Als Grisham nach und nach zu sich kam, pochte sein Schädel heftig, und er stellte fest, dass er durch einen feuchten unterirdischen Gang schlurfte. Um den Hals hatte man ihm einen Kragen aus Metall angelegt. Menschen schleppten sich sowohl vor ihm als auch hinter ihm voran. Alle hatten einen Metallkragen um den Hals, und jeden verband eine Kette mit einer einzigen, dicken, durchgehenden Kette, die sich über die gesamte Länge der Marschkolonne erstreckte.
Die Wahrheit traf Grisham härter als der Schlag auf den Kopf, den er abbekommen hatte. Ich bin von Sklavenhändlern entführt worden.
Von weit hinter ihm ertönte tiefes Gebrüll. Erst, als er es ein drittes Mal hörte, verstand er die Worte. »Geh oder schlage ich dir Schädel ein. Geh jetzt!«
Der Mensch vor Grisham raunte: »Verdammter Oger. Ich wünschte, jemand würde ihm den Schädel einschlagen.«
Eine andere Stimme antwortete darauf. »Man bräuchte schon einen sehr großen Knüppel, um das Ungetüm auch nur zu kitzeln. Halt einfach die Klappe, bevor du uns noch Ärger einbrockst.«
Danach marschierten sie schweigend weiter. Grisham hatte keine Ahnung, wer die Spitze bildete. Er konnte lediglich den Mann unmittelbar vor ihm sehen. Er wusste nur, dass sich die Gänge hin und her schlängelten. Außerdem verrieten ihm seine Ta’ah-Sinne, dass sie sich stetig tiefer in den Untergrund bewegten.
Irgendwann hörte er einen Sprechgesang aus einem Quergang und stellte überrascht fest, dass er Worte in der alten Sprache enthielt. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass er sie lernte, obwohl er mit Trimorianisch aufgewachsen war, aber er hörte die alte Sprache gerade zum ersten Mal gesprochen, seit er die Barriere durchquert hatte.
Ein anderes Mal kreuzten sie einen mit violetten Flammen gesäumten Korridor, der ihn an die verbotenen Gänge aus seiner Jugend erinnerte. Die Menschen brummelten, fluchten und beschleunigten die Schritte, um ihn rasch hinter sich zu lassen. Grisham fragte sich, ob in der unterirdischen Welt hier dieselben Gefahren lauerten, die er von der anderen Seite der Barriere kannte. Dämonen. Anhänger Liliths. Vielleicht noch Schlimmeres.
Nachdem sie gefühlte Stunden durch den Untergrund gestolpert waren, gelangten sie zu einer großen Höhle, und Grisham bekam zum ersten Mal den Oger zu Gesicht, der sie von hinten angebrüllt hatte. Das Ungetüm war gut und gern sechs Fuß breit und mit dicken Muskelsträngen bepackt. Zwei große Hauer ragten aus dem Unterkiefer. Die Größe des Ogers schätzte Grisham auf das Doppelte der größten Menschen – die ihrerseits doppelt so groß waren wie er. Aufrecht stehend befanden sich seine Augen auf Höhe der Knie des Ogers.
Das Ungetüm zeigte auf einen Stapel Spitzhacken und Hämmer. »Nehmen. Stein klopfen. Nicht klopfen Stein? Ich klopfe Schädel!«
Grisham schnappte sich eilends einen Hammer, der klein genug für ihn war. Der Griff erwies sich als fürchterlich abgewetzt, der Kopf als eingekerbt.
»Stein klopfen!«, brüllte der Oger.
Grisham folgte dem Beispiel der anderen Gefangenen und begann, mit dem Hammer auf die Felswand vor ihm einzuschlagen. Allerdings konnte er sich nicht erklären, warum. Er sichtete keinerlei Erzadern oder Anzeichen auf ungewöhnliche Mineralien. Aber er hatte mit Sicherheit nicht vor, nach dem Grund zu fragen. Die Regeln waren klar und deutlich zum Ausdruck gebracht worden: Wer keinen Schlag auf den Kopf wollte, schlug auf Stein.
So arbeitete er eine ganze Weile schweigend vor sich hin und fragte sich, ob die eintönige Plackerei je enden würde. Ob sie Essen, Wasser oder sogar eine kurze Pause zugestanden bekommen würden. Dann spürte er die Schwingungen des Ogers, der unmittelbar hinter ihm auftauchte.
