Tag für Tag, Woche für Woche schuftete Grisham in den Steinminen. Denn als das betrachtete er sie – Steinminen. Weil sie ausschließlich Stein abbauten. Er überlebte, indem er sich auf die Arbeit konzentrierte, entschlossen hämmerte und die Geräusche, die Gerüche und die Schmerzen aus seinem Bewusstsein verbannte.
Wenn es Zeit zum Trinken war, dann trank er. Wenn es Zeit zum Essen war, dann aß er. Manchmal setzte sich Nicholas zu ihm. Andere Male ertappte er Grappa dabei, wie er verstohlen zu ihm herüberstarrte. Aber die meiste Zeit blieb er für sich – wie schon seit dem Tod seines Vaters.
Abgesehen von ein paar Stunden jede »Nacht« – in dieser Umgebung konnte er sich nicht sicher sein, wann Tag und wann Nacht herrschte, aber sein Magen verriet ihm, dass sie einmal am Tag gefüttert wurden –, beaufsichtigte sie der brutale Oger fast ständig. Gelegentlich jedoch verschwand er kurz für die eine oder andere Besorgung. Oder womöglich, um sich zu erleichtern.
In einem solchen Augenblick schritt Grappa letztlich gegen Grisham zur Tat, wie es der Ta’ah schon lange geahnt hatte. Der übellaunige junge Bursche hielt bei der Arbeit inne, ging auf Grisham zu, holte mit der Spitzhacke aus und hieb damit auf ihn ein.
Grisham sprang gerade noch rechtzeitig aus dem Weg. Das Metall traf funkenschlagend auf die Stelle, an der er noch einen Herzschlag zuvor gestanden hatte.
»Grappa!«, schrie Nicholas und ging hastig dazwischen. »Was bei den sieben Ebenen der Niederwelt soll das werden?«
Grappa grinste spöttisch. »Der Zwerg ist doch schon hirntot. Er scheint die Sklaverei zu genießen . Warum sollen wir ihn verteidigen, wenn er nur genau das tut, was von ihm verlangt wird?«
Nicholas stapfte bedrohlich auf den jungen Grobian zu. »Du lässt Grisham in Ruhe, oder ich sorge dafür, dass du nicht mehr in der Lage sein wirst, irgendetwas zu tun. Jeder von uns geht auf seine Weise mit unserem Los um. Mach es nicht noch schlimmer.«
Die knirschenden Schritte des Ogers hallten durch die Höhle, und alle, die der Zwischenfall abgelenkt hatte, wandten sich hastig wieder der Arbeit zu – auch Grappa. Die Strafe für Nachlässigkeit, und sei es nur für einen Augenblick, war grausam.
Der Oger tauchte wieder auf, diesmal in Begleitung, was äußerst selten vorkam. Zwei Männer in Sklavenhalterkluft folgten ihm und schleppten eine Holztruhe zum hinteren Ende der Höhle.
Der Oger wandte sich an die Sklaven und blaffte: »Zurückgehen. Bumm.«
Grisham wurde mit einem Ruck am Kragen nach hinten gerissen, als die anderen Sklaven von der Truhe wegrannten. Offenbar wussten sie entschieden besser als er, was gerade vor sich ging.
Die beiden Sklavenhändler schoben die Truhe in eine Nische in der Höhlenwand. Als sie nicht weiter hineinging, schlug einer der Sklavenhalter einen Feuerstein auf Metall, um ein Seil anzuzünden, das aus der geschwärzten Truhe verlief. Ein heller Funke erfasste das Seil und verteilte flackernde Schatten durch die Höhle. Dann rannten auch die Sklavenhändler von der Truhe weg.
Ein Wusch ertönte in der Stille, gefolgt von einer wuchtigen Druckwelle, die alle von den Beinen riss.
