Arabelles Visionen verliehen ihr neue Frische – vor allem jene mit der Verlobungszeremonie. Als die Wochen vergingen, wurde sie zunehmend überzeugter, dass es sich um eine Begebenheit aus der Zukunft handelte.
Und das veränderte für sie alles.
Ja, es war ihr bestimmt zu leiden. Das Gift würde ihren Körper nie verlassen. Trotzdem würde sie Liebe finden – jemanden, der ihr vielleicht sogar das Gefühl vermitteln würde, normal zu sein. Und das war alles, worauf sie hoffen konnte.
In der Zwischenzeit arbeitete sie härter denn je zuvor. Als Prinzessin – eine Prinzessin mit einem Leben voller Vorrechte – war sie es ihrem Volk schuldig, so stark, so geschickt und so kenntnisreich wie möglich zu werden. Sie saugte nicht nur alles auf, was Tabor ihr beibrachte, sondern übte auch weiterhin Castiens Bewegungsabläufe und trieb ihr Studium verschiedener Pflanzen und deren Verwendung voran.
Maggie hatte eingewilligt, sich als Versuchskaninchen für Arabelles Waffen in Pulverform zur Verfügung zu stellen. Die Arme. Als sie sich dafür freiwillig meldete, hatte sie keine Ahnung, wie oft Arabelle an ihr üben würde. Natürlich verabreichte Arabelle ihr keine der Mixturen selbst, sondern benutzte ihre Zofe, um auszuprobieren, wie gut ihr Einsatzverfahren funktionierte. Dazu füllte sie ihre Strohhalme mit fein gemahlenen Zuckerkristallen – die harmlos waren – und ließ sich keine Gelegenheit entgehen, sich mit den mit Bienenwachs versiegelten Strohhalmen an Maggie anzupirschen. Wenn Maggie den Zucker schmeckte, wusste Arabelle, dass die Verabreichung funktioniert hatte.
Was zu Maggies Leidwesen häufig zutraf.
Außerdem hatte Arabelle viel Zeit in Frau Mizmers Vorratszelt verbracht und ihr Arsenal an Waffen in Pulverform weitgehend vervollständigt. Mittlerweile hatte die alte Köchin den Versuch aufgegeben, herauszufinden, was die Prinzessin bei ihren Vorräten wollte. Sie ließ ihr einfach freie Hand.
Aber es gab noch einen letzten Punkt, den Arabelle vorbereiten musste. Und dazu brauchte sie eine schwer zu beschaffende Zutat: zu Pulver verarbeitete Asche von Damantit-Schlacke. Dabei handelte es sich um keine Zutat für Essen, sondern um etwas, das Kräuterkundige zur Behandlung fremdartiger Krankheiten einsetzten. Frau Mizmer hatte gesagt, sie besäße etwas von der seltenen Substanz. Aber da sie so gut wie nie benutzt wurde, konnte sie praktisch überall zwischen ihren Vorräten vergraben sein. Bei ihren wichtigsten Gemüsesorten und Gewürzen hielt die Frau zwar Ordnung, aber der hintere Teil ihres Vorratszelts erwies sich als wirres Durcheinander willkürlicher Zutaten.
Arabelle hatte das Zelt bereits mehrmals nach dem Damantit durchsucht. Allmählich beschlich sie die Sorge, sie würde es nicht finden. Natürlich befand es sich ausgerechnet am letzten Ort, an dem sie nachsah – in der allerletzten, verstaubten Kiste in Frau Mizmers Regalen. Arabelle entfuhr ein aufgeregtes Quieken, als sie das vergilbte Päckchen fand, auf dem »Damantit« gekritzelt stand.
Es enthielt ein fein gemahlenes, schwarzes Pulver. Sie verstaute es in ihrer Tasche, bevor sie in Frau Mizmers Vorratszelt einen Anschein von Ordnung wiederherstellte und zu ihrem eigenen Zelt zurückkehrte.
Somit besaß sie alle Zutaten für das Rezept, das sie von der alten Vettel bekommen hatte: Tinktur des Neumonds .
Arabelle breitete alles fein säuberlich auf ihrem Tisch aus. Sie überprüfte ein letztes Mal die Anweisungen, dann legte sie los.
Mein bisher anspruchsvollstes Rezept.
