Visionen Der Vergangenheit

Arabelle hatte ihre Schlafroutine längst verinnerlicht. Ihre innere Uhr weckte sie verlässlich alle zwei Stunden. Aber manchmal schien das nicht genug zu sein. Dann wachte sie auf, und ihre Glieder fühlten sich träge an, als hätte sich das Gift bereits darin eingenistet.

Als sie an diesem Morgen aufwachte, erwies sich ihr Zustand als noch schlimmer. Ihre Gliedmaßen reagierten überhaupt nicht mehr.

Sie geriet in Panik.

Habe ich verschlafen?

Sie war überzeugt davon, dass dem nicht so war. Arabelle konzentrierte sich und versuchte es erneut, kämpfte darum, die Arme und Beine zu bewegen.

Endlich spürte sie ein Knacken der Muskelfasern. Als sich die steifen Glieder nach und nach lockerten, richtete sie sich langsam in sitzende Haltung auf. Ihre Atmung ging in kurzen Stößen, und sie musste alle Willenskraft aufbieten, um tiefer Luft zu holen.

Sie lebte noch. Aber diese Symptome wurden mit jedem Vorfall schlimmer.

Rasch begann sie mit ihren Dehnungsübungen. Zuerst brüllten ihre Muskeln widerwillig, aber bald lockerten sie sich weiter, und als sie fertig war und in das von Maggie bereits vorbereitete Bad eintauchte, ließ sie die morgendliche Panik hinter sich.

Allerdings gingen ihr immer noch die Ereignisse der vergangenen Nacht durch den Kopf.

Ich habe einen Mann getötet.

Schuldgefühle krümmten sich wie eine Schlange durch ihren Magen. Sie wusste, dass sie nie den Moment vergessen würde, in dem das Licht in den Augen eines Mannes durch ihre Hand zu Dunkelheit geworden war.

Arabelle versuchte, das Bild zu verdrängen und sich stattdessen auf das Gute zu konzentrieren: Sie hatte ihren Freund vor Sklavenhändlern gerettet. Nach der Rückkehr zur Karawane hatte sie Ausschau gehalten und sich vergewissert, dass er wohlbehalten ankam. Dabei hatte sie gesehen, wie der Rettungstrupp zu den anderen aufgebrochen war. Hoffentlich konnten auch sie befreit werden. Niemand sollte ein solches Leben führen müssen. Niemand.

Maggie steckte den Kopf durch die Zeltklappe herein. »Herrin, seid ihr fertig mit dem Baden?«

»Sollte ich wohl sein.«

Arabelle richtete sich auf. Sie streckte die Arme und Beine, bis sie knackten. Das Geräusch erinnerte sie an Grishams Fähigkeit, seine Gestalt zu verwandeln. Maggie reichte ihr ein Handtuch, und Arabelle rubbelte sich von Kopf bis Fuß trocken.

Dabei fiel ihr auf, dass Maggie sie merkwürdig ansah. »Was ist?«

Maggie lächelte liebevoll. »Ihr seid kein kleines Mädchen mehr, Prinzessin.«

»Natürlich bin ich das nicht! Ich bin jetzt achtzehn.«

»Ich weiß. Aber ich erinnere mich noch daran, wie Eure Arme und Beine wie Stöckchen ausgesehen haben und Ihr ständig über die eigenen Füße gestolpert seid. Jetzt bewegt Ihr Euch anmutig wie eine Katze, und Eure Kurven ... äh, na ja, sie werden jedermanns Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«

Bei der letzten Bemerkung errötete Arabelle. Auch ihr war aufgefallen, dass ihre Hüften breiter waren als früher, und ihre Taille elegant nach innen verlief. Allerdings war sie nicht sicher, wie wohl sie sich dabei fühlte, dass sie Aufmerksamkeit dieser Art erregen könnte.

»Tja, Maggie, es gibt nur entweder Kurven oder Abnehmen. Und du hast ja mit mir geschimpft, dass ich zu dünn bin.«

Maggie schnappte nach Luft. »Ich habe nie mit Euch geschimpft.« Sie lief rot an. »Ich habe vielleicht angedeutet, dass Ihr mehr essen solltet.«

Die Prinzessin zwinkerte. »Das kommt bei dir Schimpfen gleich.«

Arabelle rechnete mit einem Kichern ihrer Zofe, das jedoch ausblieb. Stattdessen wirkte sie eher wehmütig.

