Irgendwann Anfang Mai 1955 erhielt ich einen Brief von N. aus Kolyma. Darin stand, dass die Polen repatriiert würden. Sobald das Eis geschmolzen sei, würden sie auf den Kontinent und in ihr Land gebracht werden. Es fiel mir schwer, diese Nachricht zu glauben, aber gleichzeitig enthielten auch andere Briefe aus Norilsk, Workuta, Krasnojarsk und Karaganda ähnliche hoffnungsvolle Botschaften: Wir kehren zurück. Die Zeitungen schrieben ebenfalls über Rückführungen, aber nur über die der Deutschen. Adenauer hatte bei seinem ersten Nachkriegsbesuch in der Sowjetunion auf diese Rückführungen gedrungen. Dieses sowjetisch-deutsche Abkommen konnte unsere Verbitterung nur noch weiter steigern. Auf die Deutschen wurde immer mehr Rücksicht genommen als auf uns. Ihre Regierung forderte die Befreiung ihrer Gefangenen – die Regierung in Warschau schwieg. Wer weiß, vielleicht wünschte sich unsere Regierung sogar unseren Untergang, um sich ein für alle Mal der Zeugen der Ereignisse, die sich zwischen dem Westlichen Bug und der alten Grenze Polens abgespielt hatten, zu entledigen. Jeder von uns war der lebende Beweis für die Annexion, die Repression und die Verbrechen. Vielleicht erschien es da besser, diese schmutzigen Seiten der Geschichte für immer umzuschlagen und so alle Spuren zu verwischen. Repatriieren ist so, als würden die verschwundenen, bereits vergessenen, schweigenden Menschen wieder auferstehen. Repatriieren bedeutet, dass sie nicht mundtot gemacht werden, dass man ihnen erlaubt zu sprechen, zu schreien, Zeugnis abzulegen. Es sei denn, es kehrten nur noch menschliche Schatten wieder und keine Menschen mehr. Doch selbst ein Schatten kann noch die Wahrheit enthüllen.
Ich glaubte es nicht, ich konnte es nicht glauben, denn einmal hatte ich schon eine solche Repatriierung miterlebt, und bei der war ich völlig übergangen worden. Ich blieb den begeisterten Briefen von Kollegen gegenüber sehr skeptisch und ebenso gegenüber den Berichten, dass man die Häftlinge, die zu fünfzehn Jahren schwerer Zwangsarbeit verurteilt worden waren, in normale Lager verlegt und ihnen erlaubt habe, sich die Haare wachsen zu lassen, und dass man sie auch nicht mehr zur Arbeit abführte. Es tat sich etwas, denn in Norilsk kam etwas in Bewegung, Menschen waren unterwegs. Aber hier bei mir blieb alles vollkommen ruhig.
Das Leben in der Kolchose verlief in seinem üblichen trägen Rhythmus. Es gab wieder die »Aussaatkampagne«. Niemand sagte einfach »Aussaat«. In der Sprache schimmerte immer ein Krieg durch, ein Kampf um etwas, um das Getreide, um die Ernte, um einen Liter Milch oder ein Kilogramm Wolle. Wir kämpften also tapfer weiter. Ich kannte nun die Gepflogenheiten in der Kolchose zur Genüge, und bekam, wie die anderen auch, einen Sack Weizenkörner zum Säen. Ich verkaufte ihn heimlich einem von Anuschkas Freunden, zu einem nicht allzu schlechten Preis. Ein Mensch sowjetisiert sich schnell und ohne nennenswerte Gewissensbisse. Wie immer schreibe ich verlogene Berichte, die mit falschen Zahlen frisiert sind, und so geht die Zeit dahin. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Zeit fast gänzlich stillsteht, jeder Tag achtundvierzig Stunden hat und eine Woche aus Dutzenden von Tagen besteht. Ich warte auf Neuigkeiten. Ich weiß nur zu gut, dass Warten eine Form der Selbsttäuschung ist, dass es besser ist, nicht zu denken, keinerlei Hoffnungen zu hegen. Trotzdem kriecht die Hoffnung in mich hinein und lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Sollten die anderen weggehen dürfen und ich nicht, werde ich einen Kampf führen müssen, einen richtigen Kampf. Aber wie? Das weiß ich noch nicht. Es gibt mehrere Möglichkeiten: Arbeitsverweigerung, Hungerstreik.
Schließlich begann etwas in Bewegung zu kommen. Ende Juni wurde ich in das Hauptquartier des Kommandanten unserer Region gerufen. Ich fuhr mit bangem Herzen dorthin. Was würden sie sagen? Warum wurde ich einbestellt? Neben der Armee war das MWD zweifellos die am besten organisierte Institution des Landes, aber auch dort war Unordnung unvermeidlich. Ich meldete mich bei der Abteilung für Exilangelegenheiten, wo ich schon viele Male gewesen war. Dort erlebte ich eine Überraschung. »Wer hat dich vorgeladen? Das muss ein Irrtum sein. Da ist nichts dran.« Ich gab nicht auf. Unser Bezirkskommandant wurde angerufen. »Es kann sich nicht um einen Irrtum handeln, das muss geklärt werden.« Man schickte mich von einem Beamten zum anderen, und überall das gleiche Lied: Keiner wusste Bescheid. Ich war schon drauf und dran, dieses feine Gebäude zu verlassen, als ich auf dem Korridor einem Offizier begegnete, der mich schon einmal empfangen hatte. Er erkannte mich wieder und bat mich in sein Büro. Aus einer dicken Mappe zog er ein Blatt Papier heraus.