Grisham rappelte sich vom Boden auf. Seine Augen brannten, aber abgesehen davon und vom Klingeln in seinen Ohren war er unversehrt. Stumm sandte er ein schnelles Dankgebet nach oben. Manche hatten nicht so viel Glück gehabt. Als er sich umsah, stellte er fest, dass zwei Männer von umherspritzenden Trümmern erschlagen worden waren.
Während der Oger losging, um sich die Ergebnisse der Sprengung anzusehen, lösten die menschlichen Sklavenhalter die beiden toten Sklaven von der Hauptkette und schleppten ihre Überreste weg.
Grisham drehte sich Nicholas zu, dem ein dünnes Rinnsal Blut über die Stirn lief. »Was machen sie mit den Toten?«, flüsterte er.
Nicholas schauderte. »Sie werden an die Megafüßler verfüttert.«
Grisham wusste von diesen Bestien. Megafüßler waren gepanzerte Kreaturen, die sich so rasant durch Stein fraßen, wie eine Person durch eine Wasserlache laufen konnte. Zu Hause fürchteten die Ta’ah sie noch mehr als die Dämonen. Megafüßler suchten zwar nicht nach den Ta’ah, aber wenn sie ihnen zufällig über den Weg liefen, zögerten sie nicht zu kämpfen.
Der Oger stapfte zurück in die Mitte der Höhle. »Stein klopfen, oder ich klopfe Schädel.« Er sah Grisham unverwandt an und deutete auf die verstreuten Steine. »Mickriger Zwerg. Viel zu klopfen.«
Grisham hob seinen Hammer auf und kehrte mit den anderen zurück an die Arbeit. Dabei hörte er ein gedämpftes Japsen zu seiner Linken. Grappa. Der mürrische Bursche trug die Spitzhacke in der schwächeren Hand, während der andere Arm schlaff an seiner Seite baumelte. Als er die Arbeit wieder aufnahm, konnte er das Werkzeug kaum schwingen.
Er war bei der Sprengung verletzt worden. Was er irgendwie verheimlichen musste, sonst würde er mit den Toten bei den Megafüßlern enden.
Ich kann nicht mehr mit mir leben, wenn ich nicht wenigstens versuche, ihm zu helfen.
Grisham rückte näher zu Grappa und flüsterte: »Willst du tauschen? Ich denke, ich kann die Spitzhacke schwingen, und du könntest den Hammer mit einem Arm führen.«
Grappas Gesicht lief vor Wut hochrot an. »Weg von mir, Gewürm! Ich habe keine ...«
»Klopfen!«, brüllte der Oger quer durch die Höhle.
Grisham huschte zurück zu seinen mickrigen Steinen. Während er arbeitete, warf er immer wieder Blicke zu Grappa, der nach wie vor Mühe hatte, die Spitzhacke einhändig zu schwingen.
Leider bemerkte es auch der Oger.
Der Aufseher stapfte auf sie zu. »Gut schwingen!«, brüllte er Grappa ins Ohr. Seine Stimme ertönte so laut, dass sie sogar in Grishams Ohren schmerzte, obwohl er mehrere Schritte entfernt stand.
Der Oger beobachtete Grappa eine Weile, dann streckte er die Hand aus und hob den schlaffen Arm des jungen Burschen an.
Grappa schrie vor Schmerz.
Die Antwort des Ogers bestand darin, den Schädel des Jungen gegen die Wand zu rammen.
Einen Herzschlag lang senkte sich Stille wie ein Leichentuch über die Höhle. Dann stampfte der Oger mit dem Fuß auf und brüllte: »Klopfen!«
Sofort setzten alle die Arbeit fort und bemühten sich, nicht auf die menschlichen Sklavenhändler zu achten, als sie Grappa von der Kette lösten und ihn zu den Megafüßlern davonschleiften.
