Grisham konnte sein Glück kaum fassen, dass er lebenslanger Sklaverei nicht nur einmal, sondern gleich zweimal entkommen war. Er betrachtete die wundersame junge Frau, die mühelos vor ihm lief. Irgendwie würde er eine Möglichkeit finden müssen, sich für ihre unglaubliche Freundlichkeit erkenntlich zu zeigen.
Der östliche Horizont wurde allmählich heller, als er ein warnendes Knurren im hohen Gras hinter ihnen hörte.
»Arabelle«, sagte er, »halt!«
Sie blieb stehen. Dolche erschienen in ihren Händen.
»Ist schon gut«, beschwichtigte Grisham. »Wir werden nicht bedroht. Es ist nur eine Sumpfkatze, die warnend knurrt. Als wolle sie sagen: ›Ich bin hier.‹«
»Die verletzte Katze, die du befreit hast?«
»Nein. Das hier ist ein Weibchen. Ich kann ihre Aura im Gras sehen.«
»Aura?«
Grisham zuckte mit den Schultern. Wenn ich Arabelle nicht alles anvertrauen kann, wem dann?
»Ja. Ich kann um alle Lebewesen eine Aura sehen. Daran kann ich Stimmungen und Gesinnungen ablesen.«
»Du kannst Gedanken lesen?«
Er lachte leise. »Nein, ich kann keine Gedanken lesen. Ich kann nur sehen, was man auch aus Körpersprache erkennen kann. Zum Beispiel, ob jemand wütend oder hinterhältig ist.«
»Und was verrät dir die Aura dieser Katze?«
»Dass sie neugierig ist.«
Das schnurrhaarige Gesicht einer riesigen Katze brach durch das Gras hervor. Sie schniefte, nieste, gab ein abgehacktes Hustengeräusch von sich und ließ darauf tiefe, grollende Laute folgen.
Grisham übersetzte die Laute für Arabelle. »Also, das ist interessant. Sie hält mich für eine als Zwerg verkleidete Katze.«
»Du verstehst sie? Hat die andere Katze auch mit dir gesprochen?«
»Ja, aber sie hatte Fieber, war vermutlich todkrank und hat nichts Vernünftiges von sich gegeben. Ich glaube, sie war so beeinträchtigt, dass sie rein instinktiv gehandelt hat.«
»Also ...« Arabelle nickte in Richtung der Katze vor ihnen. »Willst du mit ihr reden?«
Grisham grinste. »Wie soll ich diese Geräusche hervorbringen?«
»Na ja ... Du könntest dich wieder verwandeln.«
Grisham wusste, dass ihnen nicht viel Zeit blieb. Aber er war neugierig, wieso dieses Tier ihn für eine Sumpfkatze hielt. Wenn er sich verwandelte, blieb dann etwas ... von der Essenz der Gestalt zurück, die er annahm?
Er tauchte tief in sich zu dem Quell der Macht, der ihm zunehmend vertrauter wurde. Grisham spürte den mittlerweile bekannten Schmerz der Verwandlung, die Verwirrung der veränderten Sinne, dann war der Vorgang abgeschlossen. Er war die Sumpfkatze mit Fieber vom Wagen der Sklavenhändler.
Die weibliche Katze beäugte ihn neugierig. »Dein Geruch ist ... verwirrend. Du riechst wie eine Sumpfkatze ... und ein Zweibeiner. Und du siehst aus wie Mitternacht ... aber du bist nicht Mitternacht.«
»Mitternacht?«
»Er ist mein Gefährte.«
»Ich kann mich so aussehen lassen, wie ich will.« Eine bessere Erklärung fiel Grisham nicht ein. Und sie entsprach größtenteils der Wahrheit. »Warum würdest du dich als Zweibeiner tarnen wollen?« Grisham war belustigt und beschloss, der Katze zu antworten. »Von den Zweibeinern kann man viel erfahren. Ich lerne bei ihnen.«
»Wie machst du das? Kann ich das auch?«
»Nein, das können nur meinesgleichen.«
Grisham fragte sich, ob das überhaupt stimmte. Handelte es sich um eine Fähigkeit der Ta’ah? Falls ja, hatte er noch nie davon gehört. Vielleicht besaß er diese Gabe nur durch Seders Eingreifen.
