In den Wochen nach dem Aufbruch aus Aubgherle nahm Arabelle die Übungen von Castien äußerst ernst. Dabei stellte sie fest, dass sie eine wertvolle Nebenwirkung erzielten. Sie ermöglichten ihr nicht nur, mit dem Gift in ihrem Körper zu leben, sie stärkten Arabelle auch. Allmählich verstand sie, warum Castien sie mit einer Waffe verglichen hatte – und sie wollte eine mächtige Waffe werden. Immerhin schienen die Elfen und Seder zu glauben, dass Arabelles Schicksal über bloßes Überleben hinausging. Tatsächlich beschlich auch sie das Gefühl, eine größere Bestimmung zu haben. Sie hoffte nur, dass sie sich nicht täuschte.
Also übte sie jeden Tag auch mit dem Dolch, was sie natürlich nur innerhalb ihres Zelts konnte. Als Maggie einmal mittendrin hereinkam und sie dabei sah, schien die Arme einer Ohnmacht nah zu sein.
Die einzige Fähigkeit, die sie überall üben konnte, war jene, die sie mittlerweile ihre innere Sicht nannte. Wann immer sie ihren Vater finden wollte, stellte sie ihn sich einfach vor, und ihre Sinne lenkten sie in die richtige Richtung. Bei Castien funktionierte es auch. Obwohl sich der elfische Schwertmeister mittlerweile viele Tagesreisen entfernt befand, führten ihre Sinne sie an den Rand der Karawane, und sie starrte in die Ferne. Dabei wusste sie, wenn sie auf wundersame Weise fliegen könnte, würden ihre Sinne sie in gerader Linie zu ihm leiten.
Seltsamerweise jedoch wirkte Arabelles innere Sicht bei anderen nicht – nur bei diesen beiden. Wenn sie jemand anders zu finden versuchte, sprachen ihre Sinne überhaupt nicht darauf an. Es war, als gäbe es sonst niemanden. Was Arabelle besorgniserregend fand. Sie musste herausfinden, wie sich das beheben ließ, damit sie ihre Fähigkeit wie vorgesehen nutzen könnte.
Und dann ... gelang es ihr. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein einfaches, wenngleich peinliches Problem. Arabelle wurde klar, dass sie selten darauf achtete, wie die Leute wirklich aussahen. Wenn sie sich beispielsweise den Händler vorstellte, der ihr Lieblingsgebäck verkaufte, blieb ihr inneres Bild falsch oder unvollständig. Deshalb reagierte ihre innere Sicht nicht darauf.
Beunruhigt stellte sie fest, dass sie die Leute in ihrem Leben nie richtig beachtet hatte. Fehlte dem Händler schon länger ein Zahn? War Tabor von jeher so vernarbt gewesen? Besonders schämte sich Arabelle, als sie erkannte, dass sie sich nicht an Maggies Augenfarbe erinnerte. Da beschloss sie, dass sie Zeit dafür aufwenden musste, ihre Aufmerksamkeit auf Einzelheiten zu verbessern.
Und kaum hatte sie damit begonnen, verbesserte sich ihre innere Sicht. Sie stellte sich das freundliche, dralle, fröhliche Gesicht von Frau Mizmer vor und fand sie auf dem Markt, wo sie um eine Melone feilschte. Sie stellte sich den Zwerg Oda vor und fand ihn bei den Ställen, wo er über die Größe der Pferde brummelte. Somit würde Arabelle nie wieder die Karawane nach Maggie absuchen müssen. Und natürlich konnte sie bei Bedarf auch Tabor finden, wenngleich er so gut wie immer an ihrer Seite weilte.
»Prinzessin«, meinte Tabor eines Tages, »Ihr scheint Euch zu verändern.« Arabelle schaute unschuldig auf. »Tatsächlich?«
Tabor räusperte sich. »Ja. Ihr kommt mir schwungvoller vor, geht mit geschmeidigeren Schritten und scheint euch wohler in Eurer Haut zu fühlen. Außerdem habe ich den Eindruck, Ihr habt ein wenig an Gewicht verloren.«
Arabelle verspürte einen Anflug von Zorn. Ihre Kleidung saß tatsächlich etwas lockerer als früher, aber wie konnte er es wagen, eine solche Bemerkung über ihr Aussehen anzubringen? Sie atmete langsam durch, um sich zu beruhigen. »Ich bin dieselbe wie immer«, sagte sie.
Arabelle vermeinte, ein Aufflackern von Traurigkeit in Tabors strengen Zügen zu erkennen. Aber er erwiderte nur: »Wie Ihr meint, Prinzessin. Dann irre ich mich wohl.«
* * *
Als sich Arabelle an jenem Abend bettfertig machte, ging ihr Tabors Bemerkung immer noch durch den Kopf. In Wirklichkeit hatte er natürlich recht. Sie hatte sich verändert – deutlich stärker, als ihr bewusst gewesen war.
Sie zog die Röcke hoch und betrachtete ihre Beine. Mittlerweile wirkten sie schlanker und wiesen sehnige Muskeln auf, die sie vorher nicht besessen hatte. Wenn Arabelle sie anspannte, konnte sie erkennen, wie sich die einzelnen Stränge bewegten. Dieselbe Verwandlung hatte sich an ihren Armen vollzogen. Sie konnte die Muskeln daran sehen und die Kraft darin spüren. Es war ein gutes, ein mächtiges Gefühl.