»Wollen Sie bitte hier unterzeichnen«, sagte er feierlich.
Es war eine Erklärung, dass ich auf der Liste der Rückkehrer nach Polen stand.
»Wenn Sie nicht gehen möchten, sondern sich entscheiden, bei uns zu bleiben, dann ist das Ihr gutes Recht«, ermutigte er mich.
Sicherlich glaubte er selbst nicht, dass ich auf seinen großartigen Vorschlag eingehen würde. Auf meine Frage, wann die Rückführung beginnen werde, antwortete er, er wisse es nicht, man werde mich rechtzeitig in Kenntnis setzen, und ich solle nun erst einmal abwarten. Das war alles.
Ich erzählte von diesen Neuigkeiten niemandem in Budjonowka. Es konnte sich noch so viel ändern. 1948 wurde ein Teil der repatriierten Polen aus Brest am Westlichen Bug doch wieder zurückgeschickt. Warum sollte man sich da Illusionen machen?
So klar ich mir meinen ersten Sommer in Budjonowka noch vor Augen führen kann, so vage (ja fast völlig ausgelöscht) sind die Erinnerungen an diesen zweiten Sommer voller Erwartung. Was geschah in dieser Zeit? Die Belarussen bauten ihre Lehmhäuser. Meine Mitverbannten schlossen die Arbeiten am Stall für die ausgemergelten, hungrigen Kühe ab. Im Büro behielt Walja nach wie vor mit einem säuerlichen Gesicht die Volksfeindin im Auge, was Swirin und Leonid nicht davon abhielt, eine Flasche Schnaps mit dieser Feindin zu teilen. Wenn es die Zeit zuließ, unternahm ich lange, einsame Spaziergänge durch die Felder, hinauf zu dem schlammigen, salzigen See, dem heilende Wirkung zugesprochen wurde. Er sollte Rheuma und Malaria kurieren. Seine Ufer waren jedoch vollständig mit Schilf bewachsen, weshalb das Wasser nur schwer zugänglich war. Die Hitze war schrecklich. Die trockenen Windböen verwandelten die Steppe in ein schwarzes, glasiges Tuch, auf dem die kümmerlichen Getreidehalme vergilbten. Kein Tropfen Regen. Von Zeit zu Zeit veranstaltete das Dorf eine seltsame Parade. Frauen, Kinder und ältere Kolchosbauern liefen als Gruppe umher, schlugen auf leere Eimer, Schüsseln und Blechtöpfe und sangen dazu ein Lied, das ich nicht kannte. Aus allen Häusern kamen die Menschen herbei, um sich das Spektakel anzuschauen und die Prozessionsteilnehmer mit Wasser zu besprengen. Die Prozession sollte Regen herbeirufen. Es war nichts anderes als eine magische Beschwörung, die mit großem Ernst und völliger Überzeugung abgehalten wurde. Der Aberglaube war offenbar stärker als die marxistischen Lehren und sogar stärker als der orthodoxe Glaube. Es gab keine Kirche, es gab keine Popen, Feiertage wurden kaum noch begangen, aber die alte Gewohnheit, Regen heraufzubeschwören, blieb bewahrt. Und dieser Brauch war offenbar wirksam, denn ein paar Tage später fiel Regen in Strömen. Es goss den ganzen Tag, und der Regen überschwemmte die ausgetrocknete, rissige Erde. Doch sobald der Himmel ein wenig aufklarte, verschwanden die Pfützen schnell.
Der September kam, und noch immer geschah nichts. Das Leben ging unverändert weiter. Anuschka, der ich von den Repatriierungen erzählt hatte, schüttelte den Kopf.
»Petrowna«, erklärte sie mir. »Lass dich nicht entmutigen. Das ist alles eine Lüge, das musst du akzeptieren. Du wirst nirgendwohin gehen. Du brauchst hier einen Mann.«
Die Tage wurden immer kürzer und kälter. Die Ernte war vorbei. Anuschka bekam manchmal von irgendwoher einen halben Liter Wodka. Wir tranken ihn dann abends einsam, ohne viel zu reden. Worüber sollten wir hier schon reden? Über die Vergangenheit? Die bestand zu sehr aus Traurigkeit und Tränen. Wir wurden betrunken und gingen schlafen. Ich trank auch mit Leonid und Swirin, manchmal im Büro, ein anderes Mal auf einem Feld zwischen den großen Maisstängeln. Ich fragte mich, was von diesem Mais noch übrig bleiben würde, wenn der Schnee fiel.
Was ist von diesen deprimierenden Tagen noch in meiner Erinnerung geblieben? Leere, uninteressante, bedeutungslose Ereignisse. Ich bin jetzt seit über elf Jahren in diesem Land. Nichts überrascht mich mehr, nichts bereitet mir noch Freude. Ich habe mich an die große Landkarte gewöhnt, die im Kulturhaus hängt und auf der die riesige Sowjetunion mit ihrem Rot fast den ganzen Raum einnimmt, während das mickrige Europa wie ein kleines Geschwür aussieht. »Wo ist euer Polen?«, lachen die Bewohner der Kolchose. Polen ist kaum zu sehen. »Unser Land ist ein großes Land, eine Weltmacht. Wenn wir wollten, könnten wir ganz Europa mit einem Biss verschlingen.« Diese Karte erweckt imperialistische Gefühle. Sie wurde wahrscheinlich eigens zu diesem Zweck angefertigt, denn selbst China sieht auf der Karte klein aus. Muss ich jetzt auch an diese Weltmacht glauben? Kann ich nicht daran glauben?