»Maggie? Stimmt etwas nicht?«

Tränen traten ihrer Freundin in die Augen. Als sie das Wort ergriff, wurde ihre Stimme vor Kummer brüchig. »Hassan ist tot.«

Sie weiß es! Oh, die Arme. Aber ... wie viel weiß sie?

»Es tut mir so leid, Maggie.« Arabelle setzte sich aufs Bett und klopfte auf die Stelle neben sich. »Setz dich zu mir. Erzähl mir, was passiert ist.«

Maggie nahm auf der Bettkante Platz und atmete tief durch. »Tabor war so freundlich, gestern Abend in mein Zelt zu kommen, als er davon erfahren hat. Er hat gesagt, dass Hassan tapfer bei einer langen Erkundungsexpedition im Kampf gegen Sklavenhändler gestorben ist.« Schniefend rang sie sich ein verhaltenes Lächeln ab. »Aber er hat eine anständige Bestattung bekommen – wie ein Imazighen. Ich habe immer gewusst, dass er sich unseres Volks als würdig erweisen würde.«

Arabelle umarmte ihre Freundin innig. Tabor war in der Tat freundlich. Diese Geschichte klang erheblich besser als die Wahrheit. Trotzdem änderte sie wenig. Maggie blieb untröstlich.

Arabelle küsste Maggie auf die Wange. »Er war unseres Volks würdig, Maggie. Bleib stark. Und denk daran: Die Zeit heilt alle Wunden.«

Außer meiner.

* * *

Kaum war Maggie gegangen, traf Tabor ein. »Prinzessin? Können wir reden?«

Arabelle winkte ihn herein. Zu ihrer Überraschung brachte er ein Tablett mit Frühstück mit, das er vor ihr abstellte.

»Na so was. Danke, Tabor«, sagte Arabelle und setzte sich zum Essen. »Ich würde mich freuen, wenn du mit mir frühstückst.«

»Nein danke, Prinzessin, ich habe schon gegessen. Aber ich dachte mir, nach den Ereignissen der letzten Nacht würdet Ihr hungrig sein.«

Sie erstarrte beim Abreißen eines Stücks Brot. Hat er mich hinausschleichen gesehen?

»Ereignisse?«, fragte sie unschuldig.

Sein bärtiges Gesicht lieferte keinen Hinweis darauf, was er dachte. Seine braunen Augen musterten sie eingehend. Schließlich sagte er: »Es ist nichts weiter. Ich dachte mir nur, vielleicht habt Ihr euch davongeschlichen, um Maggie wegen dem unzugehörigen Soldaten zu trösten.«

Unbekümmert schöpfte Arabelle Essen in ihre Schale. »Nein, ich habe mich nicht rausgeschlichen, um mit Maggie zu reden. Aber sie hat mir heute Morgen von deinem Gespräch mit ihr erzählt hat. Es war ... nett, was du ihr erzählt hast.«

Zu ihrer Überraschung schaute Tabor verlegen drein. »Na ja, sie hatte diesen unzugehörigen Soldaten irgendwie ins Herz geschlossen ...«

»Hassan. Sein Name war Hassan.«

Tabor nickte. »Ja. Jedenfalls wollte ich, dass sie ihn in guter Erinnerung behält. Ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht zuerst mit Euch darüber gesprochen habe, Prinzessin. Aber Ihr hattet Euch schon in Euer Zelt zurückgezogen, und ich wollte Euch nicht mehr stören.«

Arabelle schluckte beim Gedanken daran, was Tabor vorgefunden hätte, wenn er zu ihrem Zelt gekommen wäre. »Ich wäre vollkommen einverstanden damit gewesen. Wie gesagt, es war sehr freundlich. Ich möchte, dass man sich an Hassan nicht als Unzugehörigen, sondern als einen der Imazighen erinnert.«

Tabor brummte zustimmend. »Danke, Prinzessin. Es ist Euer gutes Recht, ihn dazu zu erklären. Ich weiß, dass ich meine Befugnisse überschritten habe.«

Es ist mein gutes Recht?

Arabelle hatte nie groß darüber nachgedacht, aber sie hatte miterlebt, wie ihr Vater Gesetzesbrecher von den Imazighen verstoßen und sie zu Unzugehörigen erklärt hatte. Warum also nicht auch umgekehrt?