»Mickriger Zwerg klopft winzige Steine.«
Grisham drehte sich um und sah, dass der Hüne auf einen Schutthaufen zeigte, den einige der anderen aus der Wand gehauen hatten. Offensichtlich wurde dieses Ziel als geeigneter für seine »mickrigen« Bemühungen erachtet.
Grisham bewegte sich auf den Haufen zu. Die Kette an seinem Hals leistete dabei Widerstand, weil er die schwere Hauptkette hinter sich herziehen musste. Dann begann er, gedankenlos auf die Steine einzuschlagen. Seine Arme und Schultern brannten vor Anstrengung, sein Magen knurrte. Aber Vater hatte ihm vor langer Zeit beigebracht, wie man das gesamte Augenmerk auf eine Aufgabe bündelte und alles andere ausblendete. Indem er sich völlig auf die Arbeit konzentrierte, lenkte er den Geist von den Beschwerden seines Körpers ab.
Er hielt erst inne, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Und sobald er aufhörte, kehrten die Bedürfnisse zurück: Durst und Hunger, begleitet von pochenden Schmerzen.
Hinter ihm stand ein angegrauter Mensch mit freundlichem, aber faltigem Gesicht. Der Mann lächelte sogar, als er Grisham eine Schüssel mit Haferschleim reichte. »Essen ist angerichtet.« Er deutete mit dem Daumen auf einen Trog. »Diesmal bringe ich dir eine Schale. Nächstes Mal musst du schnell sein, bevor diese Geier dir alles wegfressen.«
Ein anderer Mensch, ein junger Bursche, schüttelte den Kopf. »Nicholas, wenn der Zwerg den ganzen Tag auf Steine hauen will, dann lass ihn. Er wird sowieso einer der Ersten sein, die sterben. Also kann er ruhig mehr Essen für uns übrig lassen.«
Nicholas wandte sich an den jungen Burschen. »Nimm dich besser in Acht, Grappa. Du tätest gut daran, zu bedenken, dass du hier unten nur ein Sklave wie wir anderen bist. Der junge Zwerg hier hat härter gearbeitet als du an deinem besten Tag, und dabei ist er nur halb so groß wie du.« Während er sprach, ließ seine Aura große rote und weiße Flecken erkennen – Gefahr und Ehrlichkeit.
Grisham war überrascht und dankbar, dass dieser Fremde ihn verteidigte. »Grisham«, sagte er. »Mein Name ist Grisham.«
Der Mann streckte eine schwielige Hand aus. »Freut mich, dich kennenzulernen, Grisham. Ich wünschte nur, die Umstände wären erfreulicher. Ich bin Nicholas.«
Grappa spuckte auf den Boden und murmelte verächtlich: »Zwergenfreund.« Grappas Aura erfüllten rote, gelbe und schwarze Schlieren. Die ersten beiden, Wut und Feigheit, waren verbreitete menschliche Eigenschaften. Wesentlich seltener kamen Anzeichen von Schwarz vor, das in der Regel auf jemandes Bösartigkeit hinwies.
Von dem werde ich mich fernhalten müssen.
Nicholas lud Grisham ein, sich zum Essen zu ihm zu setzen. Als sich der ältere Mann mit zwei Fingern Haferschleim in den Mund schaufelte, riet er: »Iss am besten, bevor es auskühlt. Das Zeug ist nicht mal gut, solange es noch warm ist, aber ich kann dir versichern, es ist noch grausiger, wenn es erst kalt ist.«
Grisham schaufelte sich die zähe Masse in den Mund. Sein Würgereflex wollte einsetzen, aber er unterdrückte ihn. Zwar konnte er Hafer darin schmecken, darunter jedoch etwas sehr Saures.
Nicholas kratzte sich am Bart. »Nun denn, erzähl mir deine Geschichte, junger Herr. Wie bist du in die Gefangenschaft der Sklavenhändler geraten?«
»Na ja, ich lebe im Waisenhaus in Cammoria und ...«
»Ha!«, fiel Grappa ihm ins Wort. »Ein Zwerg und ein Waise. Ein doppelter Verlierer!«
Nicholas packte die Kette des Jungen, versetzte ihr einen Ruck, zog ihn näher zu sich und verpasste ihm einen kräftigen Klaps auf den Hinterkopf. »Besinn dich deiner Manieren, oder du wirst es bereuen.«
Grappa schaute finster drein und wich zurück. Das Schwarz in seiner Aura flackerte auf.
