Seit den Ereignissen rund um das vorübergehende Verschwinden der Prinzessin hatte Kirag nach einer Möglichkeit gesucht, mit ihr zu sprechen.
Allerdings wurde sie seither jederzeit von mindestens einem halben Dutzend Soldaten bewacht. Und die Männer waren völlig anders als der faule Sack, der sie zuvor bewacht hatte. Sie hatten einen leidenschaftlichen Ausdruck in den Augen. Nichts entging ihrer Aufmerksamkeit, und niemand konnte sich unbemerkt von ihnen dem Zelt der Prinzessin auch nur nähern.
Wenigstens hatte die junge Frau wieder begonnen, das Zelt zu verlassen, begleitet von einem anderen dürren Mädchen. Allerdings wurden sie dabei ständig von sechs gepanzerten Männern umringt. Es würde einige Mühe kosten, allein mit der Prinzessin über ihre nächtlichen Ausflüge und den von den Elfen gefertigten Dolch zu reden, den er immer noch bei sich trug.
Einer der Meuchler der Todeskrallen steckte den Kopf in Kirags Zelt. »Ungewöhnliches Treiben beim Zelt der Prinzessin.«
Vielleicht ist das meine Gelegenheit.
Kirag sprang von seinem Feldbett auf. »Gute Arbeit. Ein Duo soll in Sichtweite des Zelts in Stellung gehen, falls ich zusätzliche Augen oder Ohren brauche.« Der Mann zog sich zurück.
Kirag schnallte sich sein Schwert um, zog die Stiefel an und trat hinaus in die helle Morgensonne.
Er stellte fest, dass sich ein deutlich größerer Trupp Soldaten als sonst am Zelt der Prinzessin versammelte. Tabors Stellvertreter Khalid erteilte Anweisungen und ordnete die Männer in Formation.
Kirag hatte Khalid beobachtet und wusste, dass er ein tödlicher Schwertkämpfer war, so gut wie einige von Azazels besten Todeskrallen. Kirag sehnte sich geradezu nach einem Vorwand, um gegen den Mann zu kämpfen. Wer gewinnen würde, stand außer Frage. Aber er würde Khalids Demütigung genießen, wenn er besiegt wurde, ohne dass Kirag auch nur außer Atem geriete.
Lange, dunkle Haare erschienen zwischen den Soldaten, als die Prinzessin ihr Zelt verließ. Dann schloss sich der Schutzkreis um sie und versperrte Kirag die Sicht.
Prinzessin, wohin gehst du, dass du so viele Leibwächter brauchst?
* * *
Die Prinzessin und ihre Begleitgarde legten die kurze Strecke nach Aubgherle zu Fuß zurück, was Kirag die Verfolgung erleichterte. Tatsächlich hätten ahnungslose Beobachter nicht bemerkt, dass er ihnen überhaupt folgte – er spazierte lediglich den Hauptweg entlang.
Natürlich hatte er ein Duo voraus in die Stadt geschickt, um die Dinge dort für ihn im Auge zu behalten.
Anscheinend war das Ziel der Marktplatz von Aubgherle. Schon bald drängte sich die Begleitgarde der Prinzessin durch die Menge der Bürger und Händler. Kirag konnte sich die Mühe sparen.
Durch seine schwarze Rüstung und seine beeindruckende Größe neigten die Leute dazu, ihm von selbst aus dem Weg zu gehen. Der Nachteil daran war, dass es sich schwierig gestaltete, unscheinbar zu bleiben. Deshalb musste er Abstand wahren, damit seine Verfolgung nicht auffiel.
Vielleicht war das Ziel doch nicht der Markt, denn sie bogen nach rechts, durchquerten einen weniger belebten Teil des Markts und verließen ihn auf der anderen Seite. Als das Gebrüll der Händler, die ihre Waren feilboten, allmählich verklang, fragte sich Kirag, was dieser Ausflug sollte.
Wohin führst du mich, Prinzessin?
Sie steuerten nach Süden, wieder aus der Stadt und auf einen Weg, den die südlichen Bauerngemeinden benutzten, um ihre Waren zum Markt zu bringen. Die Menschenansammlungen lichteten sich stark, und offenes Ackerland beherrschte die Umgebung. Kirag würde noch auffälliger werden, und es würde schwierig sein zu erklären, was er hier wollte. Warum sollte auch er südlich von Aubgherle unterwegs sein? Also vergrößerte er den Abstand zu seiner Beute.