»Ich werde meinem Vater sagen, dass du dir vorher mein Einverständnis gesichert hast. Dein Handeln verdient Anerkennung, keinen Tadel.«

Tabor schüttelte vehement den Kopf. »Nein, Prinzessin. Ich habe Eurem Vater bereits gesagt, was ich getan habe. Ich kann ihm nichts vorenthalten.«

»Und?«

»Euer Vater hat genauso geantwortet wie Ihr. Er findet keinen Fehl und Tadel in meinem Handeln. Somit ist meine Ehre unbefleckt, wofür ich dankbar bin.«

Arabelle stand auf und zog ihn in eine Umarmung. »Du bist der ehrenhafteste Mann, den ich kenne, und dafür liebe ich dich.« Sie trat einen Schritt zurück. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«

Tabors Züge schienen widersprüchliche Gefühle dicht unter der Oberfläche zu verbergen. »Was immer Euer Wille ist, soll geschehen, Prinzessin.«

»Ich möchte ein paar Dinge übers Kämpfen lernen. Du musst mir ehrlich antworten, ohne zu fragen, warum ich mich danach erkundige.«

Tabor runzelte die Stirn und musterte sie einen langen Moment lang neugierig. Schließlich ergriff er das Wort. »Esst auf, Prinzessin. Ihr müsst bei Kräften bleiben.« Damit wandte er sich zum Gehen. »Ich komme in Kürze mit Hilfsmitteln zurück, um unser Gespräch zu beginnen.«

Als sich die Klappe hinter ihm schloss, fragte sich Arabelle laut: »Hilfsmittel?«

* * *

Tabor saß ihr gegenüber. Zwischen ihnen lagen verschiedene Rüstungsteile und Waffen aufgereiht. »Ich habe eine Reihe von Gegenständen mitgebracht, die im Kampf eingesetzt werden. Viele davon werdet Ihr wahrscheinlich nie benutzen – zum Beispiel schwere Panzerung. Trotzdem solltet Ihr sie kennen und auch wissen, wie man Feinde bekämpft, die sie tragen.«

Arabelle unterdrückte ein Lächeln. Das war mehr, als sie eigentlich fragen wollte, aber sie begrüßte die Gelegenheit, etwas zu lernen.

»Darf ich zuerst ein paar konkrete Fragen stellen?«

Er nickte. »Natürlich, Prinzessin. Was immer Ihr wissen wollt, ich will gern versuchen, es Euch zu erklären.«

Arabelle rieb sich das Kinn. »Ich habe über den Einsatz meiner Dolche nachgedacht. Wir haben die ganze Zeit Kampftaktiken geübt, damit ich schneller werde und ein Muskelgedächtnis für Angriff und Verteidigung entwickle. Ich will ehrlich sein: Ich hatte einen Traum, in dem ich angreifen musste, aber ich wusste nicht, wie ich einen schnellen Todesstoß austeilen könnte. Mich beunruhigt, dass wir nie über den praktischen Nutzen der Dinge gesprochen haben, die du mir beigebracht hast. Falls es je dazu kommt, würde ich hoffen, schnell zu töten oder gar nicht erst anzugreifen. Wie geht man am tödlichsten dabei vor, einen Gegner nur mit einem Dolch auszuschalten?«

Tabor nickte. »Prinzessin, das ist eine sehr wichtige Frage. Ich bin froh, dass Ihr es ansprecht. Die erste Regel im Kampf lautet, dass man den Dolch nur dann aus der Scheide zieht, wenn man töten will, und zwar schnell.« Zur Betonung zeigte er mit dem Finger auf sie. »Nicht, um bloß zu drohen. Wer sich davor scheut zu töten, sollte keine Waffe tragen.«

Tabor hob einen Dolch aus Eisen auf und zeigte auf dessen Schneide. »Beachtet die gerade Schneide dieses Dolchs. Sie eignet sich für Schlitzbewegungen. Solche Angriffe mit einer Klinge sind am wirkungsvollsten gegen das weiche Gewebe des Gegners.« Tabor veranschaulichte es, indem er den Dolch an seinen Hals hielt. »An jeder Seite am Hals wird die Blutzufuhr zum Kopf des Gegners unterbrochen. Das ist fast immer tödlich.«