»Lass mich raten«, wandte sich Nicholas an Grisham und überging die Unterbrechung. »Du hast das Angebot bekommen, adoptiert zu werden, du solltest deine zukünftigen Eltern irgendwo treffen, und dabei ist etwas passiert.«
»Woher weißt du das?«,
Nicholas schnalzte mit der Zunge. »Pah! Viele Waisen landen hier, und deine Geschichte ist nicht ungewöhnlich. Die Sklavenhändler nehmen grundsätzlich Hilflose oder Törichte ins Visier, aber am liebsten mögen sie solche, die niemand vermisst.«
Grisham tat die Oberin des Waisenhauses leid. Sie würde ihn vermissen. Er hatte immer gemerkt, dass ihr wirklich etwas an ihren Schützlingen lag, und sie hatte ihn mit dem unterschriebenen Pergament zurückerwartet. Was Wat denken würde, wollte er sich gar nicht vorstellen.
»Wie haben sie dich erwischt, Nicholas? Du scheinst mir kein so leichtes Ziel zu sein.«
Nicholas seufzte. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich hätte mich gewehrt oder tapfer gehandelt und am Ende verloren. Aber nein. Ich wurde als Söldner bei einer Karawane angestellt und hatte gerade meinen ersten Sold bekommen. Außerdem war der erste Jahrestag des Tods meiner Frau. Also habe ich mich natürlich hemmungslos betrunken.
Ich bin nachts allein in den Wald gegangen. Die Sklavenhändler haben mich geschnappt, als ich vor meinem Lagerfeuer geschlafen habe. Offensichtlich habe ich mir mein Schicksal durch schiere Dummheit eingehandelt.«
»Tut mir leid, das mit deiner Frau und deinem Pech zu hören.«
Der Mann lächelte. »Sie war eine gute Frau, aber schon lange krank gewesen.« Er streckte die Arme. »Entspann dich und leg dich ein bisschen hin. Der Oger kommt frühestens in ein paar Stunden zurück. Wir müssen uns an Erholung nehmen, so viel wir können und wann immer wir können. Denn der Oger wird mit Sicherheit nicht dulden, dass wir uns in seiner Gegenwart ausruhen.«
»Kann ich noch eine Frage stellen?«
Nicholas legte sich auf den Boden. »Sicher.«
»Was machen wir hier unten eigentlich? Was nützt es, diese Felsen zu zerschlagen? Was bauen wir ab? Ich sehe keine Erzadern.«
Nicholas schmunzelte. »Ich habe gerade mehr als eine Frage gehört.« Gähnend schloss er die Augen. »Niemand weiß, was wir hier tun. Wir graben nur, graben und graben und sortieren das gehauene Gestein. Man hat uns nie gesagt, wonach wir eigentlich suchen. Solche Fragen werden auch nicht geduldet.«
»Entschuldigung, dabei fällt mir noch eine Frage ein. Du musst auch nicht antworten, wenn du schlafen willst. Aber ist der Oger der einzige Sklavenhändler hier, oder gibt es noch andere?«
»Oh, es gibt andere. Die Oger sind die muskelbepackten Handlanger fürs Grobe. Es arbeiten aber auch Menschen für sie. Nur wem du nie begegnen willst, das ist die Elfenpriesterin. Über sie möchte ich lieber nicht reden. Sagen wir einfach, sie und Azazel würden als Paar gut zusammenpassen. Beide sind durch und durch böse und jagen mir aus so ziemlich denselben Gründen Angst ein.«
Jedes Mal, wenn Grisham den Namen des Zauberers hörte, kreisten seine Gedanken um den Tag, an dem sich sein Vater für ihn geopfert hatte.
Grisham legte sich auf den Boden und schloss die Augen. Und sieh sich einer an, was ich durch sein Opfer vollbracht habe.
* * *
Grishams Wahrnehmung wurde von durchgehendem Weiß geflutet. Aus dem Weiß hallte eine Stimme durch seinen Geist.
»Grisham, es ist nicht alles verloren. Deine Mission ist noch nicht vollendet.«
Grisham stellte fest, dass er sich weder bewegen noch die Augen öffnen konnte. Panik setzte ein.