Aber so ungern sie es zugab, sie war mittlerweile dünner als die meisten. Viel dünner, als sie je zuvor gewesen war. Sah man es ihr auch am Gesicht an? Wirkte sie hager und kränklich? Sie hätte Maggie auffordern können, ihr einen Spiegel zu bringen, aber sie kannte die Wahrheit bereits. Obwohl sie stärker als je zuvor in ihrem Leben war, verlor sie zu viel Gewicht. Um gesund zu bleiben, musste sie etwas dagegen unternehmen.
Sie streckte die Hand nach dem Obstkorb auf ihrem Nachttisch aus, als ihr plötzlich eine Erkenntnis kam. Maggie hatte erst vor ein oder zwei Wochen angefangen, Obst für sie bereitzulegen ... Wollte die Zofe ihrer Herrin damit unterschwellig vorschlagen, mehr zu essen?
Sie schnappte sich rote Weintrauben und steckte eine nach der anderen in den Mund, bis sie alle aufgegessen hatte. Mit der Überzeugung, dass kein Bissen mehr in ihrem Magen Platz hätte, legte sie sich ins Bett und wies ihr Gehirn wie immer an, sie in zwei Stunden zu wecken.
Arabelle fragte sich, ob Träume ihren Schlaf erfüllen würden. Ihr war aufgefallen, dass sich ihre verbesserte Beobachtungsgabe in der wachen Welt auf ihre Traumwelt übertrug. Oft blieben ihr Erinnerungen an bestimmte Einzelheiten tagelang erhalten.
Auch das konnte sich als nützlich erweisen. Die Imazighen glaubten, dass man Träume benutzen konnte, um die Zukunft vorherzusagen. Arabelle zweifelte zwar daran – sie war sich ziemlich sicher, dass ihr letzter Traum, in dem sie Erde gegessen hatte, keine tiefere Bedeutung hatte. Aber sie war aufgeschlossen für die Möglichkeit.
Schon kurz, nachdem sie die Augen geschlossen hatte, sank sie tatsächlich in einen Traum.
Sie geht durch eine Wiese mit Blumen, deren Duft in einer warmen Brise treibt. Plötzlich verschwindet das Feld und wird von einem See abgelöst.
Ein Brummen nähert sich. Eine große Kiste aus Metall bewegt sich auf schwarzen Rädern ohne Pferde in Richtung des Sees. Am Ufer hält das Gefährt an. In dem riesigen Kasten öffnet sich eine Tür. Vier Personen steigen aus, reden und lachen. Ihre Kleidung wirkt eigenartig. Aus einer anderen Tür in der Kiste holen sie irgendwelche Ruten hervor, reihen sich am Ufer auf und beginnen zu angeln.
Zwei sind jung – beides halbwüchsige Knaben. Bei den anderen scheint es sich um ihre Eltern zu handeln. Der kleinere Bruder fängt einen Fisch und hält ihn hoch, um ihn allen zu zeigen. Die Mutter holt einen kleinen schwarzen Kasten aus einer Tasche und platziert ihn an ihrer Stirn. Die anderen lächeln, und von dem Kasten geht ein greller weißer Blitz aus.
Bald fängt auch der ältere Bruder einen Fisch, einen viel größeren, und das seltsame Ritual mit dem kleinen schwarzen Kasten wiederholt sich.
Als sich der größere Junge umdreht, sieht Arabelle sein Gesicht, sein strahlendes Lächeln, und sie errötet. Sie fühlt sich ihm verbunden, und aus seinen blauen Augen spricht eine Freundlichkeit, die sie anziehend findet. Sie tritt vor, um mit ihm zu sprechen.
Und der Traum verblasst.
Arabelle erwachte schweißgebadet. Als sie den Traum im Kopf noch einmal ablaufen ließ, ergab er keinen Sinn – wie so oft. Aber dieser Junge ...
Arabelle japste. Als sie an den Jungen dachte, erwachte ihre innere Sicht zum Leben und wies ihr die Richtung zu ihm. Gab es ihn wirklich? Hatte sie gerade von einem Fremden geträumt, dem sie noch nie begegnet war?
Und das war nicht das Seltsamste daran. Bisher hatte sich ihre innere Sicht noch nie geirrt. Manchmal sprach sie überhaupt nicht an. Aber wenn doch, wies sie Arabelle ausnahmslos den richtigen Weg. Nun jedoch ...
Sie schaute in die Richtung, in die ihre Sinne sie lenkten. Dabei starrte sie kerzengerade nach oben an die Decke ihres Zelts.
* * *
Arabelle verschlang das gewürzte Lamm, das auf Frau Mizmers besonderem Reis mit getrockneten Früchten angerichtet lag, dann biss sie herzhaft in ein Stück Fladenbrot.
Ihr gegenüber lachte ihr Vater. »Mein Herzblatt, was bin ich froh zu sehen, dass du wieder Appetit hast. Ich wusste doch, dass du schon wieder wirst.«
»Wieder werden?«, hakte sie nach.