Arabelle füllte die getrockneten Zutaten nacheinander in ihren Steinmörser und zermahlte sie mit einer Hand, während sie mit der anderen reines Öl von Quizoablättern dazuträufelte. Als sie alle Zutaten bis auf eine hinzugefügt hatte, bildete sich ein feines, dickflüssiges Gemisch.
Sie stellte das Öl beiseite, nahm eine Prise des Damantitpulvers zwischen die Fingerspitzen und streute es in die Mischung. Als das Pulver mit der Tinktur in Berührung kam, sprühte es winzige rote Funken. Genau eine Minute lang verrührte sie alles gründlich – und quiekte beinah vor Freude, als sich der graue Steinmörser und der Stößel plötzlich so tiefschwarz verfärbten, dass sie beinah das Licht aus dem Zelt einsaugten.
Der Beweis für ihren Erfolg, denn im Rezept stand eindeutig:
Bei richtiger Mischung mit Werkzeug aus nicht porösem Stein zeigt die fertige Tinktur des Neumonds ihre Vollendung an, indem sie das bei der Herstellung verwendete Werkzeug dauerhaft verfärbt.
Arabelle füllte ihre Schöpfung in ein Glasfläschchen und verstöpselte es. Dann wandte sie sich ihrem Bett zu, auf der die dunkelste Aufmachung ausgebreitet lag, die Maggie für sie genäht hatte.
Zeit zum Ausprobieren.
* * *
Arabelle band das Ende ihrer Kopfbedeckung ab und steckte die Dolche ihrer Mutter in ihre Scheiden. Den Gürtel hatte sie mit verschiedenfarbigen Strohhalmen beladen, die all die unterschiedlichen, von ihr angefertigten Pulver enthielten. Bei einigen handelte es sich um Waffen, beispielsweise beim Pulver von dem Blatt, das laut Castien zu einem kurzfristigen Gedächtnisverlust führte. Andere waren lediglich Arzneien – einfache Schmerzmittel und Wachmacher. Die gesamte Ausrüstung – die Dolche und die Pulver – verbarg sich unter ihrer Kleidung.
Der letzte Gegenstand auf ihrem Tisch war die Tinktur. Sie tauchte einen leeren Strohhalm in das unverschlossene Fläschchen, legte den Finger auf das Ende des Strohhalms und hob einen wabbelnden Tropfen der Tinktur an. Nach einem tiefen Atemzug legte sie den Kopf in den Nacken, bewegte den Strohhalm über ihr rechtes Auge und entfernte den Finger vom Ende des Halms. Als die Tinktur in ihr Auge tropfte, fühlte sie sich kühl, aber nicht unangenehm an. Arabelle wiederholte den Vorgang beim linken Auge.
Dann schloss sie einige Herzschläge lang die Lider, um sicherzustellen, dass die Tinktur nicht heraustropfte. Sie spürte nichts Ungewöhnliches. Aber als sie die Augen wieder öffnete, erfasste sie schlagartig ein Anflug von Schwindelgefühlen. Ihre Tiefenwahrnehmung war völlig durcheinander. Alles schien sich näher zu befinden, als es in Wirklichkeit war. Und die Helligkeit der Lampe überwältigte sie.
Die Prinzessin holte ihren Handspiegel hervor und betrachtete sich. Das Gesicht, das ihr entgegenblickte, war ... furchteinflößend. Ihre Augen hatten sich vollkommen schwarz verfärbt. Es gab keine Pupille, kein Braun, kein Weiß. Nur durchgehendes Schwarz von Augenlid zu Augenlid.
Etwas Unheimlicheres hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Ich hoffe nur, es verschwindet wieder – sonst habe ich eine Menge Erklärungsbedarf.
Als Nächstes stand der eigentliche Test an. Die Kräuterfrau hatte behauptet, ihre ohnehin bereits hervorragende Nachtsicht würde noch besser sein. Arabelle spähte durch den Schlitz an der Zeltklappe in die Dunkelheit draußen.
Die Wirkung war verblüffend. Arabelle heftete den Blick auf einen Wachmann, der mindestens fünfzig Fuß entfernt stand, und sie konnte jede Einzelheit erkennen, bis hin zu den Schweißperlen auf seiner Stirn. Aufregung durchströmte sie, als sie erkannte, wie nützlich das sein würde.
