Kirag saß an seinem Schreibtisch in dem Zelt, das die bei der Karawane postierten Todeskrallen für ihn eingerichtet hatten.
Die Visionen seiner Mutter hatten ihm eine grobe Richtung vorgegeben, in der er suchen konnte, aber er würde so viel Leute brauchen, wie er bekommen konnte. Glendale hatte er die Anweisung hinterlassen, Duos aus den Maden zusammenzustellen, sobald sie bereit dafür wären. Der Ausbildungsmeister war mit so vielen von Azazels sonderangefertigten Amuletten versorgt worden, wie er vielleicht brauchen würde.
Nur wenige Personen wussten, dass diese Amulette überhaupt existierten. Und selbst, wenn es bekannter wäre, es gab in Trimoria keinen Schmied, der sie ohne Azazels Hilfe herstellen konnte. Sie bestanden aus Damantit, und nur mit Azazels Kräften ließ sich das Metall schmelzen, um es in die Form des Amuletts zu gießen. Beim Schmieden behielt Damantit eine tiefschwarze Farbe bei. Wenn jedoch das Licht in schrägem Winkel darauf fiel, schimmerte es mit einem Hauch von Rot.
Durch dieses Merkmal wurde es fälschungssicher. Nicht, dass sich viele an Fälschungen versuchten. Aber es gab immer Narren auf der Welt, und gelegentlich wollte sich jemand als eine von Azazels Todeskrallen ausgeben. Mit etwas Mühe könnte ein solcher Narr die geschwärzte Rüstung der Todeskrallen mit Azazels rotem Sanduhrsymbol auf der Brust nachbilden. Aber nicht das Amulett.
Kirag lächelte, als er sich an einen solchen Narren erinnerte. Der Mann hatte sich kundig gemacht, sich eine detailgetreue Nachbildung der Rüstung beschafft und sogar von den Amuletten gewusst. Nicht gewusst hatte er, dass es sich bei den Amuletten um keine Schöpfungen aus schlichtem, bemaltem Eisen handelte.
Nachdem Kirag den Hochstapler gefasst hatte, ließ Azazel dessen gesamte Familie holen – Großeltern, Vettern, Kleinkinder, ausnahmslos alle. Insgesamt 45 Personen wurden an jenem Morgen vor Azazels Turm zusammengetrieben, und alle in Cammoria versammelten sich zum Zusehen. Azazel hielt eine schwarze, funkelnde Energiekugel in den Händen, als er die Strafe für die Nachahmung eines seiner Handlanger verkündete: den Tod.
Allerdings galt die Strafe nicht nur für den Täter selbst, sondern auch für seine gesamte Familie.
Azazel verbrannte sie allesamt. Nicht auf einmal. Er fing mit den Säuglingen an, gefolgt von den Kindern, den Alten und schließlich den Frauen. Den Hochstapler selbst hatte sich der Zauberer bis zuletzt aufgehoben.
Kirag ertappte sich immer noch gelegentlich dabei, dass er sich gern an jenen Morgen erinnerte.
Der Wachmann vor seinem Zelt kündigte einen Besucher an, und Kirag winkte ihn herein. Es handelte sich um Isaac, den Anführer der örtlichen Vollstrecker. Er trug die übliche schwarze Lederkluft einer Todeskralle. Kein Hochstapler.
Ein Mann mittleren Alters, glattrasiert und mit harten grauen Augen. Zwei Dolche aus Obsidian steckten in seinem Gürtel.
Gut. Dieser Soldat hat sich genug Vertrauen erarbeitet, um auf Missionen entsandt zu werden, von denen er erfolgreich zurückgekehrt ist.
Kirag nickte zur Begrüßung. »Sag mir, womit du dir diese Dolche verdient hast.«
Der Mann berührte den Griff einer der Waffen und ließ ein zahnlückiges Grinsen aufblitzen. »Die habe ich mir vor fast einem Jahrzehnt verdient, Herr. Fürst Azazel hatte erfahren, dass in einem abgelegenen Dorf Zwillingsknaben geboren wurden. Mir wurde aufgetragen, diese Jungen mit allen Mitteln zu vernichten. Ich war die zweite Todeskralle, die in das Dorf geschickt wurde.«
»Warum das? Was ist aus dem ersten Mann geworden?«
»Die Dorfbewohner haben ihn kommen gesehen und ihm aufgelauert. Er wurde mit zwei gebrochenen Beinen und ohne Kleidung und Waffen zurück ins Hauptlager in Cammoria gebracht.«
»Was ist bei seiner Rückkehr geschehen? Was hat dein Vorgesetzter getan?« Der Soldat grinste abfällig. »Diese Schande von einer Todeskralle wurde hingerichtet und den Aasgeiern überlassen. Mein Vorgesetzter hat mich losgeschickt, um die Aufgabe zu erledigen. Die Dorfbewohner haben mit einem Sturmangriff gerechnet und waren bereit zu kämpfen. Also habe ich mich in einer mondlosen Nacht ins Dorf geschlichen, ölgetränkte Lappen auf die Häuser geworfen, mich zurückgezogen und brennende Pfeile auf die Dächer abgefeuert.