Ich erinnere mich, dass ich eines Tages irgendeine Kolchosangelegenheit mit Wassili Iwanowitsch besprach. Er war der Stellvertreter von Swirin, ein Mann über sechzig, groß, sehr stämmig, mit einem breiten, aufgedunsenen roten Gesicht. Er hatte bestimmt hohen Blutdruck. Er war ein unglaublicher Vielfraß. Er prahlte immer damit, dass eine Gans zum Mittagessen für ihn nicht mehr als ein Vorspeise sei und er ein ganzes Kalb verputzen könne. Das wäre vielleicht möglich gewesen, hätte es in unserer Kolchose überhaupt Kälber gegeben. Ich selbst habe ihn einmal dabei beobachtet, wie er auf der Basis ein Viertel der gesamten frisch gemolkenen Milch hinunterkippte.
Ich sitze bei ihm daheim, sein Haus ist eines der größten in unserem Dorf. Wassili ist reich, sicherlich reicher als wir alle. Er hat drei Kühe, Milch und Rahm im Überfluss. Er hat mich zum Pfannkuchenessen eingeladen. Seine Frau und seine Tochter backen sie in der Küche. Es dauert nicht lange, schon steht eine Schüssel voller Pfannkuchen auf dem Tisch, und auch ein großer Krug Rahm und ein Teller mit geschmolzenem Schweinefett werden gebracht. Ich nehme zwei Pfannkuchen, fange an sie zu schneiden und beobachte während des Essens meinen Gastgeber. Er taucht seine Pfannkuchen in das Fett und den Rahm, ehe sie mit einem Happen in seinem Mund verschwinden. Für jeden Bissen, den ich nehme, verschlingt er einen ganzen Pfannkuchen. Nach drei Pfannkuchen bin ich satt. Er schlemmt weiter und erteilt mir gleichzeitig eine moralische Lektion. Seiner Meinung nach – und nach der aller Bewohner der Kolchose – sollte ich heiraten. Das Leben in der Einsamkeit müsse ein Ende haben. Es gebe auch zwei Kandidaten. Zwei lobenswerte junge Männer, sie kämen beide aus guten Familien. Einer von ihnen sei Anatoli Netreba, der zweite dessen Cousin Pjotr. Ich lache. Anatoli, das ist wohl ein Scherz! Das ist ein richtiger Schurke. Vor ein paar Monaten, im Mai oder Juni, hat er zusammen mit seinen Kameraden eine Freundin seiner Cousine Walja vergewaltigt. Um es in der Sprache der Urki zu sagen: Sie sind mit ihr »Straßenbahn« gefahren. Das Mädchen erlitt eine Blutung, und es hat nicht viel gefehlt und sie hätte es nicht überlebt. Ihre Eltern erstatteten Anzeige, und Anatoli wurde verhaftet. Katja Netreba, die stets mit Verachtung und Missbilligung über den Sohn ihres Bruders sprach, ließ einmal ihre feindselige Haltung ihm gegenüber beiseite und ging mit ihrem Mann zur Staatsanwaltschaft. Ganz offensichtlich müssen sie Schmiergeld bezahlt haben, denn der Angeklagte wurde freigelassen, und sein Verfahren wurde später eingestellt, mangels Zeugen, wie es hieß, obwohl die halbe Kolchose gesehen hatte, wie Anatoli die Frau in einen Lastwagen gezerrt hatte. Damit war die Geschichte aber noch nicht vom Tisch. Kurz nach der Ernte wurde im Kulturhaus eine Party veranstaltet. Anatoli war leicht angetrunken, angelte sich ein Mädchen und brachte es vom Kulturhaus zum Dorfplatz, wo er es in Anwesenheit fast des halben Dorfes ebenfalls vergewaltigte. Das Mädchen weinte, versuchte sich zu befreien, aber nichts half. Keiner stand ihr bei, keiner hielt den Dreckskerl auf. Und der spuckte aus und sagte, nachdem er fertig war und seine Hose zugeknöpft hatte, in aller Ruhe: »Sei froh, dass du noch lebst, Schlampe. Jetzt weißt du, wie es ist, wenn man einen Netreba anzeigt.«
Der Mann ekelte mich an. Einmal im Büro beugte er sich über den Tisch zu mir herüber, ließ die Zunge über seine Zähne gleiten (und er hatte schöne weiße Zähne) und flüsterte: »Wollen wir nicht Freunde werden?«
»Ich habe keine Lust, mit einem Urka befreundet zu sein«, antwortete ich kühl. Ich dachte, er würde mich schlagen. Aber er hielt sich zurück und ging. Von da an sah er mich immer feindselig an, und ich hatte Todesangst vor ihm. Ich wusste, wozu er fähig war. Erst später erzählte mir Leonid, dass ich meine Sicherheit Pjotr zu verdanken hatte, der Anatoli drohte: »Rühr sie nicht an, sonst schlachte ich dich ab wie ein Tier.« Pjotr war genauso groß, stark und sicher etwas wendiger als sein Cousin und dennoch das genaue Gegenteil von ihm. Er war immer ruhig, höflich und drängte sich nie auf. Einmal fragte er mich, wen ich in Polen zurückgelassen habe.
