Eine Grosse Entscheidung

Die graue Stute schob sich an den anderen Pferden vorbei und versuchte, sich die Quizoafrucht in Grishams Hand zu schnappen. Sie drängte sich immer vor.

»Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist, du gieriges Biest.«

Er schob ihre Nase behutsam weg und verfütterte die Quizoafrucht an eine weiße Stute, die geduldig gewartet hatte.

»Grisham!«

Nicholas humpelte auf die Koppel zu und schonte dabei deutlich sein geschientes Bein.

Grisham bahnte sich den Weg durch die Pferde und ging seinen Freund am Rand der Koppel entgegen. »Schön, dich wieder auf den Beinen zu sehen! Wie geht es dir?«

Nicholas lächelte. »Den Umständen entsprechend.« Er deutete mit dem Kopf auf die Pferde. »Wie ich sehe, hast du Freunde gefunden.«

Grisham tätschelte abwesend eine Nase, die sich auf seine Schulter gelegt hatte. »Sie genießen ihre Leckerbissen und scheinen es demjenigen zu danken, der sie pflegt.«

»So sind viele von uns.« Nicholas zwinkerte. »Tja, ich dachte mir, ich sage kurz hallo, da ich gerade in der Gegend bin. Ich habe versprochen, mich bei Khalid zu melden, sobald ich laufen kann. Sofern man es so nennen kann.«

»Du machst das toll, Nicholas.«

»Danke. Ich fühle mich noch älter, als ich bin.« Er grinste, dann humpelte er davon.

Grisham kümmerte sich noch um die Pferde, als er einen Tumult hörte. Er drehte sich um und erblickte eine Gruppe gehetzter Soldaten, die Arabelle verfolgten. Sie rannte mit wild flatternden Haaren und Gewändern auf die Koppel zu. Mit Anlauf sprang sie über das Tor und stieß beinah mit Grisham zusammen, als sie zum Stehen kam.

»Was zum ...«, setzte Grisham an.

Arabelle lachte hysterisch, dann flüsterte sie ihm ins Ohr: »Er ist da.«

Arabelles Lächeln war so ansteckend, dass Grisham nicht anders konnte, als ebenfalls zu lächeln. »Wer ist da?«

»Der Junge aus meinen Visionen. Er ist nördlich von hier. Gar nicht weit weg.« Die Gardisten hatten am Tor der Koppel angehalten. Tabor höchstpersönlich drängte sich an ihnen vorbei und betrat die Koppel. »Prinzessin, wir haben das schon besprochen. Zu Eurer eigenen Sicherheit müsst Ihr in Sichtweite Eurer Leibwächter bleiben. Euer Vater hat mich ersucht, ihn zu benachrichtigen, wenn Ihr ihnen das nächste Mal ausbüxt. Ich flehe euch an, zwingt mich nicht dazu.«

»Es tut mir leid, Tabor«, entschuldigte sich Arabelle, obwohl sie überhaupt nicht bedauernd wirkte. »Ich war nur so aufgeregt, weil ich mit meinem Freund reden wollte. Ehrlich, ich wollte deinen Männern nicht entwischen.«

Tabor zeigte sich unverkennbar verärgert. »Ganz gleich, was Ihr wolltet, bitte versteht doch, dass Eure Leibwächter eine Aufgabe zu erledigen haben. Und dass sie nicht so ... flink sind wie Ihr. Wenn schon nicht für Euch selbst, dann tut es für sie. Oder für mich.«

»Ja, selbstverständlich. Tut mir leid, Tabor.«

Mit einem Kopfschütteln verließ der Soldat die Koppel.

