Nicht zum ersten Mal wünschte Kirag, die Visionen seiner Mutter wären genauer gewesen. Sie hatte gesagt, die Elfen würden Ärger bereiten, aber nicht, ob die Fremden selbst Elfen wären, sich unter den Elfen versteckten, von den Elfen unterstützt wurden oder dergleichen. Und allein, um die Elfen zu finden, mussten viele Morgen Waldland durchforstet werden. Unabhängig davon würde er sie finden. Und dann würde er sie verhören.
Er hatte ein Duo von Todeskrallen ausgewählt, das ihn bei der Mission begleitete: Vaughn und Zandri. Beides gute Soldaten, die ihre Arbeit erledigten, ohne viele Fragen zu stellen. Zusammen wanderten sie durch die Wälder, marschierten nachts und ruhten sich tagsüber aus. Irgendwann jedoch obsiegte ihre Neugier. Am dritten Tag begannen die unvermeidlichen Fragen.
»Herr«, sagte Vaughn, »wissen wir auch wirklich, wonach wir eigentlich suchen? Meine Mama hat mir immer Geschichten über Elfen erzählt. Aber niemand, den ich je gekannt habe, hat je auch nur die Ohrenspitzen von einem gesehen. Woher wissen wir, ob sie so aussehen, wie sie in den Märchen beschrieben werden?«
Kirag wusste, worauf der Soldat in Wirklichkeit hinauswollte. Er bezweifelte, dass es überhaupt Elfen gab.
Kirag grinste. »Ich kann dir versichern, dass es Elfen wirklich gibt und sie genauso aussehen, wie die Märchen sie beschreiben.« Er erinnerte sich an das schimmernde Bild der Elfenfrau, die er im Thronsaal seines Meisters erscheinen gesehen hatte. Nun jedoch wollte er einem dieser Geschöpfe von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen – und er wollte herausfinden, ob die Geschichten über ihr übernatürliches Kampfgeschick stimmten.
»Warum verstecken sie sich?«, nutzte Zandri die Gelegenheit für eine Frage an ihren Anführer. »Warum zeigen sie sich nicht wie normale Leute?«
Kirag wurde ungeduldig. »Es heißt, dass die Elfen in der Zeit vor der großen Barriere unter den Menschen gelebt haben. Aber Azazel hat mir persönlich erzählt, dass die Elfen etwas mit der Ankunft der Dämonen zu tun hatten.«
»Dann ist es kein Wunder, dass sie sich jetzt verstecken«, meinte Zandri mit knurrendem Unterton.
Kirag hob warnend einen Finger. »Wenn sich jemand versteckt, heißt das noch lange nicht, dass er keine Krallen hat. Und wir sind in ihrem Hoheitsgebiet. Bleibt also wachsam.«
Er legte sich auf den Boden. »Genug der Fragen. Wir brechen vier Stunden nach Mittag auf und setzen den Weg bis zum Morgengrauen fort. Wir haben einen langen Marsch vor uns.«
Die Todesklauen bereiteten ihre Tarnung vor, und Kirag schloss die Augen. Als er einschlief, fragte er sich, ob sich das Blut von Elfen als rot erweisen würde.
* * *
Kirag kniete am Rande eines Felshangs über einem Waldstück, das angeblich Geister und andere sagenumwobene Geschöpfe beherbergte. Diese Gerüchte kursierten schon lange. Aber Azazel hatte ihm bestätigt, dass die Elfen vor Jahrhunderten ebendiesen Wald zu ihrer Heimat erkoren hatten.
Er atmete tief ein und nahm einen Geruch wahr, den er nicht einzuordnen vermochte. Es handelte sich um ein Lebewesen, aber weder um das Kupferaroma von Menschen oder Tieren noch um den Schwefelmief, den Azazel verströmte. Eher wie Moschus.
Konnte das der Geruch von Elfen sein?
Selbst wenn, der Wald unter ihm erstreckte sich meilenweit. Ihn zu durchsuchen, würde Tage dauern, selbst wenn sie sich aufteilten. Und er war sich nicht sicher, ob er seinen Männern ausreichend vertraute, um ...
Eine winzige Rauchfahne kräuselte sich tief aus dem Wald empor. Kirag lächelte und winkte seine Männer zu sich.
»Könnte das die Lage der Elfenstadt sein?«, fragte Vaughn, nachdem sein Anführer ihn auf die dünne Rauchfahne hingewiesen hatte.
»Wahrscheinlich. Ich spüre die Gegenwart von etwas Übernatürlichem in diesen Wäldern.«
»Aber wie sollen wir die Stadt erreichen?«, wollte Zandri wissen. »Es heißt, die Elfen kennen sich in den Wäldern aus und tarnen ihre Spuren so natürlich, dass ein Mensch stundenlang suchen könnte und sich doch nur im Kreis bewegen würde.«
Kirag betrachtete eingehend die Bäume. Der Mann hatte recht: Die Pfade der Elfen würden gut versteckt sein. Aber von dieser erhöhten Lage konnte er Vertiefungen erkennen, Hinweise auf Spuren, die er am Boden nie gefunden hätte. Ob diese Pfade durch Wild oder durch Elfen entstanden waren, spielte keine Rolle – es handelte sich um Wege, denen man folgen konnte. Zusammen bildeten sie einen regelrechten Irrgarten. Und doch konnte man durch jedes Labyrinth einen Weg finden, vor allem aus der Vogelperspektive.