»Ach, nichts weiter. Tabor macht sich Sorgen um dich, das ist alles. Zuerst hat er behauptet, du würdest eine Verletzung verheimlichen, dann, dass du zu dünn wärst! Ich habe ihm gesagt, dass seine Fähigkeiten bei der Beurteilung von Soldaten und Pferden liegen und er die Gesundheit meiner Tochter getrost mir überlassen soll.« Er bremste sich. »Aber lass dich von Tabors Äußerungen nicht beunruhigen. Du bist ein Mädchen im Wachstum, und dein Körper verändert sich. Da ist es völlig natürlich, wenn du Gewicht zulegst oder verlierst. Und ich weiß, dass du es mir sagen würdest, wenn du krank oder verletzt wärst.«
Arabelle verspürte einen Anflug von Schuldgefühlen. »Vater«, sagte sie, »bin ich denn jetzt zu dünn?«
Abwägend musterte er sie, dann drückte er ihr den Finger auf die Stirn. »Mein Täubchen, die Schönheit einer Prinzessin schlummert in ihr. Iss einfach, wenn du hungrig bist, und überlass der Natur den Rest. Wenn du auf die Bedürfnisse deines Körpers hörst, kannst du nicht falsch liegen.«
Durch seine Freundlichkeit und sein Verständnis fühlte sich Arabelle nur noch schuldiger wegen der Lüge, die sie ihm gleich auftischen würde. Dennoch war sie fest entschlossen, es zu tun – sie musste sich den Weg für die Maßnahmen ebnen, die sie für ihr Wachstum als notwendig erachtete.
»Vater«, begann sie zögernd. »Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden möchte.«
»Alles, mein Herzblatt.«
»Also, ich habe in letzter Zeit beängstigende Träume. Immer wieder dieselben.«
Ihr Vater stellte sein Essen beiseite. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Träume sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Komm, erzähl mir alles.
Lass uns gemeinsam entscheiden, was das Beste wäre.«
* * *
Als Arabelle ihre Lüge beendet hatte, zwirbelte ihr Vater den Schnurrbart um einen dicken Finger.
»Das sind in der Tat beunruhigende Träume«, meinte er nachdenklich. »Immer derselbe Traum davon, angegriffen zu werden, ohne Leibwächter als Schutz. Es könnte ein gewöhnlicher Albtraum sein – Befürchtungen des Tages, die sich in die Nachtruhe einschleichen. Aber wenn dich immer derselbe Traum heimsucht ... ja, das deutet auf eine Vision hin. Und dass du dich darin mit einem Dolch selbst verteidigt hast ... das ist ausgesprochen interessant. Vielleicht ist das der Kern der Botschaft, die deine Vision zu vermitteln versucht. Eine Warnung und eine Anweisung. Um dir mitzuteilen, welche Fähigkeiten du besitzen solltest.«
Arabelle nickte stumm. Ihr Vater legte ihren frei erfundenen Traum genau so aus, wie sie es beabsichtigt hatte. Allerdings empfand sie dadurch nur noch stärkere Schuldgefühle wegen der Lüge.
Schließlich stand er auf. »Warte hier, Liebes. Es ist an der Zeit, dass du etwas bekommst.«
Er durchquerte das Zelt und kramte in einer Truhe. Es dauerte eine Weile, bis er fand, wonach er suchte, da es am Boden vergraben zu sein schien. Schließlich ließ er ein gebrummtes »Aha!« vernehmen.
Ihr Vater richtete sich mit zwei Gegenständen in den Händen auf: einer weichen Lederschärpe mit Schlaufen darin und einer kleinen Holzkiste. Er setzte sich wieder zu Arabelle.
»Meine liebe Tochter, das hat deiner Mutter gehört. Und jetzt gehört es dir.«
Er reichte Arabelle zuerst das Kästchen. Es war vollkommen glatt poliert und mit bunten Steinen besetzt. Im Inneren befanden sich zwei Dolche mit glänzenden schwarzen Klingen und mit grauem Leder umwickelten Griffen.
Ihr Vater deutete mit dem Kopf auf das Kästchen. »Die Griffe sind mit der Haut eines menschenfressenden Fischs gebunden. Sie wird nicht glitschig, auch nicht, wenn sie mit Blut verschmiert wird.«
»Von so einem Fisch habe ich noch nie gehört.«
»Solltest du auch nicht. Diese Dolche stammen aus einer Zeit vor den Dämonenkriegen, vor der Barriere. Wenn es diese Fische noch gibt, leben sie in den großen Meeren, zu denen wir keinen Zugang mehr haben.«
Arabelle fehlten die Worte dafür, wie wunderschön die Dolche waren. Behutsam berührte sie die Waffen. »Mutter hat sie getragen?«
Ihr Vater schmunzelte. »Tatsächlich hätte sie mich bei unserer ersten Begegnung auf dem Markt mit einem davon beinah aufgespießt. Deine Mutter hat immer voller Überraschungen gesteckt.«
»Zum Beispiel?« In letzter Zeit verspürte Arabelle zunehmend den Wunsch, Dinge über ihre Mutter zu erfahren, die sie bisher nicht wusste.
Ihr Vater zwirbelte erneut das Ende seines Schnurrbarts und schaute nachdenklich drein. »Nun ... habe ich dir je erzählt, dass deine Mutter nicht die erste Frau war, mit der ich mich verlobt habe?«
Arabelles Augen weiteten sich verblüfft. »Nein! Wie kann das sein?« Vater lehnte sich an einige Kissen zurück. »Meine Eltern hatten mich bereits bei meiner Geburt mit der Tochter eines sehr engen Freunds von ihnen verlobt. Ich bin mit ihr zusammen aufgewachsen, habe als Kind mit ihr gespielt. Dadurch haben wir uns sehr nahgestanden.