* * *
Nach Grappas Tod murrten die Sklaven immer häufiger über Flucht. Grisham wollte genauso sehr wie jeder andere entkommen, aber trotz seiner Wurzeln als Ta’ah und seiner Vertrautheit mit unterirdischen Gängen fühlte er sich in diesen Minen völlig verloren. Sie waren zu oft abgebogen und hatten zu viele Tunnel durchquert, die alle gleich aussahen. Selbst wenn es ihm und den anderen Sklaven gelänge, die Ketten loszuwerden, aus den Minen selbst könnten sie nie entkommen.
Nicholas stimmte ihm zu, abgesehen von einer Kleinigkeit. »Grisham, falls sich dir je die Gelegenheit zur Flucht bietet, dann zerbrich dir nicht den Kopf um andere. Nutz sie. Wenn es jemandem gelingen kann, dann einem ›mickrigen Zwerg‹.« Er lachte leise. So nannte er Grisham neuerdings, um sich über den Oger lustig zu machen. »Außerdem haben sich die meisten von uns damit abgefunden, hier unten zu sterben. Ich bin schon so lange hier, dass ich mich kaum an eine andere Lebensweise erinnere. Dieses Schicksal hast du nicht verdient. Versprich mir, dass du die Gelegenheit beim Schopf packst, wenn sich eine bietet.«
Grisham versprach es. »Welche Strafe steht darauf, wenn man bei einem Fluchtversuch erwischt wird?«
Nicholas zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich die Megafüßler. Das weiß man nie. Vielleicht legen sie einen auch einfach wieder an die Kette, und es würde keine Rolle spielen.«
Nur zwei Tage nach jenem Gespräch glaubte Grisham, die Gelegenheit zu erkennen, vielleicht eine Antwort auf seine Frage zu erhalten. Als der Unhold nach dem Abendessen ging, kam es am anderen Ende der Kette zu einem Tumult. Einer der Sklaven holte mit der Spitzhacke aus und ließ sie auf seine Kette niedersausen. Er brauchte ein paar Schläge, aber letztlich schlug er sie durch. Dann wieselte er davon und verschwand in den Gängen, hoffentlich in die Freiheit.
Nicholas seufzte und senkte den Kopf zum Gebet. »Möge das Glück deine Füße lenken.«
Grisham bettete den Kopf auf den Boden und hoffte ebenfalls, der Ausbrecher würde wohlbehalten entkommen. Als ihm die Augen zufielen, fragte er sich, ob er je den Mut aufbringen würde, es selbst zu versuchen.
* * *
Grisham wurde vom Gebrüll des Ogers geweckt. »Aufwachen! Bewegung!« Hastig befolgten Grisham und der Rest der Sklaven die Anweisungen ihres Aufsehers. Als er sie aus der Höhle trieb, fragte sich Grisham unwillkürlich nach dem Grund.
Hat der Oger den fehlenden Sklaven überhaupt bemerkt? Oder die zerbrochene Kette?
Konnte es so einfach sein?
Als sie sich in einer Reihe durch verschiedene Gänge bewegten, hörte Grisham ein Geschrei, als würde jemand gefoltert. Er hoffte, dass es sich bei der armen Seele nicht um den ausgebüxten Sklaven handelte. Vielleicht war es doch nicht so einfach.
Schließlich passierten sie einen gewaltigen Bogendurchgang, den zwei andere Oger bewachten. Sie betraten eine Höhle, die sich stark von allen anderen unterschied.
In der Mitte befand sich ein riesiges rechteckiges Gebäude, dreißig Fuß hoch, vielleicht sechzig Fuß breit und lang, errichtet aus weißem Stein. Zwergische Bauweise , dachte Grisham. Entlang der Vorderseite des Gebäudes stand eine Reihe von Säulen mit Runen, die Grisham nicht lesen konnte. Die zwei großen Türen zwischen den Säulen wiesen keine Griffe auf.
Den Rest der Höhle zierten verteilte Statuen: Zwerge, Elfen, Menschen, Oger, Riesen, sogar eine Schlange. Allerdings fiel Grisham auf, dass es sich ausschließlich um weibliche Darstellungen handelte – nur bei der Schlange konnte er sich nicht sicher sein.