Er wandte sich an sein Duo. »Ich lenke eure Bewegungen von hier aus. Geht den Weg zurück und außen herum zum Waldrand. Behaltet mich im Blick. Ich leite euch mit Handzeichen. Falls ihr mich aus den Augen verliert, klettert ihr auf einen Baum. Geht nicht weit ohne meine Anweisungen, sonst verirrt ihr euch hoffnungslos.«
»Wie willst du uns folgen, Herr?«, fragte Vaughn.
Kirag grinste höhnisch über die Dummheit des Mannes. Hätte er nicht beide Todeskrallen gebraucht, er hätte ihn vielleicht auf der Stelle getötet. »Ihr kennzeichnet den Pfad unterwegs, du Narr! Jetzt los!«
Das Duo hastete den steilen Pfad hinunter, um Kirags Zorn so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.
Bald hatten sie den Abgrund umrundet, tauchten unten auf und schauten zu Kirag hoch. Er zeigte ihnen die Richtung an, in die sie gehen mussten.
Die Männer zu führen, erwies sich als mühselig und stellte Kirags Geduld auf eine harte Probe – vor allem, wenn sie von den Wegen abkamen, auf die er sie lenkte, was häufig vorkam. Doch mit der Zeit näherten sie sich dem Ziel, das er sich ausgesucht hatte: eine Lichtung in der Nähe der Stelle, an der die Rauchfahne aufgestiegen war.
Seine Männer waren zwischen den Bäumen verschwunden. Kirag wartete gerade darauf, dass sie wieder auftauchten, als ein Pfeil an seinem Ohr vorbeizischte. Schnell warf er sich auf den Boden und ließ den Blick suchend über die Umgebung wandern, entdeckte jedoch niemanden. Er zog Schwert und Dolch und schnüffelte. Tatsächlich: Der Moschusgeruch hatte sich verstärkt.
Dann ereigneten sich zwei Dinge gleichzeitig. Vom Aufenthaltsort seines Duos erhob sich ein Tumult, und zwei menschengroße, gelbhaarige Männer mit spitzen Ohren tauchten aus den Bäumen um Kirag herum auf. Kirag kümmerte nicht, was aus seinen Leuten wurde. Er hatte die Elfen gefunden, nach denen er gesucht hatte.
Beide hielten einen Bogen auf ihn gerichtet und starrten ihn mit versteinerten Mienen an. Aber sie hatten sich vom steilen Pfad aus genähert, und da Kirag auf dem Boden kauerte, mussten sie nah heran, um auf ihn zu zielen. Was Kirag eine Gelegenheit eröffnete.
»Lass die Waffen fallen, Halbblut«, forderte ihn einer der Neuankömmlinge auf. Kirags Sicht färbte sich rot.
Wie viele habe ich schon dafür getötet, dass sie mich so genannt haben?
Aber er durfte nicht die Beherrschung verlieren. Er musste diese braunhäutigen Kreaturen befragen.
Also stand er auf und trat einen Schritt vor.
Einer der Elfen feuerte seinen Pfeil ab. Der Schaft schlug zwischen Kirags Beinen in den Boden ein. »Letzte Warnung.«
Kirag bewegte sich einen weiteren Schritt vorwärts. »Lasst ihr die Waffen fallen, Feiglinge der Wälder.«
Beide Elfen feuerten ihre Pfeile ab, aber Kirag hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Ein Pfeil traf ihn in die linke Schulter, bremste jedoch nicht seinen Angriff, und er pflügte mit voller Wucht in den vordersten Angreifer. Die Knochen des Elfen knirschten unter seinem Gewicht.
Der andere Elf wechselte zu einem funkelnden Schwert, das er auf Kirags Rücken schwang.
Feigling!
Kirag blockte den elenden Angriff mit dem Dolch ab und schwang das eigene Schwert gegen die Knie des Elfen. Er wollte ihn außer Gefecht setzen, nicht töten.
Der Elf sprang flink aus dem Weg und bewegte sich rückwärts, um etwas Abstand zu gewinnen.
Kirag knurrte und rannte auf die hinterhältige Kreatur zu. Der Schmerz in seiner linken Schulter erinnerte ihn daran, dass er wesentlich lieber mit Schwertern kämpfte, als Pfeilen ausweichen zu müssen.
Der Elf zog ein zweites Schwert und schwenkte beide so schnell, dass sie verschwammen. Eine der Klingen schoss vorwärts und hätte Kirag beinah durchbohrt, doch er wich rechtzeitig aus und lauerte auf eine Gelegenheit.