Und dann eines Tags hatte sie einen Reitunfall. Sie fiel vom Pferd und starb. Lange Zeit war ich in tiefer Trauer. Ich weiß noch, dass ich dachte, ich würde mich nie von dieser Traurigkeit erholen. Aber dann habe ich deine Mutter kennengelernt.«
»Und dabei hat sie versucht, dich zu erstechen.«
Er lachte. »Genau. Ich war auf dem Marktplatz am Rand von Cammoria spazieren, als ich die schönste junge Frau sah, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Da habe ich mich völlig vergessen, bin forsch auf sie zugegangen und habe sie nach ihrem Namen gefragt.« Er zeigte auf die Dolche auf Arabelles Schoß. »Sie hat die Waffe gegen mich gezückt.«
»Das erscheint mir ein bisschen überzogen.«
Ihr Vater drehte einen der dicken Ringe an seinen Fingern – jenen, den er als Hochzeitsgeschenk von Arabelles Mutter bekommen hatte. »Ich ... habe mich ihr vielleicht etwas herrischer als beabsichtigt genähert. Und hätte dadurch beinah einen Tumult ausgelöst. Ihr Vater war ein wohlhabender Händler, deshalb hatte sie etliche Leibwächter. Und als sie die Waffe gezogen hat, da folgten sie alle ihrem Beispiel. Natürlich hatte auch ich Leibwächter dabei. Und als sie all die auf mich gerichteten Klingen sahen, zückten sie die eigenen Waffen. Es war ein angespannter Moment. Aber ich hob die leeren Hände, und deine Mutter hat mich eine gefühlte Ewigkeit angestarrt. Dann hat sie mir das größte Geschenk unterbreitet, das ich je bekommen habe: ihr strahlendes Lächeln. Und danach habe ich für immer ihr gehört.«
»Also hast du dir ausgesucht, wen du geheiratet hast.«
Er kratzte sich am Kinn. »Ja und nein. Deine Mutter hat geschworen, sie hätte mich in ihren Träumen gesehen, noch bevor wir uns begegnet sind. Sie war überzeugt davon, dass uns vorherbestimmt war zu heiraten. Man könnte also eher sagen, dass deine Mutter mich gewählt hat. Oder das Schicksal. Aber es stimmt auch, dass ich meinen Vater inständig darum gebeten habe, sich mit ihren Eltern zu einigen.«
Arabelle lächelte. Unwillkürlich fragte sie sich, warum sie sich nicht schon längst ausführlicher über ihre Mutter erkundigt hatte. Ihre Eltern waren aufrichtig ineinander verliebt gewesen.
Ihr Vater zeigte erneut auf die Dolche auf Arabelles Schoß. »Jedenfalls wäre sie stolz, wenn künftig du ihre Dolche schwingst. Aber ... du musst mir etwas versprechen.«
»Natürlich, Vater.«
»Ich möchte, dass du mit Tabor übst. Ich vertraue darauf, dass er vorsichtig mit dir umgeht.«
Arabelle spürte, wie sich ein warmes Triumphgefühl in ihr ausbreitete. Sie stellte das Kästchen beiseite, beugte sich vor und umarmte ihren Vater. »Es wäre mir eine Ehre, mit Tabor zu üben und Mutters Dolche zu führen. Vater, ich danke dir so sehr. Und ich werde ganz vorsichtig sein.«
Er umarmte sie innig, bevor er sie auf Armeslänge vor sich hielt. »Das weiß ich. Aber ich verlange noch etwas: Halte geheim, dass er dich ausbildet. Wenn man unterschätzt wird, hat man einen klaren Vorteil.«
Sie lächelte. »Niemand erwartet eine Prinzessin mit Krallen, was?« Ihr Vater klatschte sich aufs Knie und lachte. »Haargenau. Jetzt geh und hol Tabor. Teilen wir ihm die Neuigkeit gemeinsam mit.«
* * *
Tabor zielte mit einem Tritt auf Arabelles Fußgelenk, und sie hechtete seinen Beinen entgegen und versuchte, ihn mit dem Finger zu berühren. Stattdessen plumpste sie nur auf die Stelle, die er gerade verlassen hatte.
Finster schaute sie zu ihrem Leibwächter und nun auch Ausbilder auf. Tabor war richtig alt – noch älter als ihr Vater, und der war beinah 40. Dennoch bewegte sich der Mann flink wie eine Schlange. Ganz gleich, was Arabelle versuchte, es gelang ihr einfach nicht, ihn zu erwischen.
Sie rappelte sich auf und pirschte sich an ihn an, als wäre er ihre Beute. Geduldig wartete sie darauf, dass er unaufmerksam oder müde wurde. Aber irgendwie ließ sich Tabor nie ablenken. Nicht mal für einen Lidschlag.
Sie wischte sich eine schweißnasse Strähne aus dem Gesicht, nahm geduckte Angriffshaltung ein, täuschte nach links an und stürmte nach rechts vor. Wieder landete sie im Dreck, und diesmal stupste Tabor ihr einen großen Finger an den Hinterkopf.
»Prinzessin, ich fürchte, Ihr seid gerade tödlich verletzt worden.« Vergnügt schmunzelte er. Der alte Mann hatte sichtlich Spaß.
Arabelle stand auf und wischte sich den Staub von der Kleidung. »Na schön, dann bin ich jetzt tot. Aber du sollst mir doch helfen, besser zu werden. Was mache ich falsch?«
»Ehrlich gesagt macht Ihr mehr richtig, als Ihr ahnt. Aber es wäre unvernünftig zu erwarten, Ihr könntet mich nach nur wenigen Wochen Arbeit überraschen oder schneller sein als ich. Ich befasse mich seit über 30 Jahren mit Nahkampf, und ohne überheblich klingen zu wollen, ich gehöre zu den Besten darin. Ihr werdet mich nicht besiegen, Prinzessin. Aber indem Ihr es versucht, lernt Ihr.«
Sie seufzte. Natürlich hatte er recht. »Was also mache ich richtig?«
Tabors Züge hellten sich auf. »Das ist die richtige Frage. Ihr lernt, Euren Gegner zu beobachten. Ihr achtet auf meine Füße statt auf meine Hände ...«
Ansatzlos stürzte sie sich mit dem ausgestreckten Finger voraus auf ihn. Aber er trat nur einen Schritt zurück und tippte ihr auf den Kopf.