Insgesamt vermittelte die Kaverne das Gefühl einer Andachtsstätte. Einer Art Tempel.
Der Oger, der sie beaufsichtigte, kniete nieder und befahl grollend: »Runter!« Grisham kniete sich wie alle anderen hin.
Aus dem weißen Gebäude ertönte ein Knistern, und kurz erschienen violette Flammen um die Ränder des Türrahmens. Die Türen öffneten sich. Gesänge drangen aus dem Gebäude, als eine Frau in der Öffnung erschien und anmutig herausschritt. Die Bewegungen der Frau erinnerten Grisham an eine Schlange.
Neben ihm murmelte Nicholas ein Gebet.
Grisham verblüffte, wie grell die Aura der Frau schillerte. Helligkeit entsprach Lebenskraft, und die Aura dieser Frau glich einem Leuchtfeuer, das jede andere Aura überstrahlte, die Grisham je gesehen hatte, ausgenommen die des vermaledeiten Zauberers Azazel.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die anderen Sklaven alle die Stirn auf den Boden drückten, während er die noch immer auf den Knien kauerte und die Frau anstarrte. Sie bemerkte es und lächelte.
Dann übertönte ihre melodiöse Stimme die Gesänge. »Erhebt euch. Lasst mich euch alle ansehen.«
Alle standen auf, und die Frau näherte sich. Ihr Haar war so dunkel, dass es violett zu schimmern schien, wo es das Fackellicht zurückwarf. Auch die blasse Haut leuchtete mit einem widernatürlichen Glanz. Dann bemerkte Grisham die spitzen Ohren und erkannte sie als das, was sie war:
Eine Priesterin Liliths.
Sein Vater hatte ihn bereits vor langer Zeit vor dem Einfluss gewarnt, den Anhängerinnen Liliths auf unvorsichtige Männer ausübten. Auch Seders Worte fielen ihm sehr deutlich wieder ein.
Meide Liliths Einfluss.
Ihre Seidengewänder schmiegten sich eng an die Kurven ihres Körpers – Kurven, die einigen der anderen Sklaven nicht entgingen. An der Taille trug sie einen Morgenstern, aus dessen Griff sich Schlangen wanden. Als sie sich der Reihe der Sklaven näherte, streckten die Schlangen die zuckenden Zungen heraus, als wollten sie beschnuppern, wem die Aufmerksamkeit der Priesterin galt.
Langsam schritt sie die Reihe ab und begutachtete jeden Sklaven, den sie passierte. Als sie einen halbwüchsigen Burschen erreichte, blieb sie stehen, lächelte und streichelte seine Wange.
Grisham blinzelte und rieb sich die Augen. Er war überzeugt davon, dass die Aura des Burschen matter geworden war, nachdem sie ihn berührt hatte, während ihre eigene noch etwas heller wurde. Hatte sie ... gerade etwas von seiner Lebenskraft gestohlen?
Die Priesterin schritt die Reihe weiter ab und nahm jeden Sklaven in Augenschein. Als sie Grisham erreichte, blieb sie zu seinem Entsetzen stehen und sah ihn unverwandt an.
Sie legte den Kopf schief und wirkte belustigt. »Ata Ta’ah?« Sie benutzte die alte Sprache. Bist du ein Ta’ah?
Grisham neigte den Kopf und antwortete in gleicher Weise. »Ken, ani Ta’ah.«
Ja, ich bin ein Ta’ah.
Kurz ließ sie Fänge aufblitzen, die sich hinter den Lippen versteckten, wie er wusste. Dann setzte sie den Weg die Reihe entlang fort.
Diese Frau hat mich auf Anhieb als Ta’ah erkannt. Wie konnte sie das?
Als sie die Begutachtung abgeschlossen hatte, kehrte sie zum Eingang des Gebäudes zurück und nickte jemandem hinter den Sklaven zu.