Arabelle wandte sich sofort wieder an Grisham. »Ist das zu glauben? Er ist hier!«

Grisham erinnerte sich nur vage an die Geschichte, die sie ihm über den Traum von dem blauäugigen Jungen erzählt hatte. Er verstand nicht, warum das eine so aufregende Neuigkeit war. »Ich meine ... das ist toll. Aber warum kommst du deshalb angerannt, als wären Dämonen hinter dir her?«

Arabelle schaute zurück zu den Soldaten und sprach mit leiser Stimme. »Weil ich deine Hilfe brauche. Ich reite mit zwei Pferden nach Norden, finde ihn und bringe ihn hierher. Du musst mir eine Ablenkung verschaffen, damit ich mich mit den Pferden unbemerkt von der Karawane davonstehlen kann. Würdest du das für mich tun?«

»Prinzessin, bist du sicher? Warum nimmst du nicht einen Leibwächter mit? Bestimmt würde es dir dein Vater erlauben.«

Arabelle schüttelte den Kopf. »Vater ist heute Morgen mit einem Spähtrupp aufgebrochen, und Tabor würde mir nie erlauben, die Karawane ohne ausdrückliche Erlaubnis meines Vaters zu verlassen. Das ist ein Fall, in dem ich um Vergebung statt um Erlaubnis bitten muss.«

»Das scheinst du in letzter Zeit oft zu tun.« Grisham kratzte sich am lichten Bartflaum. Schließlich seufzte er. »Na schön. Wann brauchst du diese ... Ablenkung?«

Arabelle grinste. »Gib mir zehn Minuten. Ich treffe mich mit Maggie bei den Bekleidungszelten. Dort schüttle ich meine Leibwächter ab, dann komme ich hierher zurück. Danke, Grisham. Vielen Dank!« Sie beugte sich vor, küsste ihn auf die Wange und rannte ansatzlos davon. Ihre Leibgarde hastete hinter ihr her.

* * *

Bevor die Prinzessin zurückkehrte, beseitigte Grisham aus der Koppel alles, woran sich die Pferde verletzen könnten. Dann tätschelte er die Nase seines Gebirgsponys. »Ich hoffe, du verzeihst mir, aber ich verdanke ihr so viel. Da kann ich ihr das nicht abschlagen.«

Er wurde gerade fertig, als er ein Tippen auf der Schulter spürte. Als er sich umdrehte, stand Arabelle unmittelbar hinter ihm. Sie trug dieselbe Aufmachung wie in der Nacht, in der sie ihn gerettet hatte.

»Beeindruckend. Ich habe nicht mal gehört, wie du die Koppel betreten hast.« Er deutete mit dem Kopf auf die Pferde. »Nur zu, such dir welche aus, es sind alles gute Tiere. Nur lass mir mein Gebirgspony. Von ihm trenne ich mich ungern.«

Arabelle legte die Finger erst an die Lippen, dann berührte sie damit seine Stirn. »Danke.«

Sie wählte zwei Hengste aus, beide fast sechzehn Hand hoch. Rasch bereitete sie die Pferde vor und zurrte die Sättel fest. Dann winkte sie Grisham flüchtig zu, eilte mit den Tieren durch das Tor der Koppel hinaus und bog in Richtung des Wohnviertels ab.

Prinzessin, Köchin, meisterliche Reiterin und Meuchlerin. Ich hoffe, dieser blauäugige Junge ist ihrer würdig.

Es war an der Zeit für Grishams Ablenkung. Er entriegelte das Tor der Koppel und ließ es einen winzigen Spalt offen. Dann ging er in den hinteren Teil, zapfte die Macht in sich an und stellte sich die schwarze Sumpfkatze namens Mitternacht vor.

Die vertrauten schmerzhaften Empfindungen rasten durch seinen Körper, als Gelenke aus den Pfannen sprangen, sich Knochen verlängerten und Fell wuchs.

Wie erwartet gerieten die Pferde in Panik, als sie die Sumpfkatze in ihrer Koppel bemerkten. Grisham musste aus dem Weg springen, um nicht zertrampelt zu werden. Die Pferde stürmten auf das Tor zu, und ein gut platzierter Huftritt stieß es auf. Die Herde rannte hinaus und stob durch die Karawane auseinander.

Das würde die Soldaten eine Weile beschäftigen, auch wenn es Grishams Ruf, sich gut um seine vierbeinigen Schützlinge zu kümmern, wenig zuträglich sein würde.

Er wollte sich gerade in sich selbst zurückverwandeln, als seine Katzenaugen einen sehr großen Mann erblickten, der etwa 50 Fuß entfernt stand. Als Einziger beobachtete er nicht die fliehenden Pferde, sondern starrte aufmerksam auf das Wohnviertel.