Tabor grölte tatsächlich vor Lachen und musste sich Tränen der Belustigung aus den Augen wischen. Ja, der alte Mann hatte entschieden zu viel Spaß.
Arabelle klopfte sich den Staub ab und setzte das Gespräch fort, als wäre ihr letzter misslungener Angriff nie passiert. »Na ja, natürlich, Tabor. Man kann nicht wirklich auf jemanden einstechen, ohne die Füße zu bewegen oder die Haltung anzupassen. Du hast mich ein-, zweimal getäuscht, indem du mit dem Oberkörper gezuckt hast, während deine Füße in eine andere Richtung gewiesen haben. Das hat sich immer als Finte herausgestellt.«
Tabors belustigter Ausdruck wandelte sich in eine anerkennende Miene. »Wenn meine Soldaten nur halb so klug wären wie Ihr, Prinzessin. Ihr habt recht. Achtet immer auf die Füße eines Mannes. Sie lügen nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Wisst Ihr, als Euer Vater mir ursprünglich gesagt hat, dass ich Euch ausbilden soll, da habt Ihr mir leidgetan. Und jetzt?« Er setzte ein breites Grinsen auf. »Jetzt tut mir Euer künftiger Gemahl leid. Für eine Prinzessin seid Ihr äußerst klug und zäh.«
Unwillkürlich lächelte Arabelle und bemühte sich, über die Einschränkung für eine Prinzessin hinwegzusehen.
Tabor rieb sich das Kinn. »Tatsächlich ... hatte ich noch nie eine Soldatin in meinen Diensten. Aber würde ich Euch so üben sehen und wärt ihr nicht die Prinzessin, würde ich es nicht als unmöglich abtun.«
Das war ein handfestes Kompliment, und Arabelle strahlte übers ganze Gesicht.
Sie streckte die Arme und Beine. »Bereit für eine weitere Runde?« Tabor deutete mit beiden Zeigefingern auf sie und lächelte.
»Nehmt Euch in Acht, jetzt bin ich mit zwei Fingern bewaffnet.«
* * *
Arabelle verbrachte nunmehr die Tage mit Tabors Übungen, die Nächte mit jenen, die Castien ihr aufgegeben hatte. Die Arbeit mit dem Dolch erwies sich als hervorragend für die Entwicklung ihrer Beobachtungsgabe und Schnelligkeit, während ihr die Übungen von Castien dabei halfen, innere Stärke und Muskelbeherrschung aufzubauen. Eines war beidem gemeinsam: Arabelle fühlte sich danach immer körperlich erschöpft.
Aber sie vergaß nicht Castiens andere Lektionen und war fest entschlossen, mehr über die Verwendung von Pflanzen zu erfahren. Sie hatte das Buch, das er ihr gegeben hatte, bereits gelesen, vermutete aber, dass es noch mehr Wissen geben musste.
Vielleicht war es töricht, dass sie ausgerechnet damit begann, Maggie zu fragen, ob sie irgendwelche Pflanzen mit medizinischem Nutzen kannte, zum Beispiel solche, die jemandem gegen schlechte Träume helfen konnten. Natürlich fasste Maggie es so auf, dass Arabelle selbst schlecht träumte. Prompt sprachen ihre vollen Gluckeninstinkte an. Aber nachdem Arabelle sie mühsam davon überzeugt hatte, dass sie lediglich neugierig war, verwies Maggie sie an Frau Mizmer. Offensichtlich war die Köchin einst bei einer Kräuterkundlerin in der Lehre gewesen.
Als sich Arabelle den Kochständen von Frau Mizmer näherte, ließen ihr all die köstlichen Düfte, die ihr entgegenwehten, das Wasser im Mund zusammenlaufen. Gebratenes Fleisch und pikante Gewürze erfüllten diesen Teil des Händlerviertels.
Frau Mizmer, eine füllige Frau, die das Haar stets unter einem Kopftuch zusammengebunden trug, deckte ihre gehetzten Helfer gerade mit Anweisungen ein, als Arabelle eintraf.
»Beeilung, Alexandra! Das Gemüse für den Soldateneintopf muss geschnippelt werden, und diesmal gleichmäßig! Ich will nicht noch mal hören, dass ein Teil meines Gemüses nicht richtig gegart ist.«
»Ja, Mutter.« Die arme Alexandra schaute eingeschüchtert vom Gemüse auf und schenkte Arabelle ein mattes Lächeln.
Frau Mizmer behielt sich ihr Geschrei nicht allein für ihre Tochter vor. Während sie einen Topf umrührte, bekamen auch andere Helferinnen und Helfer eine Portion davon ab. »Hört auf zu trödeln! Ihr habt nur zwei Stunden, bis die Händler zum Mittagstisch kommen! Und Keena, achte diesmal auf die Würze. Nicht jeder mag das Brennen so sehr wie du.«
Erst da bemerkte die leitende Köchin Arabelle. Sie begrüßte sie mit einem besorgten Blick. »Prinzessin? Stimmt etwas nicht? Wurde Euer Frühstück nicht ordentlich zubereitet?« Prompt warf sie der armen Alexandra einen anklagenden Blick zu.