»Meinen Mann und zwei Kinder.«
»Hast du noch Kontakt zu ihnen?«
»Natürlich.«
Nie hatte er mir irgendeinen Antrag gemacht. Und jetzt versuchte Wassili mich zu überreden und zur Heirat zu bewegen. »So kann es doch nicht weitergehen«, fuhr er mit seinem Plädoyer fort. »Das sind gute Jungs, und was machst du …?« Er war furchtbar betroffen von meiner abschlägigen Antwort. Ihm verging sogar sein Appetit auf Pfannkuchen.
Ende September kam aus dem Hauptquartier des Kommandanten plötzlich der Befehl, meine Rechnungen bei der Kolchose zu begleichen. Unter der Bedingung, dass ich alle meine Schulden beglichen hatte, erhielt ich die Erlaubnis abzureisen. Ich musste etwas unternehmen, um meine Schulden zu tilgen, und die waren nicht gering. Selbst meine kärglichen Essgewohnheiten der letzten anderthalb Jahre – Kartoffeln, Mehl, Milch – machten mich im Verhältnis zu den im Büro verdienten Trudodni (mein Lohn betrug anderthalb Trudodni pro Tag) zu einer großen Schuldnerin. Armer Leonid, was musste er schuften und schwitzen, damit ich schließlich bei null herauskam. Er sprach mir nicht nur für Getreide, sondern auch für Heu, Kleie, Rüben, ja sogar für Mais Trudodni zu. Dank seines Einfallsreichtums konnte ich den Mitarbeitern des Kommandanten den entsprechenden Nachweis vorlegen. Dieser wurde akzeptiert, und ich erhielt nun den Befehl, erneut zu warten. Ich überließ die Kasse der Tochter des Vorarbeiters und musste noch trostlosere Tage überstehen, Tage ohne Arbeit, die ich nur mit Warten verbrachte.
Ich versuchte Anuschka ein wenig zu helfen. Sie war eine gute, warmherzige und furchtbar einsame Frau. Sie hatte ihre ganze Familie verloren. Ihr Vater war ermordet worden. Sie selbst war an einen noch entlegeneren Ort als den unseren verschleppt worden. Über Umwege hatte das Schicksal sie nach Budjonowka geführt, und dort war sie geblieben, ohne jemanden zu kennen. Wie ich hatte sie eine lebenslange Strafe erhalten. Und wie ich musste sie sich monatlich im Hauptquartier des Kommandanten melden. Sie heiratete nicht. Es gab nur wenige Männer, und sie war nicht gerade so sündhaft schön, dass sie einem jungen Mann hätte gefallen können. Obendrein war sie noch eine Deutsche. Obwohl sie schon ewig in Russland lebte und nicht einmal die deutsche Sprache beherrschte, reichten ihre Dokumente aus, um das Misstrauen der Einheimischen zu wecken. Bei Deutschen weiß man schließlich nie. Sie könnten kommen, um uns zu verhaften und noch weiter wegzubringen. So begnügte sich Anuschka mit ihrem kleinen Haus, mit ihrer Arbeit in der Schule, die sie putzte, mit dem kargen Lohn, für den sie bei den Kolchosbauern Mehl und Milch kaufen konnte. In ihrem kleinen Gärtchen baute sie Kartoffeln und Gurken an, mit denen sie über den Winter kam. Am schlechtesten stand es um ihre Versorgung mit Brennstoff. Die Kolchose wollte ihr keinen getrockneten Dung als Brennstoff überlassen, und es gab keine Bäume, um Holz zu schlagen. Über Swirin gelang es mir, Bauschutt zu bekommen. Er gestand das zu. Der Vorarbeiter lieh mir ein Pferd. Mit einigen Kollegen beluden wir einen Karren: Die dickeren Balken legten wir nach unten, die kleineren Abfälle nach oben. So entstand ein schöner Karren mit trockenem, gutem Holz. Danach sägten wir es tagelang wie besessen, wir zerhackten und spalteten es und versteckten dann alles schnell in einem Lagerraum, damit niemand in der Kolchose etwas bemerkte. So hatten wir Brennholz für den Winter.
Und der Winter stand vor der Tür. Im Oktober fiel der erste Schnee und bedeckte die Rüben und Kartoffeln. Das Heu und der viele schöne Mais waren ebenfalls noch nicht eingebracht worden – man hatte es nicht geschafft, alles rechtzeitig zu mähen. Schwarz verfärbte Halme ragten aus dem Schnee heraus und sprachen Chruschtschows Losung Hohn: »In der Produktion von Fleisch und Milch werden wir die USA einholen.« Einholen, immer die gleiche Leier.