Der Elf griff erneut an und zielte auf Kirags verletzte Schulter. Wieder wich Kirag aus, und diesmal konterte er mit dem Dolch. Blutspritzer erschienen im verschwommenen Gewirr der funkelnden Schwerter.
Also bluten sie doch rot!
Abermals beobachtete Kirag eingehend die Bewegungen des Elfen. So unmöglich schnell sie sein mochten, wenn er sich konzentrierte, gelang es ihm, beide Schwerter zu verfolgen. Leider entdeckte er keine Lücken. Der Elf beherrschte den Umgang mit den Klingen.
Seine Ungeduld und seine Kampflust überwältigten seine Vernunft. Wieder wurde seine Sicht vor lauter Wut von Rot beherrscht. Er stürmte geradewegs auf den Elfen zu und schwang das eigene Schwert mit aller Kraft.
Das metallische Klirren beim Zusammenprall erschütterte Kirags Arme und ließ seine Schwerthand taub werden, aber er hörte das unverwechselbare Knacken einer zerbrechenden Klinge – und es war nicht seine.
Ein Schlachtruf entrang sich seiner Kehle.
Erst dann erkannte er seinen Fehler. Sein Angriff war zu ungestüm gewesen. Sein Schwert hatte nicht nur die Klinge des Gegners zertrümmert, sondern sich auch tief in dessen Brust gebohrt. Roter Schaum blubberte über die Lippen des Elfen, und das Licht in den bernsteinfarbenen Augen schwand.
Diesen Krieger würde er nicht verhören können.
Mit wachsendem Zorn kehrte Kirag zu dem anderen Elfen zurück. Er kniete sich hin und tastete nach einem Puls, fand jedoch keinen.
Er war unbesonnen gewesen. Nein, mehr als unbesonnen. Ein Narr.
Wütend über den eigenen Fehler kehrte er zum Felshang zurück, um nachzusehen, was aus seinem Duo geworden war.
Mittlerweile befanden sich beide auf der Lichtung, der sie sich genähert hatten. Und doch hatten auch sie versagt. Zandri lag tot in einer Lache seines Bluts, Vaughn kauerte auf den Knien. Ein Elf stand hinter ihm und hielt ein Schwert an den ungeschützten Hals der Todeskralle.
Der Elf schaute zu Kirag auf.
»Kirag, du dringst in Gefilde ein, in die du nicht gehörst. Verlass diesen Wald, und ich lasse diesen Mann gehen.«
Wie kann diese Kreatur meinen Namen kennen?
Kirags Schulter brannte, als würde sie langsam von Säure zerfressen. Allerdings fand er das weniger beunruhigend als die Galle, die ihm angewidert in den Hals stieg. Seine Männer hatten sich von einem einzigen Feind überwältigen lassen.
Er brüllte dem Elfen zu. »Wer bist du, dass du dir anmaßt, das von mir zu verlangen?«
»Castien Galonos, Schwertmeister meines Volks und Hüter dieser Wälder.«
»Wir suchen Fremde in Trimoria«, rief Kirag zurück. »Ich will, dass du alle Fremden, denen du begegnet bist, an mich übergibst. Und wenn du in Zukunft auf welche stößt, lieferst du sie an die schwarz gekleideten Truppen in Aubgherle aus.«
Castien spuckte auf den Boden. »Azazel hat in diesen Wäldern keine Befehlsgewalt. Unser Volk wird niemals jemanden in seine Gewalt übergeben.«
Kirag trat vom Abhang zurück und nahm den Bogen und den Köcher mit Pfeilen des nächstbesten Elfen an sich. Er legte einen Pfeil an, spannte die Sehne und näherte sich langsam dem Rand des Abgrunds. »Castien Galonos, du sollst wissen, dass Azazel, Fürst von Trimoria, Anspruch auf diese Wälder erhebt. Ihr seid nur feige Eindringlinge, die sich darin verstecken.«
Damit ließ er den Pfeil los. Er hatte gut gezielt.
Der Schaft schlug in Vaughns linkes Auge ein, und der Meuchler der Todeskrallen sackte tot zu Boden.
Der Ausdruck des Zorns in Castiens Zügen brachte Kirag zum Lächeln.
Da er Blut sehen wollte, legte er einen weiteren Pfeil an. Diesmal schoss er ihn auf Castien ab.
Wieder hatte er gut gezielt.
Trotzdem erreichte der Schaft das Ziel nicht.
Das Schwert des Elfen bewegte sich zu schnell, um es mitzuverfolgen. Er zerschnitt den Pfeil mitten in der Luft nicht einmal, sondern zweimal, und die Teile fielen harmlos zu Boden.
Castien warf einen dunklen Blick nach oben. »Geh, Kirag ... und komm nicht zurück.«
Trotz des Feuers in seiner Schulter schleifte Kirag die beiden toten Elfen zum Rand des Abgrunds und stieß sie in die Tiefe.
»Eine kleine Erinnerung an mich.«