Arabelle schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen, Frau Mizmer. Deine Gerichte sind immer köstlich. Ich bin gekommen, um dich etwas anderes zu fragen. Ich habe gehört, dass du einmal bei einer Kräuterkundlerin in der Lehre warst.«
Frau Mizmer fächelte sich Luft zu. »Ach herrje, das war vor einer Ewigkeit, meine Liebe. Den Großteil meiner Kräuterkenntnisse wende ich mittlerweile zum Kochen an, nicht zum Heilen. Plagt Euch etwas, Prinzessin?«
Arabelle überlegte, wie sie es angehen sollte. Maggie hatte sie gelehrt, nicht einfach damit herauszuplatzen, was sie wollte. Niemand würde glauben, dass eine Prinzessin nur lernen wollte. Alle würden vermuten, dass irgendetwas nicht stimmte, und sie würden helfen wollen.
Aber als sie zu Alexandra hinüberschaute, die wie wild einen scheinbar endlosen Haufen Wurzelgemüse hackte, ereilte sie ein Einfall.
»Frau Mizmer, eigentlich habe ich gehofft, ich könnte von dir kochen lernen. Ich weiß, dass es normalerweise eine Mutter ihrer Tochter beibringt, aber ...«
Die Frau hob eine Hand. »Sag kein Wort mehr, Liebes.« Sie watschelte hinter dem Stand hervor und legte den Arm um die Schulter der Prinzessin. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwer es für Euch sein muss. Meine eigene Mutter ist vor fast zehn Jahren gestorben, und es kommt mir immer noch vor, als wäre es erst gestern gewesen. Es muss so hart für Euch gewesen sein, Eure Mutter nie gekannt und nie um Euch gehabt zu haben, um von ihr zu lernen, was Mütter ihren Töchtern beibringen. Seid versichert, dass ich Euch mit Freuden alles lehre, was Ihr wissen wollt.«
»Na ja, ich dachte mir, du könntest mir ein paar Grundlagen beibringen. Vielleicht zum Anfang etwas Einfaches, das ich meinem Vater servieren kann. Vielleicht ... Tee? Und irgendwann könnte ich mich zu Eintopf oder Brot hocharbeiten. Meinst du, ich könnte das alles lernen?«
Frau Mizmer lächelte. »Eine kluge junge Frau wie Ihr kann alles lernen, was sie sich vornimmt. Kommt.«
Sie schlurfte zu einem angrenzenden Zelt und führte Arabelle in dessen dunkle Nischen. Offenbar bewahrte sie dort viele ihrer Trockenwaren auf, denn von der Decke hing eine Vielzahl von Pflanzen zum Trocknen.
»Welche Teesorte mögt ihr am liebsten? Ich habe viele zur Auswahl, und bei jeder gibt es einen eigenen Trick, um ihr das volle Aroma zu entlocken.«
Arabelle betrachtete die verwirrende Vielfalt der Pflanzen. »Hast du irgendwelche Tees, die gegen schlimme Träume helfen?«
Die rundliche Dame bedachte Arabelle mit demselben Blick wie zuvor Maggie. »Meine Liebe, plagen euch Albträume?« Sie lachte gackernd. »Natürlich ist es so. Keine Sorge, dafür habe ich genau das Richtige.«
Sie zupfte einen Zweig mit trockenen Blättern von einer der Schnüre, die sich kreuz und quer durch das Zelt spannten. »Wenn Ihr eines dieser Blätter in dampfendes – nicht kochendes – Wasser zerbröselt und es schnell trinkt, kurz bevor Ihr die Augen schließt, wird Euch traumloser Schlaf beschert. Das Wasser muss gerade heiß genug sein, um zu dampfen, das ist wichtig. Ist es zu heiß oder zu kühl, nimmt die Wirkung des Blatts ab.«
Arabelle betrachtet eines der Blätter. Sie musste ein Lächeln unterdrücken, als sie feststellte, dass es ambossförmig und grün war, durchzogen von winzigen roten Adern.
Dasselbe Blatt, das Castien mir gezeigt hat.
»Danke, Frau Mizmer. Ich bin sicher, das hilft. Kann ich einen Vorrat davon haben?«
»Natürlich, meine Liebe. Aber benutzt immer nur ein Blatt für Euren Becher. Ich würde nicht wollen, dass Euch davon schlecht wird.« Sie bedeutete Arabelle, ihr zu folgen. »Also, mit Tee könnt Ihr sofort anfangen, aber Eintöpfe und Brot ... da müssen wir uns erst hinarbeiten. Ich denke, der nächste Schritt für Euch ist Gemüse. Ich bin sicher, Alexandra könnte Hilfe dabei gebrauchen.«
Arabelle rang sich ein Lächeln ab. »Natürlich. Gemüse zu hacken, klingt ... ganz wunderbar.«
* * *
Alexandra kicherte. »Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich mir meine Aufgaben mit Euch teilen würde, Prinzessin.«
Arabelle lachte, während sie hackte. »Ich kann nicht behaupten, dass ich es selbst kommen gesehen hätte.«
Sie blieben nicht die Einzigen. Nur wenig später kam Alexandras jüngere Schwester mit großen Augen ins Zelt gerannt. »Prinzessin! Mama ist vorbeigekommen und hat Pa erzählt, dass Ihr mit Alexandra Gemüse hackt! Ich wollte es nicht glauben, aber Ihr seid ja wirklich hier!«
Arabelle lächelte ihre ehemalige Mitverschwörerin an. »Hallo, Zoe. Ja, deine Mutter hilft mir, kochen zu lernen. Wie läuft es mit den Schafen?«
Zoe hopste auf einen Hocker und strampelte mit den nackten Füßen. »Eines der Mutterschafe hat heute ein reinweißes Lamm mit rosa Augen zur Welt gebracht!