Oktober, November – und noch immer nichts. Ich erhalte zwar optimistische Briefe, aber dabei bleibt es dann auch. Sie haben es sich bestimmt anders überlegt! Wurde die Repatriierung abgesagt? Alles ist möglich. Das Essen wird immer knapper. Von der Kolchose bekomme ich nichts mehr. Wer nicht arbeitet, isst nicht. Ich habe nicht einmal mehr Milch. Was für ein Glück, dass es noch Kartoffeln gibt. Ich esse mit Anuschka Bratkartoffeln mit Salz, und wir trinken Tee. Aus dem restlichen Mehl backt Anuschka Brot.
Den ganzen November über weht ein höllischer Wind. Wenn er in dieser Steppe aus allen Richtungen bläst, gibt es kein Entkommen. Der Wind ist gefährlich. Man kann einfach so umgeweht werden, man kann in einen Schneesturm geraten, sich verirren und sogar in der Nähe des eigenen Hauses erfrieren. Ich vermeide es, abends wegzugehen. Ich habe auch niemanden, zu dem ich gehen kann. Mit Kollegen zu reden habe ich keine Lust. Keiner glaubt an meine Abreise. Leonid versucht mich zu überreden, wieder in der Kolchose zu arbeiten. Ich wehre mich noch dagegen, noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben.
Man könnte meinen, dass mit mir ein Katz-und-Maus-Spiel gespielt wird, dass ich absichtlich gepiesackt werde. Doch das glaube ich nicht. Es ist ein spezifisches Zusammentreffen von gewissen Umständen, das dazu führt, dass meine Repatriierung so und nicht anders verläuft. Da ist erstens das übliche Chaos. Die Beamten arbeiten langsam und nicht besonders akribisch. Sie haben in der Regel wichtigere Dinge im Kopf. Eine Repatriierung ist nur lästig. Zweitens hat jeder Sekretär, ob vom Bezirks- oder vom Regionalkomitee, eine negative Einstellung zu Rückführungen. Ihm werden dadurch Menschen entzogen. Die Erfahrung zeigt, dass sich alles noch ändern kann, deshalb ist es für sie von Vorteil, abzuwarten und die Sache nicht zu eifrig zu betreiben. Das Ganze kann noch ins Wasser fallen. Der allzu Eifrige hätte dann bereits seine Arbeitskräfte verloren, die irgendwo anders gelandet wären. Und drittens verfügt der Verbannte über keinerlei Informationen, sodass immer noch die Möglichkeit besteht, ihn zu belügen und dazubehalten, es sei denn, es käme eine Namensliste aus Moskau. Die örtlichen Behörden haben also keinen Grund, eine Ausreise zu beschleunigen. Nur die Ausnahmeerscheinungen in der Leitungsebene, die menschlicher als die anderen sind, informieren jeden Verlorenen korrekt. Aber wie viele sind es wohl, die die erlösende Botschaft nie erhalten?
Das Spiel, Zeit zu schinden, ist ein Prinzip, das sich schon oft bewährt hat. Das MWD erinnert sich zweifellos noch an 1948. Ich erinnere mich ja auch noch an damals.
Der November neigt sich seinem Ende zu. Endlich: ein Anruf aus dem Hauptquartier des Kommandanten. Nächste Woche solle ich mit meinen Sachen in die Stadt kommen. Aufruhr in der Kolchose. Eine Sensation. Erst hat man mir nicht geglaubt, und jetzt beneiden sie mich. »Die Polen«, sagen sie. »Sie lassen die Polen frei! Die haben es gut. Sie rüsten sich für die Reise.« Ich warte auf das letzte Telefonat. Gleich morgens müssen sie mir Bescheid sagen, damit ich beizeiten am Zug sein kann, der nachmittags abfährt. Ich packe meine Sachen. Die Kolchosbewohner überhäufen mich mit Geschenken für die Reise. Katja Netreba bringt eine ganze gebratene Ente mit. Von Malgina bekomme ich ein Stück geräucherten Speck sowie auch noch Gebäck und einen Laib Brot. Der Tag der Abreise bricht an. Ich warte auf den Anruf – bis elf Uhr passiert nichts. Also rufe ich selbst im Hauptquartier an. Sie wissen von nichts. Ein Beamter murmelt, dass die Repatriierung abgesagt worden sei und ich bleiben müsse, wo ich sei. Ich gehe nach Hause und starre auf meine Holzkoffer. Ich bin am Ende meiner Kräfte und stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Ein Uhr. Ich bereite mit Anuschka Kartoffeln für das Mittagessen vor. Plötzlich werde ich gerufen. Das Telefon. Das Hauptquartier. Warum bin ich noch nicht weg?! Der Zug kommt schon in zwei Stunden. Ich muss Budjonowka heute noch verlassen.
Ich laufe zur Basis. Ich brauche ein Pferd und einen Schlitten. Einer der Bewohner wird mich zum Bahnhof bringen. Ich küsse Anuschka. Leonid umarmt mich herzlich. Wir machen uns auf den Weg. Die vier Kilometer kommen mir wie vierzig vor. Wir kommen am MWD an. Ein Passierschein? Wozu denn? Wenn die Dame im Eisenbahnwaggon mitgenommen wird, wird sie das Hauptquartier des Kommandanten in der Stadt schon erreichen. Um noch einen Passierschein zu besorgen, bleibt keine Zeit. Der Bahnhof. Mein Gott, am Fahrkartenschalter steht ein Freund, ein Pole aus Uchta. Ich grüße ihn. Wir sind furchtbar aufgeregt. Sie geben uns Fahrkarten, ohne dass wir uns in der Warteschlange anstellen müssen. Sie kennen mich hier am Bahnhof. Und schließlich Petropawlowsk. Wir teilen uns ein Taxi, um zum örtlichen MWD zu gelangen. Dort ist der Treffpunkt – wir sind etwa zwanzig Polen. Ich kenne sie nicht, sie kommen aus verschiedenen Lagern und Entsendestellen. Jetzt sind wir beruhigt, auch wenn man bis zum allerletzten Moment nicht daran glauben darf, man darf noch nicht glücklich sein.