Ein Mensch wurde stöhnend und schreiend in die Kaverne geschleift. Als er an der Reihe der Sklaven vorbeigezogen wurde, sahen sie alle, um wen es sich handelte.
Um den Sklaven, der versucht hatte zu fliehen.
Er war blutüberströmt und übel zugerichtet. Am schlimmsten jedoch war, dass man ihn erwischt hatte. Es bestand kein Zweifel daran, dass man an ihm ein Exempel für die anderen statuieren würde.
Die beiden Sklavenhändler hielten den Gefangenen vor der Elfenpriesterin fest. Sie streichelte seine blutfleckige Wange. Diesmal war sich Grisham sicher: Die Aura des Mannes verdunkelte sich eindeutig, während die ihre heller wurde. Sie fuhr mit der Liebkosung fort, bis dem Mann der Mund aufklappte, seine Züge erschlafften und er die Priesterin ausdruckslos anstarrte.
Die Frau lehnte sie sich vor. Sie neigte den Kopf und bleckte ihre Fänge, schnupperte an seinem Hals, atmete tief ein. Dann biss sie zu und riss mit einem Ruck einen Brocken aus seinem entblößten Hals.
Grisham hatte Mühe, seine Übelkeit im Griff zu behalten. Er bekam etwas mit, was die anderen nicht wussten: dass der Mann bereits vor dem Biss tot war. Der Biss hatte ihn ebenso wenig getötet wie die Liebkosung. Es war jener tiefe Atemzug. Beim Schnuppern am Hals des Sklaven hatte die Priesterin eingesaugt, was noch von der Lebenskraft des Mannes übrig war.
Wenn sie das konnte, was konnte sie dann nicht?
* * *
Als der Tag zu Ende ging, lagen Nicholas und Grisham auf der Seite und flüsterten über die Ereignisse von zuvor.
Der angegraute Soldat murmelte: »Ich hatte noch nie solche Angst wie heute, als wir vor dieser Priesterin knien mussten. Ihre Macht ... und all diese weiblichen Statuen ... Ich vermute, wenn sie wollte, könnte sie jedem Mann einfach die Seele aussaugen.«
Grisham nickte. Er weiß gar nicht, wie wahr das ist.
»Hast du gehört, was mit Gregor passiert ist?«
»Dem Mann, der weggerannt ist?«
»Nein. Gregor ist der Junge, den die Priesterin berührt hat. Er hat seitdem kein Wort mehr gesprochen.«
»Was fehlt ihm?«
Nicholas zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie ihm die Seele gestohlen.«
Wieder kam Nicholas’ Vermutung der Wahrheit sehr nah.
»Ich war besorgt, wir könnten wegen dem Geflüchteten alle an die Megafüßler verfüttert werden«, gestand Grisham.
Nicholas gähnte. »Ich auch. Aber ich sag dir was: Ich glaube, ich würde mich lieber gefräßigen Megafüßlern stellen, als mich noch mal von dieser Frau ansehen zu lassen.«
Als sie sich schlafen legten, entschied Grisham, dass er dem zustimmte. Es gab schlimmere Schicksale als den Tod.
* * *
In jener Nacht träumte er von der Grube der Megafüßler.
Er schwebt über der Szene. Energie knistert in ihm. Unter ihm werfen Sklavenhändler die Überreste des Ausbrechers in die Grube. Grisham fliegt vorwärts, um in die Tiefe zu schauen, und zum ersten Mal in seinem Leben sieht er mit eigenen Augen einen echten Megafüßler.
Der Anblick ist furchterregend.
Sie ähneln unvorstellbar großen Tausendfüßlern, aber mit grünlichen, ineinandergreifenden Knochenpanzern, sechs schwarzen Augen und gewaltigen Mundwerkzeugen. Gegen seinen Willen sinkt Grisham tiefer, näher und näher zu den Bestien, bis er jede Einzelheit erkennen kann. Wie sie aussehen. Wie sie klingen. Wie sie riechen.