»Was, wenn man leise töten will?«

Tabor ließ ein verschlagenes Lächeln aufblitzen. »Gute Frage. Das ist besonders dann nützlich, wenn andere in der Nähe sind, die dem Opfer zu Hilfe kommen könnten.« Diesmal veranschaulichte er, wie der Dolch von einer Halsseite zur anderen gezogen wurde. »Eine ähnliche, aber kräftigere Bewegung ist nötig, um den Hals sowohl seitlich als auch vorne zu durchtrennen. Die Atmung und das Sprechen erfolgen durch die Mitte. Um Geräusche zu verhindern, muss das Messer durch die Sehnen und Knorpel, die einen Schutz um die Kehle herum bilden. Aber Ihr müsst wissen, dafür ist sowohl einen gut platzierter Schnitt als auch eine ordentliche Portion Kraft erforderlich.«

»Als würde man versuchen, ein Stück Fleisch durchzuschneiden?«

Belustigung funkelte in seinen Augen. »Eher ein Stück Fleisch mit viel Knorpeln und Sehnen. Außerdem ist ein solcher Angriff eine ziemliche Sauerei. Blut spritzt dabei in alle Richtungen.«

»Gibt es noch andere Stellen für einen schnellen Todesstoß?«

Tabor berührte seinen Nacken. »Ein Dolch, der in die Schädelbasis gestoßen wird, führt mit Sicherheit zum sofortigen Tod. Aber Euch muss bewusst sein, dass die erhebliche Gefahr einer Ablenkung der Klinge durch die Knochen der Schultern oder der Wirbelsäule besteht.« Dann berührte er zwei Stellen auf seiner Brust. »Das Herz liegt hinter einem Knochen in der Mitte der Brust. Wenn man etwas abseits der Mitte in schrägem Winkel zustößt, sollte man auch damit den fast sofortigen Tod herbeiführen können. Man muss nur darauf achten, dass der Dolch nicht stecken bleibt. Die Klinge kann sich zwischen den Rippen verkeilen, dann ist es schwierig, sie herauszuziehen.«

»Ändert sich die Taktik je nach verwendetem Dolch?«

»Eine weitere gute Frage. Das ist durchaus möglich. Jeder Dolch hat ein eigenes Gewicht, eine eigene Ausgewogenheit und eine eigene Form, und dadurch ...«

»Was ist mit dem hier?«, fiel Arabelle ihm ins Wort. Sie hatte ihre eigenen »Hilfsmittel« bereitgelegt, bevor Tabor mit seinen zurückgekehrt war, und zog einen der Dolche ihrer Mutter hinter dem Rücken hervor.

Tabors Augen wurden groß. »Darf ich einen Blick darauf werfen, Prinzessin?«

Arabelle reichte ihm den Dolch und lächelte, als er mit den Fingern behutsam über die flache Seite der Klinge strich. »Diese Waffe habe ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Ich freue mich, dass sie ihr richtiges Zuhause gefunden hat. Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr auch ihren Zwilling habt?«

Arabelle nickte.

»Gut. Diese Dolche wurden vor vielen Hundert Jahren von Zwergenschmieden sonderangefertigt und sind als Waffen für Meuchler kaum zu übertreffen. Sie bestehen aus dem seltensten aller Metalle, Damantit. Es ist angeblich unzerbrechlich, und wurde es vom Schmied bearbeitet, muss die Schneide nie mehr geschliffen werden. Und seht Ihr diese leichte Wellung entlang der Schneide? Sie verursacht noch mehr Schaden. Wunden durch einen solchen Dolch gehen oft mit starken Blutungen einher. Das ist eine überaus tödliche Waffe, Prinzessin.« Er gab ihr den Dolch zurück.

Vorsichtig näherte sich Arabelle ihrem nächsten Anliegen. »Was ist, wenn ich von hinten angreife? Würde ein Stich in den Rücken ausreichen?«

Tabor zeigte auf Stellen rechts und links des unteren Rückens. »Stiche hier sind tödlich. Aber das Opfer stirbt nicht schnell und könnte zurückschlagen. Ich würde auch dafür einen Stich in die Schädelbasis empfehlen.«

»Was ist mit einem Stich in die Mitte des Rückens?«

Tabor schüttelte den Kopf. »Selbst mit Euren feinen Waffen wäre das gewagt. Richtig ausgeführt kann es schon ein Todesstoß sein, allerdings schützen entlang der Wirbelsäule eine Menge Knochen die verwundbaren Teile.«

Arabelle senkte den Blick und kaute dramatisch auf der Unterlippe.