Sobald sämtliche Bewohner damit beschäftigt waren, die Brände zu bekämpfen, hat sich niemand mehr um die zwei Säuglinge geschert, nur ihre Mutter, die sie beide im Arm hielt. Mein letzter Pfeil hat beide Kinder sauber durchschlagen.«
Skrupellos. Gut.
»Erzähl mir von der Zeremonie, bei der diese Dolche hergestellt wurden. Wer war anwesend?«
Plötzlich wirkte der Mann beunruhigt. »Man hat mir gesagt, ich darf ausschließlich mit dem Anführer der Vollstrecker oder Fürst Azazel selbst über die Dolchzeremonie sprechen. Aber da du inzwischen der Anführer der Vollstrecker bist, ist das wohl in Ordnung.
Fürst Azazel wollte meine Todeskrallendolche von mir. Er hat sie auf den Boden geworfen und mit einem flüchtigen Einsatz seiner unvorstellbaren Macht in Schlacke verwandelt. Der Anführer der Vollstrecker hat eine Form für einen Dolch geholt und ein funkelndes, mir unbekanntes Metall hineingelegt. Fürst Azazel hat ein Pulver über die Form verstreut und erneut seine sagenumwobene Macht gewirkt. Obwohl ich die Augen geschlossen hatte, war die Helligkeit blendend. So sind die Dolche entstanden, die ich jetzt trage.«
Kirag nickte. Wie er vermutet hatte, waren die Dolche echt. Einmal war er einer Todeskralle begegnet, die ihre Dolche einer anderen Todeskralle abgenommen hatte. Das Schicksal jenes Mannes war sogar noch erfreulicher gewesen als das des Hochstaplers.
»Isaac«, sagte er, »ich habe eine Aufgabe für jemanden, bei dem ich darauf vertrauen kann, dass er nicht versagt.«
Der Soldat straffte die Schultern. »Ich werde sie erfüllen oder beim Versuch sterben. Wie lautet die Aufgabe?«
Kirag grinste über die Beflissenheit des Mannes. »Du sollst Fremde finden, die nicht nach Trimoria gehören. Ich kann dir nicht sagen, wie sie aussehen, wo sie sind oder wie viele es sein könnten. Aber diese Karawane bietet eine gute Ausgangsbasis für die Suche. Azazel hat dafür gesorgt, dass die Imazighen durch den Großteil des Ödlands und die umliegenden Städte reisen. Während du diese Leute begleitest, musst du Erkundungsmissionen entsenden und nach jedem Ausschau halten, der fehl am Platz zu sein scheint. Wenn du so jemanden findest, fragst du ihn nach seiner Herkunft. Beschaff die Antworten mit allen erforderlichen Mitteln und halte alles fest, was du erfährst, damit ich es später durchgehen kann. Aber verursache keine Zwietracht in der Karawane. Wir können keinen Aufruhr gebrauchen. Bewahre Stillschweigen über deine Arbeit.«
Isaac nickte. »Ich werde tun, was ich kann.«
Kirag lehnte sich über den Schreibtisch und knurrte. »Ja, das wirst du.«
* * *
Zwei Wochen später stattete Kirag dem neuen Verhörzelt von Isaac einen ersten Besuch ab. Da es sich abgelegen eine Meile von der Karawane entfernt befand, war es nicht weithin bekannt. Was gut war, denn man konnte schon draußen den Kupfergeruch von Folter deutlich wahrnehmen, und drinnen ... drinnen noch viel schlimmer.
Isaac durchsuchte gerade die Taschen einiger blutgetränkter Kleidungsstücke.
»Haste du etwas erfahren?«
Der Soldat warf ein versautes Hemd ins Feuer und wischte sich mit einer blutverkrusteten Hand die verschwitzten Haare aus den Augen. »Tatsächlich haben wir einen Namen.« Der Soldat zeigte auf einen nackten Toten, der vor ihm auf dem Boden lag. »Ich musste ihn fast dreißig Minuten lang foltern, aber am Ende hat er geredet. In der Karawane hält sich ein Fremder auf, der erst kürzlich dazugestoßen ist, aber bereits als Soldat für den Scheich arbeitet. Niemand kennt seine Vorgeschichte. Man nennt ihn Hassan, obwohl es heißt, er wäre einer der Unzugehörigen.«
»Finde ihn und hol an Auskünften aus ihm heraus, so viel du kannst. Er könnte von Bedeutung oder auch ein Niemand sein. In dieser Karawanen wird jeder als Unzugehöriger bezeichnet, für den sich niemand verbürgen kann.«
»Ja, Herr.«
Als er sich zum Gehen wandte, schleiften zwei Todeskrallen einen bewusstlosen Angehörigen der Karawane ins Zelt. Isaac rieb sich die Hände, lächelte bedrohlich und machte sich an die Arbeit bei seinem neuesten Opfer.