Wieder sind wir unterwegs. Ein Unteroffizier vom MWD nimmt sich unserer an, er hat unsere Papiere. Wir sitzen in einem gewöhnlichen Personenzug, der in die andere, völlig entgegengesetzte Richtung fährt: nicht nach Westen, sondern nach Osten, nach Karaganda! Anscheinend stellt man dort einen Polentransport zusammen. Die Strecke ist lang, die Fahrt dauert zwei volle Tage. Wir tauschen polnische Zeitschriften aus und sprechen über die neuesten Ereignisse und Erfahrungen in den Lagern und Entsendestellen. Wir fühlen uns pudelwohl, endlich sind wir unter Landsleuten. Endlich können wir also offen reden, ohne Lügen, ohne Scham, einfach sagen, was wir denken. Völliges Vertrauen, völlige Solidarität. Ich bin die einzige Frau. Die Männer sind fürsorglich und kümmern sich um mich. Sie richten mir auf einem Brett mit einigen Sachen einen Platz her, damit ich etwas schlafen kann. Ich schlafe ein paar Stunden, dann überlasse ich meinen Platz anderen. Gegen Abend kommen wir in Karaganda an. Wir schleppen unser Gepäck mit – bis zum Sammelpunkt, der ziemlich weit vom Bahnhof entfernt liegt, ist es ein langer Fußmarsch. Er besteht aus Kriegsbaracken. Dort herrscht ein fürchterliches Gedränge. Alles ist bereits voller Polen. Ich sehe bekannte Gesichter, alte Freunde, noch aus dem Widerstand. Wir sind glücklich wie kleine Kinder. In den Baracken gibt es jedoch keinen Platz mehr für uns. Wir können immerhin unsere Habseligkeiten dort lassen und kehren dann zum Bahnhof zurück, um dort die Nacht zu verbringen. Der Bahnhof ist groß und warm, doch nach den örtlichen Vorschriften darf man nicht auf den Bänken schlafen. Wir ignorieren dieses Verbot und legen uns so bequem wie möglich hin. Natürlich gibt es deswegen Ärger. Wir stehen trotzdem nicht auf. Man hätte uns einfach einen Platz zum Schlafen zur Verfügung stellen sollen. Der Bahnhofsvorsteher wird wütend, die Miliz wird herbeigerufen. Unser NKWD-Begleiter verteidigt uns, schließlich hat auch er keinen anderen Platz zum Übernachten. Zu guter Letzt lassen sie uns in Ruhe. Wir schlafen herrlich. Wir haben uns schon an alles Mögliche gewöhnt.
Am Morgen steht ein Besuch bei der Bank an. Man hat uns mitgeteilt, dass wir unsere Staatsanleihen in Rubel umtauschen können. Wir gehen zusammen mit einem Unteroffizier zur Bank, denn er muss bezeugen, dass wir Polen sind, und bekommen einen Betrag ausgezahlt, der dem Wert der Anleihen in den letzten zwei Jahren entspricht. Als wenige Tage zuvor die Nachricht vom Umtausch bekannt geworden war, hatte eine Masse von Russen die Polen mit der Bitte belagert, ihre in zehn Jahren angesammelten alten Anleihen für sie einzutauschen – jeder bekam dafür die Hälfte des ausgezahlten Betrags. Auf diese Weise verdienten die Polen mehrere Tausend Rubel, und auch die Russen waren glücklich, bis der Bank das Geld knapp wurde. Erst dann kam der ganze Schwindel ans Licht. Das waren doch Häftlinge, die konnten doch gar keine Anleihen aus der Zeit vor 1954 haben! Wer rechtzeitig da gewesen war, hatte Glück gehabt und war auf einen Schlag reich geworden. Man kaufte mit dem Geld alles, was sich zu kaufen lohnte. Kühlschränke, Radios, Fotoapparate verschwanden aus den Geschäften; irgendjemand kaufte sogar ein Motorrad. Als ich meine zweihundert Rubel bekomme, kann ich in der Stadt nichts mehr auftreiben. In jedem Geschäft höre ich nur: »Die Polen haben alles aufgekauft.«
Die Abreise. Wir werden von einer großen Gruppe von Freunden verabschiedet, die nicht auf der Liste standen. Wir sehen sie traurig an. Wir steigen in die Lastwagen. Wir fahren nicht zum Bahnhof, sondern an einen Ort, der irgendwo hinter der Stadt, hinter dem Bahnhof liegt. Wir kommen an, springen aus den Lastwagen, und einen Moment später fangen wir alle lauthals an zu lachen. Wir lachen schallend, wir kommen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Die verunsicherten NKWDler schauen uns an, als wären wir verrückt geworden. »Was ist denn los mit euch?« Wir sagen nichts, und jeder neue Lastwagen, der ankommt, jede neue Zwanzigergruppe, löst neue Lachsalven aus. Vor uns, auf den Gleisen, steht ein Zug. Aber einer mit Pullman-Waggons, Wagons-Lits – das bedeutet Komfort, das bedeutet Europa. Wo sind unsere geliebten Stolypin-Waggons, unsere Viehwaggons mit vergitterten Fenstern und einem eisernen Abflussrohr statt einer Parascha? Wir beginnen nun wirklich zu glauben, dass wir in den Westen fahren.