»Was beunruhigt Euch, Prinzessin?«

»Ich hatte noch eine andere Vision, Tabor. Darin habe ich mich gefragt, ob mein Feind ein Dämon ist.«

Tabors Augen weiteten sich besorgt. »Wie kommt Ihr darauf? Was habt Ihr gesehen?«

»Nachdem ich meinen Gegner von hinten angegriffen hatte, schlug er um sich. Es gab fast kein Blut, nur eine klare Flüssigkeit ist aus der Wunde im Rücken gesickert.«

Tabor seufzte erleichtert. »Nein, Prinzessin, selbst wenn Eure Vision eine echte Vorahnung war, das war kein Dämon. Ein Glückstreffer kann die Wirbelsäule durchtrennen, die eine klare Flüssigkeit enthält. Selbst leichte Verletzungen des Rückgrats können zu Lähmungen führen. Dann kann der Getroffene die Beine oder sogar die Arme nicht mehr bewegen.«

Er ergriff ein Kettenhemd. »Gehen wir jetzt Angriffe gepanzerter Gegner durch ...«

* * *

Arabelle drehte sich im Sattel um und beobachtete den langen Tross von Wagen hinter ihr. Sie befanden sich mittlerweile östlich von Cammoria, reisten weiter, nachdem sie Handel mit einer Ansammlung von Dörfern getrieben hatten, die sich insbesondere auf Lederwaren und hochwertige landwirtschaftliche Erzeugnisse verstanden. Beim nächsten Halt der Karawane im Norden würden sie mit den Anbauern der besten Trauben und den Herstellern der besten Weine von ganz Trimoria handeln.

Arabelles Vater liebte Wein. Sie lächelte, als sie daran dachte, mit welcher Freude er nicht nur neue Jahrgänge verkostete, sondern auch Gespräche mit den Winzern führte. Er galt als hingebungsvoller Freund seines Volks. Oft hatte er ihr erklärt, dass ihm Respekt nicht deshalb zuteilwurde, weil er Honfrion war, Scheich der Imazighen, sondern weil er sich aufrichtig um das Wohlergehen derer kümmerte, die von ihm abhängig waren.

»Behandle die Leute immer so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest«, pflegte er gern zu sagen. »Mein Herzblatt, das ist der Weg unserer Familie und unseres Volks.«

Sie erreichten die Kuppe eines Hügels, und Arabelle betrachtete die Aussicht hinter ihnen. Der riesige Wald südlich von Cammoria war aus der Ferne so wunderschön, wie er aus der Nähe beunruhigend war. Über den Ort kursierten furchterregende Gerüchte.

»Er ist verwunschen, sage ich ...«

»Die Hexe der Wälder raubt einem die Seele ...«

»So mancher Soldat hat diesen nebligen Wald betreten und ist nie zurückgekehrt.«

Als junges Mädchen hatte sie diesen Gerüchten keine Beachtung geschenkt und war so unbeschwert durch die Wälder von Cammoria gelaufen wie durch jene nahe Aubgherle. Bis zu dem Tag, an dem sie das Lied hörte – ein Lied, das sie aus irgendeinem unbekannten Grund von Kopf bis Fuß frösteln ließ. Sie raste damals zurück zu Tabor, der sich immer in der Nähe aufhielt, und weinte an seiner Schulter.

Ihr Vater verbot ihr später, je wieder in die Nähe dieses Walds zu gehen, und ausnahmsweise gehorchte sie. Arabelle wollte nicht dorthin zurück.

Sie fand seltsam, wie etwas aus der Nähe so Beängstigendes aus der Ferne so harmlos, ja sogar prachtvoll erscheinen konnte. Dennoch war Arabelle froh, dem vermeintlich verwunschenen Ort den Rücken zuzukehren. Es war an der Zeit, weiterzuziehen.

In ihrer Zukunft wartete Wein.

* * *

Eine erhaben wirkende Elfin mit brauner Haut und hellem Haar schreitet durch den Wald am Rand eines leeren, unbestellten Landstrichs. Sie hält inne – um auf etwas zu warten? Ein Ausdruck der Konzentration erscheint auf ihrem Gesicht. Sie schließt die mandelförmigen Augen. Zwischen ihren Fingern erwächst eine Kugel aus funkelnder Energie.

Die Kugel verblasst, und eine dunkle Linie erscheint in der Luft. Energieranken kräuseln sich davon weg und bilden einen Wirbel aus violettem Licht.