Plötzlich zogen die Leibwächter der Prinzessin ihre Waffen, rannten vorwärts und packten einen schwarz gekleideten Mann, der sich im Gebüsch versteckt hatte. Sie warfen ihn zu Boden, und jemand verpasste ihm einen kräftigen Tritt gegen das Kinn. Der Mann erschlaffte.
Ein Knurren drang über Kirags Lippen. Dieser Mann gehörte zu seiner Truppe! Er hatte überall in der Stadt Leute wie ihn postiert, die nach Fremden Ausschau halten sollten. Wie konnten die Männer des Scheichs es wagen, einen Vollstrecker Azazels anzugreifen?
Dann bemerkte er ein Aufflackern von Bewegung tief in der Wiese neben dem Pfad. Einer der Meuchler seiner Todeskrallen versteckte sich mit einer Armbrust im Gras. Plötzlich raste der Pfeil los und schlug in den Rücken eines der Soldaten der Karawane ein. Sofort wurden von nahen Dächern zwei weitere Schäfte abgefeuert und spickten andere Gardisten der Karawane. Dort musste sich das Duo verbergen, das Kirag vorausgeschickt hatte.
Er knurrte frustriert. Diese Karawanennarren verdienten den Tod dafür, was sie getan hatten. Aber wer bei klarem Verstand griff vier zu eins zahlenmäßig unterlegen an?
Ich bin von Schwachköpfen umgeben.
In dem plötzlich entstandenen Wirbel erhaschte Kirag einen flüchtigen Blick auf ein Kleid und das Aufblitzen eines gezogenen Dolchs. Die Prinzessin hatte sich von ihren Beschützern gelöst, huschte an ihnen vorbei, als sie teils ihren Gefallenen zu Hilfe eilten, teils das idiotische Duo ins Visier nahmen, das über die Dächer davonrannte. Nur Khalid besaß genug Geistesgegenwart, um bei seiner Schutzbefohlenen zu bleiben.
Auch Kirag hetzte hinterher. Verblüfft stellte er fest, dass die Prinzessin nicht floh – sie jagte den Meuchler der Todeskrallen, der sich im Gras versteckt hielt. Sie war nicht nur mutig, sondern auch schnell. Und töricht.
Er beschleunigte die Schritte und schloss zu Khalid auf, der gar nicht zu bemerken schien, dass er verfolgt wurde. Kirag hatte bereits das Schwert gezogen. Mit einer schnellen Bewegung schlitzte er dem Leibwächter von hinten über die Oberschenkel und versetzte ihm einen Tritt. Khalid stürzte, schlug mit dem Kopf auf einen Stein und verlor das Bewusstsein.
Kirag lächelte.
So schnell hatte er nicht mit einer Gelegenheit gerechnet.
Allerdings hatte er es im Augenblick auf die Prinzessin abgesehen, und so ließ er den Soldaten zurück. Der Meuchler der Todeskrallen in der Wiese führte sie in Richtung des Walds, der an das Ackerland grenzte. Die Heimat der Elfen.
Die Prinzessin schleuderte einen Dolch auf den Meuchler. Die Klinge schlug tief in seinen Rücken ein. Die Prinzessin rannte mit einem weiteren Dolch an ihm vorbei und schlitzte ihm den Hals auf. Ein grellroter Strahl schoss aus der Wunde.
Die Prinzessin hat Krallen. Faszinierend.
Kirag duckte sich im Gras, um ihr weiteres Vorgehen zu beobachten.
Sie hielt inne, um sich zu vergewissern, dass der Meuchler tot war, dann rannte sie in den Wald.
Wieso das? Warum kehrst du nicht um zu deinen Leibwächtern?
Aber er war froh darüber, denn ihm bot sich dadurch eine perfekte Gelegenheit.
Am besten sollte er versuchen, sie abzufangen, bevor sie zu tief in den Wald vordringen konnte. Er schlug einen parallelen Kurs zwischen den Bäumen hindurch ein. Mit seinen langen Schritten konnte er sie mühelos überholen.
Als er vor sie gelangt war, huschte er hinter einen breiten Baum und holte einen der gekennzeichneten Strohhalme heraus, die er aus dem Zelt der Prinzessin mitgenommen hatte. Kirag hatte ihren Inhalt untersucht – und sogar an einer Todeskralle ausprobiert. Daher wusste er, was das Pulver darin bewirkte: Es versetzte ein Ziel fast augenblicklich in tiefen Schlaf. Auch auf das Gedächtnis schien es sich auszuwirken.