»Deinesgleichen?«, fragte die Katze nach. »Meinst du deine Familie?« Grishams Schwanz peitschte nervös. »Eigentlich ... habe ich keine Angehörigen. Sie sind alle tot.«
Die weibliche Sumpfkatze gab ein Geräusch von sich, das beinah wie ein Winseln klang, und ihre Aura füllte sich mit Traurigkeit. »Ich fühle solchen Schmerz. Zweibeiner haben meinen Gefährten gefangen und alle meine Jungen getötet. Ich habe ihre verheerten Körper gefunden. Mitternacht habe ich seither nicht mehr gesehen.«
»Aber ich. Er lebt.«
Die Aura der Katze wurde vor Hoffnung heller. »Du musst mir sagen, wo ich ihn finde.«
»Er ist auf dem Weg nach Norden. Ich wurde von denselben Zweibeinern gefangen wie Mitternacht. Aber diese Zweibeinerin da hat mir geholfen, deinen Gefährten zu befreien. Allerdings ist er verletzt. Die Wunde riecht übel. Ich würde schnell zu ihm laufen.«
Die riesige Katze stimmte ein leises Schnurren an. »Danke, Fremder. Wenn du mit den Zweibeinern fertig bist, dann komm zum Sumpf. Mein Gefährte und ich würden jemanden wie dich in unserer Familie aufnehmen.«
Damit wandte sich die Katze ab und preschte davon.
* * *
Grisham und Arabelle hatten beschlossen, dass es keine Möglichkeit gab, die Beteiligung der Prinzessin an den Ereignissen der Nacht zu erklären. Aber ein Zwerg allein könnte eine plausible Geschichte abliefern. Also trennten sie sich. Arabelle lief voraus und schlich sich ungesehen wieder in die Karawane. Grisham blieb zurück und bemühte sich, verletzt und erschöpft zu wirken – in seinem Zustand nicht allzu schwer.
Sobald er in Sichtweite der Gardisten der Karawane taumelte, schlugen sie mit ihren Pfeifen Alarm. Eine Staubwolke stieg vom Tor der Karawane auf, und Pferde galoppierten los. Die Augen der Reiter weiteten sich, als sie langsamer wurden und sein Erscheinungsbild betrachteten.
Seine Kleidung strotzte vor Blut, hauptsächlich von seiner Kopfverletzung. Der Stoff selbst war so zerfleddert, dass man mehr von ihm sah, als verhüllt wurde. Grisham hatte keine Ahnung, wo seine Schuhe abgeblieben waren.
Die letzten Hufe, die über die staubige Ebene klapperten, gehörten zu Odas Pony.
»Bei Seders langem weißem Bart, Junge – wir dachten, du wärst gefangen oder tot!«
Die Wirkung von Arabelles Pulver ließ nach, und Grishams Schädel pochte. Zurück in der Sicherheit der Karawane holte ihn die Erschöpfung von den Ereignissen der Nacht unvermittelt ein.
»Ich konnte entkommen«, sagte er.
* * *
»Danach weiß ich nichts mehr«, sagte Grisham zu Nicholas.
Die beiden lagen auf nebeneinanderstehenden Pritschen im Lazarett der Soldaten. Trotz Schienen an einem Arm und einem Bein zeigte sich Nicholas guter Dinge. Khalid hatte eine Gruppe zum Lager der Sklavenhändler angeführt, um den verletzten Soldaten und die anderen Sklaven zu befreien.
»Jetzt bist du dran«, fügte Grisham hinzu. »Wie konntest du der Gefangennahme entgehen? Und was ist mit deinem Arm und deinem Bein passiert?«
Nicholas zuckte mit den Schultern. »Ich hatte wohl bloß Glück. Mich hat mein Pferd abgeworfen, als die Netze geworfen wurden. Das Tier hat mir das Bein gebrochen, als es darauf gelandet ist. Da muss ich ohnmächtig geworden sein. Anscheinend habe ich auch eine blutende Kopfwunde erlitten. Die Sklavenhändler dachten wohl, ich wäre tot oder würde es bald sein. Als ich aufgewacht bin, habe ich noch dort gelegen, wo ich gefallen war – mit dem Gaul immer noch auf meinem Bein.«
»Und was ist mit dem Arm?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Ich meine, mich zu erinnern, er wäre von einem Wagen überrollt worden. Wohl von den Sklavenhändlern. Sie haben vor mutmaßlich Toten genauso wenig Respekt wie vor den Lebenden. Wie dem auch sein mag, ein Suchtrupp hat mich und den armen Robert gefunden. Er hat es nicht geschafft. Hat sich beim Sturz vom Pferd das Genick gebrochen.«
»Tut mir leid.«
»Mir auch. Er war ein guter Mann.«
Eine lange Weile schwiegen sie beide, bis Grisham wieder das Wort ergriff. »Und ... hat irgendjemand die Schafe gefunden?«
Nicholas schmunzelte. »Weißt du, ich habe dieselbe Frage gestellt. Und wer hätte das gedacht? Diese vermaledeiten Viecher sind rechtzeitig zur Fütterung von allein zurückgekommen.«
Grisham stöhnte. »Typisch.«