Argwohn

Der Tag hatte recht gewöhnlich begonnen. Kirag schritt wie üblich die Karawane entlang und hielt Ausschau nach jemandem, der fehl am Platz wirkte. Normalerweise führten diese Spaziergänge zu nichts. Diesmal jedoch heftete sich sein Blick auf eine dunkel gekleidete Gestalt, die mit geübten Bewegungen von Schatten zu Schatten huschte. Das erschien ihm interessant.

Die Gestalt führte ihn zu den Koppeln, von wo sie zwei Pferde holte und in Richtung des Wohnviertels mitnahm. Doch bevor Kirag ihr folgen konnte, spielten die restlichen Pferde in der Koppel verrückt, brachen das Tor auf und stoben überallhin davon. Irgendwie war eine Sumpfkatze in die Koppel gelangt. Woher war diese Kreatur so unverhofft gekommen?

Die Augen der Katze starrten ihn eindringlich an. Kirag zog das Schwert aus der Scheide, stellte sich der unausgesprochenen Herausforderung und marschierte langsam auf das Tier zu. Die Katze spannte den Körper zum Sprung an, und er wappnete sich. Aber statt anzugreifen, ergriff das verdammte Vieh die Flucht.

Kirag juckte es immer noch nach einem Kampf. Er rannte in die Richtung des geheimnisvollen Schemens los. Flüchtig erhaschte er einen Blick auf die Gestalt, diesmal ohne die Pferde. Er nahm die Verfolgung auf. Der Schemen betrat ein Zelt und kam wenige Herzschläge später wieder heraus.

Kirag folgte der Gestalt weiter. Die fließenden Bewegungen erinnerten ihn an einen Elf – was Wut in ihm entfachte.

Und bevor er sich versah, schwang sich der Schemen wieder auf ein Pferd, verließ die Karawane durch ein Seitentor und ritt nach Norden davon. Kirag knurrte zornig, da er wusste, dass er den Elfen ohne eigenes Reittier niemals einholen würde.

Warum nach Norden? , fragte er sich. Wenn es sich um einen Elf handelte, warum dann nicht nach Osten in Richtung des Walds? Nördlich ihres derzeitigen Aufenthaltsorts befand sich nur der Sumpf.

Warum war überhaupt ein Elf hier?

Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zurück zu dem Zelt, das der Elf betreten hatte. Es wurde von einem Gardisten bewacht, der sich jedoch als nachlässig und unfähig erwies. Der Mann war so mit seinem Gebäck beschäftigt, dass sich sogar der hünenhafte Kirag mühelos an ihm vorbei ins Zelt schleichen konnte.

Innen erwies es sich als üppig ausgestattet. Ein großes Bett mit weicher Matratze. Eine Truhe aus Holz, besetzt mit bunten Steinen. Eine verzierte Badewanne. Ein richtiger Schreibtisch. Und an dem Tisch saß eine junge Frau mit offenem Mund. Sie brachte kein Wort heraus, als ihr alle Farbe aus dem Gesicht entwich.

Kirag hob die Arme, zeigte ihr die leeren Hände und trat auf sie zu. »Ich will dir nur eine Frage stellen. Antworte mir, dann bin ich so schnell wieder weg, wie ich gekommen bin.«

Die Frau nickte zittrig.

»Wer war die dunkel gekleidete Gestalt, die eben erst hier gewesen ist?«

Die Augen der Frau weiteten sich. Kirag merkte ihr an, dass er einen Nerv getroffen hatte. Sie wusste etwas.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern und flüsterte mit belegter Stimme: »Ich weiß es nicht. Sie hatte sich im Zelt geirrt ... Herr.«

»Sie? Das war eine Sie?«

Die Frau schnappte nach Luft. Panik huschte über ihre Züge. »Nein, ich meinte er . Der Mann hatte sich verirrt und das falsche Zelt betreten.«

Wut brodelte in Kirags Eingeweiden. Die junge Frau log offensichtlich wie gedruckt. »Du hast eine einfache Wahl, junges Ding. Sag mir die Wahrheit, oder du wirst nicht lang genug leben, um deinen Fehler zu bereuen.«

Ihre Reaktion kam nicht unerwartet. Sie holte tief Luft, wappnete sich für einen Schrei.

Kirag stürmte vorwärts, klatschte ihr die riesige Pranke über den Mund und brachte sie zum Schweigen. Sie fuchtelte herum, dann schob sie eine Hand in eine halb geöffnete Schreibtischschublade und zog einen Dolch heraus. Wild, aber vollkommen unfähig hieb sie auf ihn ein.

Kirag lachte, als er ihr Handgelenk packte. Er zog sie am Arm über den Schreibtisch, während er mit der anderen Hand weiter ihr Gesicht bedeckte.