Aus dem Wirbel tritt eine zweite Elfin. Ihr Haar ist rabenschwarz, ihr Gesicht beinah völlig weiß. Die Funken erlöschen hinter ihr, die Linie verschwindet. Die beiden Elfinnen begrüßen sich, indem sie je eine Hand mit gespreizten Fingern hochhalten.

»Avud«, sagt die erhabene Elfin.

Die blasse Elfin schüttelt den Kopf. »Ich nehme diesen Namen nicht an, Königin von Seder. Wir waren nie verloren. Es sind die Frauen in Eluanethra, die ahnungslos darüber bleiben, was wahre Macht ist. Mein Volk sucht die Erfüllung unserer wahren Macht lediglich durch unsere Herrin und Gebieterin Lilith.«

Die erhabene Elfin schreckt bei der Erwähnung des Namens zurück. Ihr Gegenüber lacht und lässt schlangenartige Fänge aufblitzen. »Was kann ich für dich tun, Verlorene?«, fragt die erhabene Elfin.

Die blasse Elfin beugt sich vor. »Ich suche eine Auskunft über die Ta’ah, Ellisandrea. Die Zwergenzauberer sprechen nicht mit uns, aber ich weiß, dass du eine Beziehung zu ihren Vettern unterhältst. Sie verstecken ein Artefakt, das Lilith sehr schätzen würde.«

Ellisandrea schüttelt den Kopf. »Die Zwerge dieser Zeit erkennen kaum die Existenz ihrer Brüder an. Außerdem kümmert mich nicht, was deine Herrin schätzen würde. Ich werde dir niemals dabei helfen, das zu finden, was du suchst.«

Die blasse Elfin gibt ein kehliges Knurren von sich und bleckt erneut die Fänge. »Na schön. Aber wisse, dass ich den Gegenstand für meine Königin auf jeden Fall finden werde. Deine Weigerung ändert nichts – außer, dass du mich zwingst, ganz Trimoria umzugraben.«

Sie schwenkt den Arm. Dieselben violetten Blitze wie zuvor erscheinen um sie herum, und die blasse Elfin verschwindet.

Ellisandrea schüttelt den Kopf. »Was hat deine böse Herrin nur mit dir angestellt, Verlorene?«

Grelles Weiß blitzte auf.

Ellisandrea verteidigt den Eingang zu einer großen unterirdischen Kammer. Mit einem magischen Schild stemmt sie sich dem Ansturm eines Dämons entgegen, der sie überragt. Die Haut des Dämons ist von den Angriffen der Elfin aufgerissen, und ihr Kampf hat die Felswände um sie herum beschädigt. Der Dämon erspäht einen Spalt in der Wand und hechtet hinein.

Der Boden beginnt zu beben. Die Elfin taumelt zurück, als Staub aus dem Spalt schießt. Dann taucht der Dämon wieder auf, knisternd vor mystischer Energie. Er hat plötzlich eine Kugel aus glühendem Weiß, die wie ein Herz pulsiert. Der Dämon hat einen triumphierenden Ausdruck im Gesicht.

Aber die Miene schlägt erst in Überraschung um ... dann in Schmerz. Sein Körper knackt. Seine Haut bricht auf. Dampf strömt zischend aus seinem Inneren.

Schwarze Energieströme brechen aus der Kugel hervor und pflügen durch den Dämon. Ein schwarzer Kranz bildet sich um seinen Kopf, und züngelnde Flammen blitzen in einem sich ausdehnenden Strom von Macht.

Eine Dampfwolke verhüllt den Dämon, aber die Geräusche von reißendem Fleisch und berstenden Schuppen sind ebenso deutlich zu hören wie der widernatürliche Schmerzensschrei.

Die Kugel fällt und rollt auf Ellisandrea zu. Sie schnappt sie sich und rennt auf den Ausgang zu. Hinter ihr stürzt die Kammer ein, und Gelächter dröhnt hinter ihr her.

Grelles Weiß blitzte auf.

In der Vision fliegt sie durch den nebelverhangenen Wald, wird langsamer und kreist, als sie eine Lichtung erreicht. Auf der Lichtung befinden sich ein kleines Holzgebäude ... und ein dunkler, schwarzer Altar.

Der Altar gibt einen langsam pulsierenden Schein ab.