Obwohl sich die junge Frau leichtfüßig bewegte, verriet sie ihre schwere Atmung. Kirag hörte, wie sie sich näherte, setzte den Strohhalm am Mund an und pustete in dem Moment, als sie vor ihm vorbeirannte.
Eine Pulverwolke umhüllte sie. Nach einigen hustenden Schritten fiel sie mit dem Gesicht voraus in einen Laubhaufen.
Lachend ging Kirag auf sie zu. »Hallo, Prinzessin. Endlich. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir dich an einen Ort bringen, an dem wir uns unterhalten können. Ich habe ein paar unangenehme, aber gewiss sehr unterhaltsame Fragen an dich, Prinzesschen.«
Bevor Kirag sie erreichen konnte, erschien ein Elf zwischen den nahen Bäumen, in den Händen ein funkelndes Schwert.
»Kirag«, raunte er mit mörderischer Wut in den Augen. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du dich von hier fernhalten sollst. Jetzt bezahlst du für alles, was du getan hast.«
Kirag zog das Schwert. »Castien Galonos«, stieß er knurrend hervor. »Willkommen zu deinem Tod.«
Der Elf schwang die Klinge, bewegte sie so schnell, dass sie die Luft zum Schwirren brachte.
Doch Kirag zeigte sich unbeeindruckt. Grinsend zog er den Elfendolch von seinem Gürtel und hielt ihn hoch. »Erkennst du das, Elf?«
Damit erregte er Castiens Aufmerksamkeit. Und kaum hatte sich der Blick des Elfen auf den Dolch geheftet, warf Kirag ihn – auf die bewusstlose Prinzessin.
Mit beeindruckender Geschwindigkeit hechtete Castien dem Dolch entgegen und schlug ihn aus der Luft. Aber damit – oder zumindest mit dem Versuch – hatte Kirag gerechnet und zielte bereits mit einem mächtigen Hieb auf den aus dem Gleichgewicht geratenen Schwertmeister.
Der Elf wich zwar aus, konnte aber nicht verhindern, dass er zumindest gestreift wurde. Ein paar Blutstropfen sickerten aus dem Ärmel seines Kittels.
Kirag lachte leise. »Das erste Blut habe ich vergossen.«
Der Elf schwang das Schwert wieder in einem schwindelerregenden Muster. Das nervtötende, surrende Geräusch wurde lauter.
Kirag stieß mit dem Schwert zu, um seinen Gegner auf die Probe zu stellen. Der Elf reagierte mit einem blitzschnellen Ausfall; hätte Kirag nicht von vornherein einen Schritt zurück geplant gehabt, er hätte das Schwert vermutlich in die Lunge abbekommen. Stattdessen stach die Spitze der Klinge des Schwertmeisters nur in Kirags Schulter, bevor sie rasant zurückgezogen wurde.
Castien grinste. »Jetzt sind wir beide blutig.«
Der Elf setzte das irritierende Muster der Schwertbewegungen fort, doch diesmal fügte er ein zweites Schwert hinzu, das er von seinem Rücken zog. Das Surren schwoll zu einem hohen Heulen an, und der Elf bedachte Kirag mit einem gehässigen Lächeln.
Kirag kam der Gedanke, dass er sich womöglich zum ersten Mal im Leben einem Kämpfer gegenübersah, der genauso gefährlich war wie er selbst.
Aber seine Wut ließ ihn alle Vorsicht in den Wind schlagen, und seine Sicht färbte sich rot. Kirag trat dem Elfen Erde ins Gesicht und stach mit einem wuchtigen Hieb mitten in die schwirrenden Bewegungen des Stahls. Seine Klinge traf eines der beiden Schwerter und zerschmetterte die Klinge des Elfen beim Aufprall.
Kirag lachte.
Und die Zeit schien sich zu verlangsamen.
Die Trümmer der zerbrochenen Elfenklinge schwebten zu Boden ... gefolgt von dem Schwert, das Kirag in der Hand gehalten hatte.
Wie seltsam , dachte Kirag abwesend.
Er blickte nach unten. Der Knauf eines Schwerts ragte aus seiner Brust.
Die Hand des Elfen packte ihn und riss die Klinge heraus. Blut sprudelte pulsierend aus der Wunde. Und während Kirag hinstarrte, schien ihm der Boden entgegenzurasen.
Als er mit der Wange im Dreck landete, fragte er sich, warum ihm an einem warmen Sommertag so kalt sein konnte.
Wieder hörte er dieses surrende Geräusch.
Und dann nichts mehr.