Dann warf er einen gründlichen Blick auf den funkelnden, von Runen überzogenen Dolch. Eine solche Waffe hatte er schon einmal gesehen.

Von Elfen gefertigt.

Vor Wut sah er Rot. Er verlor die Beherrschung über sich, und seine Hand drückte zu. Die Knochen der jungen Frau knackten wie Zweige, ein überaus befriedigendes Geräusch. Unbekümmert ließ er ihren leblosen Körper vor seine Füße fallen.

Sie würde nie wieder jemanden belügen.

* * *

Am nächsten Morgen verbreitete sich die Neuigkeit über einen Mord wie ein Lauffeuer durch die Karawane. Kirag konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er dem Wehklagen der Frauen und der Empörung der Männer lauschte. Sie hatten eine Elfin in ihrer Mitte versteckt. Für einen solchen Verrat an Azazels Vollstreckern galt es, einen Preis zu bezahlen.

Etwas an den Gerüchten jedoch überraschte Kirag. Es hieß, das Opfer wäre die Prinzessin höchstpersönlich.

Das fand er interessant.

Kirag trat den Weg zurück zu dem Zelt an, in dem er die törichte junge Frau zerquetscht hatte. Natürlich herrschte dort reges Treiben. Dutzende Soldaten hatten sich eingefunden. Dahinter beobachteten mindestens hundert Bürger mit verzweifelten Mienen das Geschehen, während sich zunehmend wildere Gerüchte über das Schicksal ihrer geliebten Prinzessin verbreiteten.

Kirag drängte sich durch die Menge. Man hatte einen Bereich um das Zelt abgesperrt. Dort standen Tabor und der Scheich. Zu ihren Füßen kauerte der schlampige Gardist, der das Zelt so unfähig bewacht hatte. Der Mann kniete mit dem Hals auf einem Holzklotz. Seine Arme hatte man unten an den Klotz gefesselt. An der Schläfe des Mannes hatte sich ein großer Bluterguss gebildet.

Kirag bahnte sich den Weg zur nächstgelegenen Todeskralle. »Was ist hier los?«

Der Meuchler beobachtete das Geschehen sichtlich vergnügt, doch als er Kirags Stimme hörte, straffte er jäh die Schultern. »H-Herr! Ich ... ich habe gehört, der Gardist mit dem Hals auf dem Klotz hatte den Auftrag, das Zelt der Prinzessin zu bewachen, und sie wurde ermordet.«

Ein Schaulustiger in der Nähe hörte die Worte und warf ein: »Das ist mir anders zu Ohren gekommen. Ich habe gehört, dass die Zofe der Prinzessin umgebracht wurde und die Prinzessin selbst vermisst wird.«

»Was hat man mit dem Wachmann vor?«, fragte Kirag den Schaulustigen. Der Mann spuckte auf den Boden. »Dieser Schwachkopf hat bei der wichtigsten Aufgabe versagt, die ihm zuteilwerden konnte – die Bewachung der Prinzessin, des Lichts unseres Volks. Der Scheich wird ihn mit Sicherheit zum Tod verurteilen.«

Kirag nickte. Tod wegen Unfähigkeit. Vielleicht habe ich diesen schnauzbärtigen Narren falsch eingeschätzt.

Wie sich herausstellte, sparte sich der Scheich die Mühe einer Verurteilung oder Ansprache. Er nickte Tabor nur zu. Der Anführer der Garde zog seinen Säbel und trennte den Wachmann mit einem schnellen Hieb von seinem Kopf. Die Umstehenden verstummten, als der Schädel auf den Boden kullerte.

Mit einem Lächeln im Gesicht trat Kirag den Weg zurück zu seinem Zelt an, um über das Rätsel nachzugrübeln.

Das war das Zelt der Prinzessin. Aber ich habe nicht die Prinzessin selbst getötet.

Wie konnte ein von Elfen gefertigter Dolch im Zelt der Prinzessin landen? Bestand die Möglichkeit, dass die Prinzessin selbst die dunkel gekleidete »Elfin« gewesen war?

Und was hatte es mit den Pulvern und Strohhalmen auf sich, die Kirag nach der Ermordung der Zofe im Zelt der Prinzessin gefunden hatte? Plötzlich wünschte Kirag, er hätte die zweite Truhe zu öffnen vermocht, die er verschlossen unter dem Bett gefunden hatte. Unter anderen Umständen hätte er sie mitgenommen oder einfach verlangt, dass man sie ihm ausgehändigte. Aber in Anbetracht des Mords hatte er es für das Beste gehalten, sich davonzuschleichen. Nun fragte er sich, welche Antworten sie enthalten mochte.

Das sind zu viele unbeantwortete Fragen. Ich muss mir diese Prinzessin genauer ansehen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.