Wir werden in Vierergruppen verladen, vier in ein Abteil. Ich stelle mich so auf, dass ich mit Freunden von der AK zusammenkomme. Wir nehmen in unserem Abteil Platz – vier weiche Liegen. In einer Schublade liegen Laken, ein Kissen und gefütterte Decken. Wir haben unsere Sachen noch nicht weggeräumt, da kommt schon ein Bahnmitarbeiter und fragt, ob wir vielleicht Tee möchten. Ich lächle wieder. In unserem Waggon belegen wir nur drei Abteile. In den anderen Abteilen sitzen unsere Begleiter. So ist es nun mal, was soll’s. Aus dem Fenster sehen wir, wer und was noch in den Zug verladen wird. Es sind einige Schwerkranke darunter. Sie werden auf Krankenbahren getragen. Es gibt auch viele Verletzte, die sich auf Krücken stützen. Einige sehen furchtbar ausgezehrt aus und gehen in schrecklichen Lumpen. Sie erhalten nun schlecht genähte Kleidung: eine Hose, eine Herrenweste, ein Hemd, eine Fufaika, für einige gibt es sogar einen Mantel. Die Kommandeure fragen uns, ob wir auch etwas von dieser Kleidung haben wollen. Das wollen wir nicht. Ich habe eine wattierte Weste, Walenki, Schuhe und einen Mantel. Ich brauche ihre Almosen nicht.
Sie kontrollieren noch einmal alles, verschließen die Waggons, und der gesamte Offiziersstab kommt vorbei. Wie immer werden die gleichen Fragen gestellt: Name, Nachname, Name des Vaters, Geburtsjahr, Urteil und Artikel (auch wenn man seine Strafe bereits verbüßt hat), Nationalität. Alles stimmt. Wir sind mehr als vierhundert Leute. Der Zug trägt die Nummer 517. Wir fahren ab.
Die Reise dauert elf Tage. Wir sind alle gut gelaunt. Wir denken nicht an die Zukunft. Was sein wird, wird sein. Das Wichtigste ist jetzt, aus der Hölle herauszukommen, danach werden wir sehen, was Gott uns noch gibt. In der Gesellschaft unserer Brüder und Schwestern werden wir nicht verloren gehen. Wir erfreuen uns der Sprache der Heimat, wir erfreuen uns der alten Lieder. Wir lassen uns auf Gespräche mit den uns begleitenden Obersten vom MWD ein. Sie geben sich übertrieben interessiert und fragen uns ständig, ob wir sie in schlechter Erinnerung behalten werden. Diese zarten Seelchen – als ob es ihnen wirklich wichtig wäre, einen besseren Eindruck zu hinterlassen! Ist das Naivität oder soziale Inkompetenz? Sie sind nicht in der Lage, normal zu sprechen. Sie sind extrem reizbar und steif. Sie konnten dich ausschimpfen, sie konnten dir alle Kraft aus dem Leib saugen, aber etwas Menschliches zu dir zu sagen, nein, das können sie nicht. Sie fragen uns, ob die Vorräte, die wir bekommen hätten, ausreichend seien. Wir lachen. Jeder von uns bekommt jeden Tag ein Kilogramm Brot, ein großes Stück Wurst, ein Stück Speck, eine Essiggurke, eine Zwiebel, und obendrein legen wir noch Zwischenstopps ein, um essen zu gehen. Bis zum Ural hängt der Zeitpunkt dieser Mahlzeiten von der Entfernung zwischen den Stationen ab. Manchmal essen wir um elf Uhr morgens, manchmal um fünf Uhr nachmittags. In jedem Fall essen wir immer tagsüber. Das Mittagessen in einem Bahnhofsrestaurant, an mit Tischtüchern gedeckten Tischen, besteht aus drei Gängen, mit Fleisch und einem sehr guten Kompot zum Nachtisch. Wer kann das alles aufessen? Wir verteilen das Brot, den Speck und die Wurst an die Leute auf den Bahnhöfen. Sie bedanken sich, blicken aber neidisch auf den geheimnisvollen verriegelten Zug, der nach wer weiß wohin fährt. Der Zug Nummer 517 wird von Gleis vier abfahren, erschallt es aus den Megaphonen. Wer darin sitzt, ist ein Staatsgeheimnis. An manchen Bahnhöfen sind keine Menschen mehr zu sehen. Sie werden offensichtlich auf Abstand gehalten. Aber hinter dem Bahnhof sind noch ein paar Neugierige zu finden. »Wollt ihr Wurst?« Sie holen ihre spärlichen Münzen hervor, aber wir wollen kein Geld. »Esst nur und erinnert euch an die Polen.«
Jenseits des Urals werden die Bahnhöfe wieder belebter; es ist schwieriger, die wartenden Fahrgäste abzuhalten. Man gibt uns nun nur noch nachts etwas zu essen. Unser Mittagsessen nehmen wir um ein oder zwei Uhr nachts oder noch später, gegen Morgen, ein. Tagsüber schlafen wir. In den Bahnhofshallen warten stets eilig aufgebaute Juwelierläden auf uns. Wir dürfen alles ohne Sondersteuern einführen, aber wir dürfen keine Rubel mit nach Polen nehmen. Unser restliches Geld müssen wir also für irgendetwas ausgeben. Wer Anleihen in größere Summen umtauschen konnte, kauft Silber, Ringe, Puderdosen und Zigarrenkästchen. Das meiste ist aus hochwertigem Material, aber wenig geschmackvoll gefertigt.