Meine Freundin Henna sagt, das ist ein gutes Omen. Pa wiederum sagt, so etwas wie Omen gibt es nicht.«
Alexandra lächelte verschlagen. »Weißt du was? Vielleicht bringt Mama uns das Lämmchen mit den rosa Augen für den Eintopf.«
Zoe rümpfte die Nase. »Igitt, das ist eklig. Vielleicht verwechselt sie ja auch Hassan mit einem Schaf und hackt ihn für den Eintopf klein.« Alexandras Wangen röteten sich. »Lass Hassan aus dem Spiel!«
Zoe streckte ihrer Schwester die Zunge heraus, dann winkte sie Arabelle zu. »Bis dann, Prinzessin. Pa braucht meine Hilfe beim Scheren. Ich wollte nur sehen, ob Ihr wirklich hier seid und mit meiner Schwester Gemüse schneidet. Das ist komisch.« Mit einem Kopfschütteln hopste sie vom Hocker und wieselte so schnell davon, wie sie gekommen war.
Arabelle schmunzelte. Die Kleine nahm eindeutig kein Blatt vor den Mund.
Sie wandte sich an Alexandra. »Also ... Hassan? Wie läuft es in der Richtung?«
Alexandra streckte schmollend die Unterlippe vor. »Mama hält mich so auf Trab, dass ich kaum wegkomme, um überhaupt von ihm bemerkt zu werden. Aber einmal, als ich auf der Straße an ihm vorbeigegangen bin, hat er mich direkt angesehen. Da war er mit anderen Soldaten zusammen und konnte nicht gut anhalten, um mit mir zu reden. Aber ich weiß, dass er es getan hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre.«
Arabelle konnte sich nicht vorstellen, derart besessen von einem einzigen Blick eines jungen Mannes zu sein. Außer ... nun ja, außer es wäre der richtige junge Mann, dann hielt sie es für möglich.
Ihre Gedanken kreisten um den Jungen mit den funkelnden blauen Augen und dem strahlenden Lächeln aus ihrem Traum. Wieder versuchte ihre innere Sicht, ihr weiszumachen, er würde sich irgendwo unmittelbar über ihr befinden. Arabelle wünschte, sie könnte mit Seder sprechen und ihn fragen, warum das geschah.
»Ich habe das Gerücht gehört, dass Hassan jetzt einen neuen, schicken, geflochtenen Gürtel für seinen Stab trägt«, sagte Alexandra.
»Ach ja?«
Die junge Frau nickte, während sie weiter das Gemüse schnippelte. »Ja. Und es heißt, es hat ihn von einer jungen Frau bekommen.« Sie hackte wilder, und Arabelle begann, das Gemüse zu bemitleiden. »Meint Ihr, es stimmt? Kann es eigentlich gar nicht. Ich würde es doch merken, wenn Hassan Augen für jemand anderen als mich hätte.«
Arabelle verkniff sich ein Lächeln. Offenbar hatte Maggie ihr Unterfangen beendet.
Freut mich für sie.
Bevor sie sich überlegen musste, wie sie Alexandras Frage beantworten sollte, wurde sie von Frau Mizmer gerettet, die mit einem frisch geschorenen Schaf zum Stand zurückkam.
»Sieht aus, als wäre es an der Zeit für die Hauptzutat des Eintopfs«, meinte sie.
* * *
Am nächsten Tag nach dem Abendessen stand Arabelle der Sinn nach Weiterbildung anderer Art. Aber zuerst musste sie dafür Tabor abschütteln.
Sie teilte ihm mit, dass sie neue Kleidung kaufen wollte. Also begleitete er sie zu den Zelten mit Stoffen, wo es sowohl vorgefertigte Stücke als auch Rohstoffe zum Nähen jeder erdenklichen Kleidung gab.
»Du kannst draußen warten«, sagte Arabelle zu ihrem Leibwächter. »Ich brauche wahrscheinlich eine ganze Weile, um verschiedene Sachen anzuprobieren.«
Tabor ließ den Blick durch das riesige Zelt wandern, als suchte er nach Bedrohungen. Anwesend waren nur Verkäufer und Käufer, die um Preise feilschten.
Schließlich nickte er Arabelle zu und trat nach draußen, um zu warten.
Arabelle ging in einen mit Vorhängen abgetrennten Umkleidebereich und legte ihre Oberbekleidung ab. Darunter trug sie die dunkelgraue Aufmachung, die Maggie für sie geschneidert hatte. Sie holte das dazu passende Kopftuch aus ihrem Bündel und wickelte es sich so um den Kopf, dass nur noch ihre Augen hervorlugten. Der Schleier war bei ihrem Volk nicht ungewöhnlich. Vor allem ältere Frauen trugen ihn. Und sogar die Männer legten einen sehr ähnlichen Tagelmust an, wenn unterwegs viel Staub herrschte.
Schließlich zog sie ihre Pantoffeln aus, wickelte sie in ihr abgelegtes Gewand und legte alles ordentlich in der Ecke ab. Sie hatte festgestellt, dass die Pantoffeln im Gegensatz zu ihren nackten Füßen beim Gehen ein Geräusch verursachten, und an diesem Abend wollte sie so verstohlen wie möglich sein.