Mittlerweile befindet er sich praktisch auf ihnen. Dann spürt er einen stechenden Schmerz im Hals und will schreien, kann es aber nicht ...
Als Grisham die Stimme wiederfand, erwachte er abrupt und erschrocken.
Er schrie.
Der stechende Schmerz aus seinem Traum lief ihm den Rücken hinunter, aber als er sich streckte und noch seine Benommenheit abschüttelte, spürte er ein linderndes Knacken und atmete erleichtert durch.
Als er sich umsah, stellte er entsetzt fest, dass die anderen Sklaven so weit von ihm zurückgewichen war, wie es die Ketten erlaubten, und ihn mit großen Augen anstarrten. Sie fürchteten sich.
Vor mir?
Als er aufstand, erkannte er verblüfft japsend, dass er keine Kette mitschleppte. Er blickte zu Boden und entdeckte seinen Metallkragen zu seinen Füßen – in der Mitte zerbrochen, noch mit der Kette daran. Auch mit seiner Kleidung war etwas passiert. Die Nähte des Hemdes waren geweitet, als wären sie beinah geplatzt, die Hose hing zerrissen an ihm.
Was war geschehen? Wer hatte den Kragen zerbrochen? Und warum? Wovor hatten alle solche Angst? Er hatte doch nur geschlafen und von den Megafüßlern geträumt ...
Sein Blick suchte Nicholas. Er stand näher als die anderen, und sein Gesichtsausdruck wirkte weniger ängstlich, eher besorgt.
»Nicholas?«, sagte er. »Was geht hier vor? Wie ...« Er deutete nach unten auf den zerbrochenen Kragen.
Nicholas runzelte die Stirn. »Das weißt du nicht?«
»Was weiß ich nicht? Bitte sag es mir.«
Nicholas trat vor und berührte Grisham an der Schulter. »Grisham, ich schwöre beim Leben meiner armen Kinder, dass ich dir die Wahrheit sage. Ich habe geschlafen und wurde von einem seltsamen Geräusch geweckt. Als ich zu deinem Platz an der Kette hinübergeschaut habe, sah ich statt dir einen jungen Megafüßler, der schnatternde Geräusche von sich gab. Vor Schreck habe ich gebrüllt und die anderen geweckt. Wir haben alle beobachtet, wie der Megafüßler den Metallkragen um seinen Hals mühelos entzwei gebissen hat. Dann fing er an, sich ... aufzulösen, und du warst wieder da.«
Grisham starrte ihn fassungslos an. Ich habe von einem Megafüßler geträumt, und dann ... Er fühlte sich tatsächlich anders. Als ob Eis durch seine Adern flösse. Und er fühlte ein Knistern in sich, als ... als könnte er bersten. Er schloss die Lider und erinnerte sich an Seders Worte.
Ich habe Kräfte freigesetzt, die tief in dir verborgen waren.
Grisham öffnete die Augen wieder und sah seinen Freund an, der sich offensichtlich um ihn sorgte. »Nicholas, ich werde fliehen.«
»Ja.« Nicholas lächelte. »Ich weiß. Und es wird dir gelingen, mein junger Freund.«
»Und ich möchte, dass du mit mir kommst«, fügte Grisham hinzu.
Der angegraute Mann schüttelte den Kopf. »Danke, Grisham, aber nein. Ich würde dich nur aufhalten. Ein Zwerg kann vielleicht einen Weg durch diese Tunnel finden. Ein alter Mann wie ich ...« Er schüttelte den Kopf. »Und ich habe keine Lust, noch einmal dieser Priesterin zu begegnen. Das ist deine Gelegenheit. Du hast mir versprochen, dass du sie ergreifen würdest.«
Grisham lächelte breit. »Was, wenn ich dir versichere, dass ich den Weg nach draußen kenne?«
Nicholas’ Augen wurden groß. Kurz kniff er sie zusammen, dann nickte er langsam.
