende heiße Bad senkte, das Maggie für sie vorbereitet hatte. Seit dem Morgen hatte sie insgesamt vier weitere Stunden geschlafen – mehr brauchte sie laut Castien nicht. Hinzu kam der Schlaf, den sie sich an diesem Morgen so töricht in Maggies Bett gegönnt hatte. Trotzdem fühlte sie sich müde.
Maggie begann, hinter ihr aufzuräumen. Als sie die Kleidung ihrer Herrin aufhob, fiel Arabelles neuer Dolch heraus.
Die Augen der Zofe weiteten sich. »Ist der von ...«
»Ja«, schnitt Arabelle ihr das Wort ab. »Und wir müssen nicht darüber reden. Bitte verwahr ihn in meiner Truhe.«
Maggie hielt den Dolch zwei Fingern, als könnte er sie verbrennen, und ließ ihn verschwinden.
»Ist es bald Zeit zum Abendessen?«, fragte Arabelle. »Ich bin sehr hungrig.«
»Ja – ich glaube, Frau Mizmer brät heute Abend Geflügel.
Esst Ihr mit Eurem Vater oder bleibt Ihr in Eurem Zelt?«
»Leg mir Kleidung für einen Besuch bei meinen Vater heraus. Ich muss ihn ein paar Dinge fragen.«
* * *
Arabelles Muskeln schmerzten heftig, und als Tabor sie zum Zelt ihres Vaters begleitete, musste sie sich anstrengen, um es sich nicht anmerken zu lassen. Anscheinend vergeblich.
»Prinzessin«, ergriff Tabor das Wort, »was plagt Euch?«
Arabelle warf ihm einen unschuldigen Blick zu. »Was meinst du? Bestimmt hast du gehört, dass ich heute ein bisschen müde war.«
Ihr Leibwächter rümpfte die Nase. »Macht mir nichts vor, Prinzessin. Ich habe genug lahme Pferde und verletzte Soldaten gesehen, um körperlichen Schmerz zu erkennen. Ihr bewegt euch bei jedem Schritt äußerst vorsichtig. Also frage ich noch einmal, Prinzessin: Was plagt Euch?«
Arabelle seufzte dramatisch und bemühte sich, schuldbewusst zu wirken. »Natürlich hast du recht. Auf dem Weg zu Maggies Zelt heute Morgen bin ich versehentlich über einen Stein gestolpert und habe mir den Knöchel verstaucht. Nichts Ernstes, aber ich versuche, vorsichtig zu sein, damit es nicht schlimmer wird.«
Er schüttelte den Kopf. »Was für eine Torheit.« Er kniete sich hin und untersuchte Arabelles Fußgelenk. »Keine Schwellung. Soll ich Euch tragen?«
Arabelle wich einen Schritt zurück. »Wag es ja nicht! Ich würde vor Verlegenheit sterben.«
»Das bezweifle ich stark, Prinzessin.«
»Es geht mir gut, Tabor. Ich muss den Knöchel nur dehnen.«
Tabor lächelte. »Wie Ihr wünscht.«
Als sie weitergingen, näherten sich zwei von Azazels Vollstreckern in entgegengesetzter Richtung. Vollstrecker sah man in der Karawane nicht oft. Tabor legte Arabelle die flache Hand auf den Rücken und scheuchte sie vorwärts. Als sie an den beiden schwarz gekleideten Soldaten vorbeigingen, schnappte sie ein Bruchstück ihres Wortwechsels auf.
»Nach Fremden in Trimoria suchen. Was das wohl zu bedeuten hat?«
»Keine Ahnung. Halt einfach die Augen nach allem offen, das irgendwie ungewöhnlich ist. Das Letzte, was wir wollen, ist, dass Kirag uns Unachtsamkeit vorwirft.«
Als die Gesprächsfetzen hinter Arabelle zurückblieben, fragte sich unwillkürlich, worum es gehen mochte.