Als sie den Umkleidebereich verließ, würdigte niemand sie eines zweiten Blicks.
Als Nächstes stand der eigentliche Test an. Tabor.
Sie holte tief Luft, steuerte zielstrebig auf den Ausgang zu und setzte den Weg mit steten Schritten fort. Beim Verlassen des Zelts wagte sie nicht, einen Blick zu Tabor zu werfen, denn sie war überzeugt, dass er sie sonst irgendwie erkennen würde. Sie marschierte einfach weiter und bog mehrfach zwischen Zelten, Wagen und Ständen ab, bevor sie stehen blieb und sich umdrehte.
Sie hatte es geschafft. Niemand folgte ihr.
Arabelles Ziel an diesem Abend bestand darin, unscheinbar zu bleiben und zu beobachten. Die nächste halbe Stunde wollte sie ausloten, wie viel sie beobachten konnte, ohne bemerkt zu werden. Wie Castien es ihr beigebracht hatte, lief sie auf den Fußballen und übte, sich in den Schatten der Dämmerung fortzubewegen.
Sie folgte einigen Soldaten mit dem Auftrag, den Frieden in der Karawane zu bewahren. Solche Männer wurden dafür ausgebildet, wachsam zu sein, die Plätze zwischen den Zelten im Auge zu behalten und nach Ungewöhnlichem Ausschau zu halten. Aber Arabelle setzte ein, was der Elfenkrieger ihr beigebracht hatte, und nutzte die Schatten zu ihrem Vorteil. Am schwierigsten daran war, vollkommen regungslos zu verharren, wie sie feststellte. Jedes Mal, wenn sie es tat, fingen die Muskeln in ihren Beinen bereits nach kurzer Zeit zu schmerzen an.
Aber es funktionierte. Selbst wenn ein Soldat sie direkt ansah, während sie in ihrer dunklen Kleidung starr wie ein Fels in den Schatten stand, strich sein Blick über sie hinweg, ohne anzuhalten. Arabelle verspürte Erregung über ihren Erfolg. Als Prinzessin konnte sie nie unbemerkt irgendwohin. Unsichtbar zu sein, vermittelte ein bisher ungekanntes Gefühl von Freiheit.
Sie folgte immer noch den Soldaten, um herauszufinden, wie sie ihnen nahe kommen könnte, als ein junger rothaariger Gardist mit einer Ankündigung antrabte. »Kirag ist eingetroffen!«
Einer der anderen Soldaten antwortete in warnendem Ton. »Halt dich fern von ihm, Ephraim. Du willst nicht die Aufmerksamkeit von Azazels rechter Hand erregen. Der Mann ist beinah so tödlich wie der Zauberer selbst.«
Der junge Soldat antwortete so leise, dass Arabelle ihn kaum hören konnte. »Er ruft alle Soldaten Azazels zu einer Versammlung in der Nähe des Mittelplatzes.«
»Mögen sie alle in den kältesten Tiefen der Niederwelt erfrieren«, spie der andere hervor.
Als die Soldaten weiterzogen, beschloss Arabelle, ein weiteres Ziel zu bespitzeln: diesen Kirag. Sie hatte schon von dem Mann gehört – es hieß, er wäre ein Riese und hinterhältiger als eine Schlange –, aber sie hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen.
Die Prinzessin schlich sich in die abendlichen Schatten, die den Ortsplatz umgaben. Kein einziger Händler war zu sehen. Sogar jene, die sonst um diese Zeit noch arbeiteten, hatten offenbar entschieden, früher zu schließen. Dennoch war der Platz alles andere als leer. Zwei Dutzend von Azazels schwarz gewandeten Vollstreckern standen in ihrer Mitte vor einem unglaublich großen Mann – er überragte alle um ihn herum um fast zwei Köpfe. Aus seinem Unterkiefer ragten riesige Hauer, und das Gelb in seinen Augen verlieh ihm den Anschein von etwas ... Unmenschlichem.
Kirag.
»In der nächsten Woche«, sagte er, »entsende ich Duos in verschiedene Teile Trimorias, um die Suche fortzusetzen.«
»Was ist mit den Sklavenhändlern?«, fragte einer der Soldaten.
Kirag lachte herzhaft, bevor er einen kalten Blick auf den Mann heftete. »Wer sich von Sklavenhändlern gefangen nehmen lässt, ist der Uniform, die er trägst, ohnehin unwürdig. Wir haben weitere Maden in Ausbildung. Sie werden mit Freuden nicht nur die Duos ersetzen, die ich losschicke, sondern auch jeden, der mich enttäuscht.«
Der Soldat, der die Frage gestellt hatte, schien bei den Worten zu schrumpfen.
Kirag wollte fortfahren, doch plötzlich hielt er inne und schnupperte. »Ich rieche Blumen. Falls ich herausfinde, dass einer von euch den Geruch einer Frau an sich hat, fallen mir ein paar ganz besondere Missionen ein, durch die ihr den Gestank schnell loswerdet. Wer denkt, seine Aufgabe mit diesem Mief an sich erfüllen zu können, muss ein handfester Idiot sein.«
Rasch schlich Arabelle davon und eilte zurück zum Bekleidungszelt. An diesem Abend hatte sie zumindest eine wertvolle Lektion gelernt.
Ich muss Maggie sagen, dass sie aufhören soll, mir Düfte ins Badewasser zu geben.