Grisham sah die anderen an. »Was ist mit dem Rest von euch? Wenn ich euch alle von den Ketten befreien kann, geht ihr dann mit mir?«
Fast alle Sklaven nickten.
Grisham holte tief Luft. »Na schön. Ich schaffe uns alle hier raus. Aber zuerst brauche ich ein Versprechen. Was ihr mich tun gesehen habt und mich tun sehen werdet ... muss ein Geheimnis zwischen uns bleiben.«
Nicholas wandte sich an die anderen Sklaven. »Sind wir uns alle einig?«
Einer der Männer lachte. »Natürlich. Wer würde schon glauben, was wir gerade bezeugt haben? Ich glaube es ja selbst kaum, und ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
Auch die anderen Sklaven nickten zustimmend.
»Gut«, sagte Grisham. »Zuerst zerbreche ich die Hauptkette, dann könnt ihr euch alle davon lösen. Zwar habt ihr dann noch die Kragen um den Hals, aber ihr werdet frei sein.«
Damit schloss Grisham die Augen und tastete nach den neuen, in ihm freigesetzten Kräften. Er rief sich das Bild der Megafüßler in der Grube ins Gedächtnis, erinnerte sich an jede Einzelheit, und dabei durchströmte ihn ein seltsames Gefühl.
Sein Brustkorb knackte. Schmerz wütete durch seinen Körper. Er verwandelte sich. Er öffnete die Lider und wurde von einem Anflug von Übelkeit erfasst. Sechs Bilder stürmten gleichzeitig auf ihn ein. Er musste sich anstrengen, um seine sechs Augen so aufeinander abzustimmen, damit sie sich auf denselben Punkt richteten.
Sämtliche Sklaven waren wieder davongehuscht. Aber die Hauptkette lag vor ihnen.
Grisham kroch auf ungelenken Beinen darauf zu. Die Hauptkette mochte dick sein, dicker als ein muskulöser menschlicher Unterarm, dennoch war sie den Kiefern eines Megafüßlers nicht gewachsen. Grisham biss sie sauber in zwei Teile.
»Wir sind frei«, stieß einer der Menschen hervor. Die Stimme klang vertraut, doch Grisham konnte sich nicht an den Namen des Mannes erinnern. »Zeit, nach oben zu gehen, Grisham.«
Grisham hatte Mühe, klar zu denken, aber das Stichwort half.
Zaghaft nahm er einen Bissen aus der nächstbesten Wand. Das Gestein gab mühelos nach. Er biss erneut zu. Seine Kiefer waren so kraftvoll, dass es fast keiner Anstrengung bedurfte. Bald schuf er einen Tunnel, so schnell ihn die unbeholfenen Füße tragen konnten.
Dabei achtete er darauf, sich nach oben zu arbeiten. Nach und nach fühlte er sich in diesem Körper mehr zu Hause. Seine unzähligen Füße bewegten sich mit festem Halt den Hang hinauf, den er schuf. Kiesel kullerten hinter ihm den neu entstandenen Gang hinunter. Er konnte sich nicht erinnern, warum er nach oben steuerte, aber er wusste noch, dass es wichtig war. Beißen. Tunnel. Nach oben bewegen. Nur das zählte vorerst.
Er hörte, dass sich hinter ihm irgendwelche Geschöpfe bewegten und sich durch das Geröll kämpften, das er zurückließ. Aber er schenkte ihnen keine Beachtung. Normalerweise hätte er sie angegriffen, doch irgendwie wusste er, dass es keinen Grund dafür gab. Und dass es wichtiger war, den nach oben führenden Tunnel zu erschaffen.
Der Geschmack des Gesteins änderte sich nach einer Weile. Er war vom Muttergestein, das er liebte, zum Obergestein gelangt, das er als bitter und nass empfand. Und wenig später biss er nur noch in ekliges, wurmverseuchtes Erdreich. Davon musste er beinah würgen. Und dann brach er durch die Oberfläche und wurde vom grellsten Licht geblendet, das seine Augen je gesehen hatten.