Sie hatte bereits festgestellt, dass sie sich mit ihrer dunklen Kleidung und ihren neuen Fähigkeiten unbemerkt hinausschleichen konnte – wenn sie auf den richtigen Augenblick wartete. So würde es noch einfacher werden.
Sie beobachtete und wartete. Schon bald kam die Ablenkung, auf die sie gehofft hatte: Ein anderer Gardist hielt an, um mit den Männern zu plaudern, die ihr Zelt bewachten. Arabelle nutzte die Gelegenheit und huschte in die Schatten der Karawane hinaus.
* * *
Je dunkler ihre Umgebung wurde, desto mehr verbesserte sich ihre Sicht. Wie sich herausstellte, konnte sie jemanden aus fast hundert Schritt Entfernung bespitzeln und das Gesicht immer noch gut genug erkennen, um von den Lippen abzulesen, was gesprochen wurde.
Während sie durch die Karawane schlich, schnappte sie ein Gespräch auf, das ihre Aufmerksamkeit erregte.
»Irgendetwas Neues von den Gefangenen?«, fragte eine Stimme.
»Nein. Der Junge schweigt hartnäckig. Aber wir werden etwas aus ihm herausbekommen. Ich weiß, dass er etwas verheimlicht.«
Gefangene? Junge?
Die Stimmen drangen aus einem nahen Zelt. Arabelle beobachtete und wartete, wer herauskommen würde.
Die Zeltklappe öffnete sich, und ein schwarz gekleideter Soldat erschien. Er marschierte in Richtung des Marktplatzes los.
Arabelles Herzschlag beschleunigte sich. Das war einer von Azazels Vollstreckern.
Sie hatte auch einen flüchtigen Blick ins Innere des Zelts erhascht und den anderen Sprecher gesehen. Ebenfalls einer von Azazels Männern, und er hatte gerade etwas auf eine Staffelei geschrieben.
Arabelle wusste, was sie tun sollte : es auf sich beruhen lassen. Tabor hatte ihr immer wieder eingebläut, Azazels Soldaten zu meiden. Und jeder, den Arabelle kannte, fürchtete sie. Aber ihre Neugier war geweckt. Wider besseres Wissen näherte sie sich dem Zelt und lauschte vorsichtig durch den Stoff.
Sie hörte lediglich das Kratzen eines Schreibgeräts. Wenn sie nur sehen könnte, was der Mann schrieb ...
Sie ließ den Blick über die Umgebung wandern. Dieser Teil der Karawane erwies sich als menschenleer. Wenn sie leise genug wäre, könnte sie vielleicht ...
Auf Zehenspitzen schlich sie zum Zelteingang und benutzte einen ihrer Strohhalme, um die Klappe behutsam zur Seite zu ziehen. Dann bewegte sie ein Auge zu dem schmalen Schlitz, der entstand.
Der schwarz gekleidete Soldat stand mit dem Rücken zu ihr. Sein Körper versperrte ihr die Sicht darauf, was er auf die Staffelei schrieb. Aber zu seiner Rechten hing ein weiteres Pergament an der Wand befestigt. Trotz der kleinen Schrift konnte Arabelle die Worte entziffern.
Nach Fremden in Trimoria suchen.
Trupp zum Patrouillieren an der Grenze des verfluchten Sumpfs entsenden.
Drei Duos den Weg der Karawane auskundschaften lassen. Auf Kirags Anweisungen über den Wald warten.
Gefangene verhören, um ...
Bevor sie den Rest der letzten Zeile lesen konnte, wurde die Zeltklappe aufgerissen, und Arabelle kippte vor Schreck nach hinten. Der Soldat stand über ihr. Seine Miene glich einer zornigen Gewitterwolke.
Arabelle robbte rückwärts, jedoch vergeblich. Der Mann packte mit einer Pranke ihr Gewand und hob sie in die Luft. Mit der anderen Hand griff er an seinen Gürtel und zückte seinen Dolch.
Ohne nachzudenken, riss Arabelle den Strohhalm an die Lippen und blies das Pulver ins Gesicht des Soldaten. Sie wusste nicht mal, um welches Pulver es sich handelte.
Der Soldat stieß einen wüsten Fluch aus und ließ sie fallen.
Arabelle zog sämtliche roten Strohhalme von ihrem Gürtel, blies den Inhalt aller auf einmal ins Gesicht des Mannes und ergriff dann die Flucht.