In der Vision bewegt sie sich näher und näher hin. Das Pochen steigert sich. Bald nimmt die dunkle Struktur des Steins alles ein, und der dröhnende Herzschlag wird ohrenbetäubend.

Der Altar erzittert durch die Schwingungen, und ein Geysir giftiger Dämpfe schießt daraus hervor und verhüllt die Szene vollständig.

Arabelle schrie auf, als sie aus dem Bett sprang. Ihr Nachthemd war schweißgetränkt.

Die Stimme eines Leibwächters rief von draußen herein. »Prinzessin! Geht es Euch gut?«

Sie sah sich im Zelt um und versuchte, ihr Herz zu beruhigen. »Ja, alles in Ordnung. Ich ... hatte nur einen Albtraum. Tut mir leid.«

»Ihr müsst Euch für nichts entschuldigen, Prinzessin. Wenn Ihr irgendetwas braucht, gebt einfach Bescheid.« Die Schritte des Mannes entfernten sich.

Wenn ich irgendetwas brauche, soll ich einfach Bescheid geben ...

Sie brauchte tatsächlich etwas: eine Erklärung dieser Visionen. Waren sie echt? Wenn ja, handelte es sich um Vorahnungen der Zukunft oder Begebenheiten aus der Vergangenheit? Und warum ereilten sie Arabelle überhaupt?

Sie hatte so viele Fragen und niemanden, an den sie sich wenden konnte. In der Karawane gab es keine Seher. Nicht mehr seit ... seit ihrer Mutter.

Als Arabelle mit ihren Übungen begann, wünschte sie – nicht zum ersten Mal –, ihre Mutter könnte bei ihr sein.

* * *

Als sie am nächsten Tag weiterreisten, fragte Arabelle ihren Vater, wie es ihrer Mutter gelungen war, schlau aus den eigenen Visionen zu werden.

Er lachte. »Gar nicht, glaube ich. Deine Mutter hat viel Zeit damit verbracht, über ihre Visionen nachzudenken, aber sie ist fast immer völlig ratlos geblieben. Die Antworten haben sich so gut wie immer erst dann offenbart, wenn der richtige Moment gekommen war.«

»Aber wie konnte sie ihre Visionen nutzen, wenn sie erst viel später verstanden hat, was sie bedeuten sollten?«

Vater drehte sich im Sattel und lenkte sein Pferd näher zu ihrem. Er beugte sich zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr. »Hast du Visionen, meine Blume?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe irgendetwas. Aber es ist schwer, sicher zu sein, was eine wahre Vision und was ... nur ein Traum ist.«

Ihr Vater nickte. »So war es auch bei deiner Mutter. Genau diese Frage hat sie immer wieder frustriert. Vielleicht besitzt du die Gabe. Falls ja, wird es die Zeit weisen. Hab Geduld. Wenn du die Wahrheit erfahren musst, wird sie sich dir offenbaren.«

* * *

In jener Nacht litt Arabelle erneut unter unruhigen Träumen – aber jedes Mal, wenn sie erwachte, entzogen sie sich ihr wie flüchtige Nebelschwaden. Erst in der letzten Schlafphase der Nacht wurde sie von einer Vision ereilt, die sie nicht vergessen konnte.

Der blauäugige Junge sitzt in einem Boot, das auf einem Fluss treibt. Bei ihm ist eine Frau, wahrscheinlich seine Mutter, und sie hat eine sehr kleine Sumpfkatze auf dem Schoß. Sie liefern sich ein Wettrennen mit einem anderen Boot, in dem der Vater und der Bruder des Jungen sitzen.

Der Junge und seine Mutter gewinnen, und sie schlagen zur Feier die Handflächen aneinander.

Alle vier lenken ihre Boote in eine Höhle und steigen aus. Sie lachen miteinander, während sie ihre Sachen holen.

Dann beginnt die Erde, heftig zu beben. Die Familienmitglieder wirken panisch, verängstigt, und sie klammern sich verzweifelt aneinander fest ...

Arabelle erwachte abrupt und mit einem Schrei, der ihr im Halse stecken blieb.

Sag, dass es nicht wahr ist. Bitte, es darf nicht wahr sein ...

Sie griff auf ihre innere Sicht zurück und betete, den Jungen zu finden, der über ihr schwebte, wie bisher immer.

Und sie fand ihn. Er lebte. Allerdings nicht mehr über ihr. Arabelles innere Sicht wies nach Norden.