»Hab keine Angst, ich bin hier. Für alle anderen sieht es so aus, als würdest du schlafen. Sende einfach deine Gedanken, und ich werde sie empfangen.«
»Wer bist du?«
»Ich bin Seder, und unsere Zeit ist kurz. Hör mir aufmerksam zu und merk dir meine Worte. Du hast viele Unbilden erlebt, aber ich werde dir bereitstellen, was du brauchst, um deine Mission zu erfüllen.«
»Mission?«
»Es ist deine Bestimmung, dein Volk aus der selbst auferlegten Abgeschiedenheit zu führen. Du musst den thariginischen König aufsuchen und als Vertreter deines Volks eine Vereinbarung mit ihm treffen.«
»Aber Seder, es gibt keine thariginischen Könige mehr in Trimoria.«
»Nicht alles ist so, wie es zu sein scheint, junger Grisham. Bald wird man einen Tharigianer entdecken. Und du wirst ihm begegnen, das verspreche ich. Du wirst den ersten Schritt deiner Bestimmung erfüllen.«
Grisham verspürte einen Anflug von Hoffnung. Wenn Seder meinte, es wäre möglich, dann war es möglich. »Das heißt, ich entkomme von hier, richtig? Wie?«
Ein Moment der Stille verging, und das Weiß schimmerte.
»Hab Geduld. Es müssen einige Ereignisse eintreten, bevor deine Flucht möglich wird. Ich habe Kräfte freigesetzt, die tief in dir verborgen waren – Kräfte, die bei deinem Volk nur selten vorkommen. Sie werden sich langsam entfalten. Achte in der Zwischenzeit genau darauf, wie die Dinge aussehen. Und Grisham ... meide immer Liliths Einfluss.«
Seders Stimme verklang. Das schimmernde Weiß verblasste, und in Grishams Kopf liefen Bilder ab.
Ein Dutzend schwarzer Panther betritt einen breiten Gang in einem Gebirgshang. Der Tunnel ist symmetrisch angelegt und weist deutlich die Anzeichen zwergischer Baukunst auf.
Die vorderste Katze brüllt. »Wir sind eingetroffen, Echsenherren.«
Tiefer aus dem Tunnel ertönt das Geräusch von Krallen auf Stein. Die Bewegungen einer schweren Kreatur versetzen den Boden in Schwingung. Die Katzen fauchen verängstigt und weichen zurück.
In der Dunkelheit des Tunnels blitzen Funken und ein Hauch von Flammen auf. Dann erscheint ein riesiger, schuppiger Kopf.
Ein Drache.
Die Krallen des Drachen schlagen Funken auf dem Stein, als er sich auf dicken, muskulösen Beinen vorwärtsbewegt. Von der Schnauze bis zum Schwanzende misst er etwa sechzig Fuß. Die gepanzerten schwarzen Schuppen schimmern mit einem Hauch von Rot.
Eine kehlige, raue Stimme ertönt tief aus der Brust des Drachen. »Wechselbalg, du bist wie versprochen eingetroffen. Nun müssen wir auf meinen Bruder warten. Wie üblich verspätet er sich.«
Ein dumpfer Aufprall draußen vor der Höhle kündigt die Ankunft einer weiteren Kreatur gewaltiger Größe an. Am Eingang zur Höhle erscheint eine blutverschmierte Schnauze. »Das habe ich gehört, Schwester. Kann ich etwas dafür, dass ich hungrig war und du gesagt hast, ich darf die Sumpfkatzen nicht fressen? Ich gebe dir die Schuld an meiner Verspätung.«
Rauchschwaden kräuseln sich aus der Schnauze des ersten Drachen. Die Kreatur lässt ein gereiztes Knurren vernehmen. »Männer«, brummelt die Drachenfrau.
Sie wendet sich wieder an die Katzen. Mit Ausnahme des Anführers kauern sie bang zwischen den beiden Ungetümen. »Es ist an der Zeit. Du weißt, dass es keine Möglichkeit gibt, dich zurückzuholen, sobald mein Bruder und ich die Barriere durchbrechen und du sie durchquerst. Du wirst festsitzen.«
Der Anführer der Katzen bestätigt mit einem Jaulen, dass er verstanden hat.
Die Drachenfrau wendet sich an ihren Bruder. »Es ist so weit.«