Grisham sträubte sich das Fell im Nacken. Er kannte diesen Mann. Kannte ... und hasste ihn. Obwohl er nicht aus dem Gedächtnis kramen konnte, warum.

Und dann fiel es ihm ein. Es war der Mann, der Azazel an jenem schicksalhaften Tag begleitet hatte, an dem sein Vater ermordet wurde. Der Mann, der die Angst des jungen Grisham gerochen hatte, als er in der Höhle hinter dem von seinem Vater gewirkten Zauberspruch versteckt kauerte.

Und nun war er hier, mitten in der Karawane, die Grisham als sein neues Zuhause betrachtete.

Grisham brüllte vor Wut und Trotz.

Der Mann drehte sich zu ihm um, knurrte und zog sein Schwert.

Grisham fuhr die Krallen aus. Ich bin nicht mehr wehrlos, Zweibeiner.

Sein Katzengeist wollte unbedingt kämpfen und Rache üben.

Aber sein Ta’ah-Geist war noch im Hintergrund vorhanden und sprach eine Warnung aus.

Wenn diese Kreatur hier ist, könnte auch Azazel in der Nähe sein. Und dann sterbe ich.

Grishams Herz pochte wild in der großen Brust, und jeder Schlag bestätigte es ihm.

Ich muss fliehen.

Und nicht nur vor diesem Zweibeiner. Er musste ihnen allen entkommen. Zweibeiner in großer Zahl waren gefährlich.

Als der knurrende Hüne die Waffe fester umklammerte und vorrückte, sprang Grisham davon und rannte los. Ungestüm raste er durch die Menge der panischen Umstehenden und steuerte den einzigen ihm bekannten Ort an, der Sicherheit verhieß.

Die Sümpfe.

* * *

Grishams Schultern schmerzten vor Überlastung. Es war ihm gelungen, die Zweibeiner weit hinter sich zu lassen. Mittlerweile schnappte seine Nase den modrigen Geruch des Sumpfs vor ihm auf.

Er schnupperte nach gekennzeichneten Bäumen und entdeckte die nicht mehr frische Duftnote einer anderen Katze.

Verlassenes Gebiet?

Er wollte keinen Ärger verursachen, ohne mehr über diesen Ort zu erfahren. Und er war zu müde zum Kämpfen. Also brüllte er fragend, setzte sich auf die Hinterbeine und wartete.

Bald erschien eine dunkle Gestalt aus dem Sumpf.

Das ist sie.

Das vertraute Weibchen schlich näher und knurrte zum Gruß. »Freut mich, dich wiederzusehen. Bist du fertig mit den Zweibeinern?« Sie besaß schlanke Linien und einen gesunden Körperbau. Grisham spürte ein Schnurren tief in der Brust.

»Ich wollte sehen, ob der Sumpf ein guter Ort für mich ist. Außerdem habe ich daran zurückgedacht, was du gesagt hast, und ich möchte mit dir und dem Familienoberhaupt sprechen.«

Das Weibchen stieß mit der Schulter gegen seine. »Das geht nicht. Nachdem ich von dir aufgebrochen bin, habe ich meinen Gefährten dort gefunden, wo du es mir beschrieben hast. Er ist gestorben, bevor wir den Sumpf erreichen konnten. Er war unser Anführer. Bei seinem Tod haben sich die Überreste seiner Familie aufgelöst. Aber... wenn du willst, könnten du und ich eine neue Familie gründen. Ich bin bereit für Junge.«

Instinktiv stupste er sie, knabberte an ihrem Hals und rieb die Wange an ihrer. Sie schnurrte.

»Wir müssen uns ein Gebiet außerhalb der Reichweite der Zweibeiner suchen«, sagte er knurrend.

Sie rieb sich an ihm. »Komm mit. Ich kenne einen Ort, an den wir gehen können.«

Während sie über die verstreuten Wasserpfützen sprangen, fragte sie: »Wie soll ich dich nennen?«

Kurz überlegte er. Aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht an seinen Zweibeinernamen erinnern. Aber an den des früheren Anführers.

»Nenn mich Mitternacht.«