»Sieh sie dir an«, sagt einer unserer Begleiter, »sie kommen aus ihren Gefängnissen zurück, von ihren Entsendestellen, und sie sind wahrhaftig reich.« Als wüsste er nicht, woher wir das Geld haben.
Am Ural kommen wir an einem Pfahl mit der Aufschrift EUROPA/ASIEN vorbei. Wir klatschen. Wenngleich dies nur ein klägliches Stück von Europa ist, das sich noch lange hinziehen wird, ist es doch gut, dass wir Asien hinter uns gelassen haben. Wir empfinden schließlich keine Sympathie für diesen Kontinent. Wir schauen uns die Umgebung an – die endlosen Steppen, in denen man den ganzen Tag über kein Haus und keinen Baum zu sehen bekam, haben wir bereits hinter uns. Jetzt fahren wir durch ein Land, das schon dichter besiedelt ist. Wir kennen es alle noch von unserer ersten Reise in den Norden. Die Armut macht uns betroffen. Der Krieg ist jetzt so viele Jahre vorbei, und ich sehe auf den Bahnhöfen Frauen mit zerschlissenen Walenki, um die Füße haben sie Lumpen gewickelt, und sie tragen kaputte Fufaiki. Die Bahnhöfe hingegen sind großartig. Die Bahnhofsgebäude sehen aus wie Paläste. Gemälde bedecken ganze Wände und zeigen fröhliche Kolchosbauern und tüchtig zupackende Fabrikarbeiter.
Während unserer Reise erlebten wir zwei amüsante Zwischenfälle. Einmal waren zwei Freunde bei einem Halt des Zuges in die Stadt gegangen und kamen zu spät zur Abfahrt zurück. Sie meldeten sich direkt beim Bahnhofsvorsteher. Dieser schaute sie misstrauisch an und fragte sie nach ihren Dokumenten. Aber keiner von uns hatte irgendwelche Dokumente bei sich, kein einziges Stück Papier. Der Bahnhofsvorsteher sperrte die Männer in die Bahnhofszelle und informierte das MWD. Im Zug war ihr Fehlen zum Glück sofort bemerkt worden. Wir hatten es unseren Begleitern gemeldet, und am nächsten Bahnhof hatten diese ein Telegramm an den vorherigen Bahnhof geschickt. Die Namen und die anderen Angaben waren korrekt, und so wurden die Männer freigelassen und in einen Schnellzug gesetzt, der uns irgendwo zwischen zwei Städten einholte. Als wir in Tula ankamen, warteten die beiden dort schon auf uns. Wie sich herausstellte, war es nicht so sehr das Fehlen der Dokumente gewesen, welches das örtliche MWD beunruhigt hatte, als vielmehr die genauen Informationen, die die Männer über unseren Zug hatten. Je mehr Details sie ihnen über Zug 517 anboten, um zu beweisen, dass sie tatsächlich in diesem Zug gewesen waren, desto größer wurden die Zweifel der dienstbeflissenen Tschekisten. Sie wiederholten immer wieder: »Woher wisst ihr so viel? Ihr wisst zu viel. Spione, ihr müsst Spione sein!« Selbst für solch erfahrene Seki war diese Art der Argumentation schwer zu verstehen, und unsere Freunde überkam allmählich die Angst, sie würden lange festgehalten werden und es könnte einige Zeit dauern, bis alles aufgeklärt wäre. Dieses Telegramm war ihre Rettung. Was für ein Glück!
Ein ähnliches Abenteuer erlebte der Ehemann unserer Transportärztin. Er arbeitete selbst beim MWD und hatte den Rang eines Majors. Seine Frau hatte ihm mitgeteilt, wann wir ungefähr in der Nähe von Moskau sein würden (die Verantwortlichen unseres Transports hatten nicht die Absicht, diese widerspenstigen Polen in die Stadt selbst hineinzulassen – einer von uns könnte am Bahnhof ja noch etwas Unnötiges von sich geben). Wir fuhren also auf außergewöhnlichen Wegen um Moskau herum, und der Herr Major hatte Mühe, zu einem der nahe gelegenen Bahnhöfe zu gelangen. Er wandte sich sofort an den diensthabenden Bahnbeamten und fragte, ob der 517 schon angekommen sei und auf welchem Gleis der Zug stehe. Und was geschah dann? Der Beamte meldete die Sache dort, wo so etwas gemeldet werden muss, und der Herr Major wurde in einen Raum gesperrt, um alles zu erklären. Sein Ausweis half ihm ebenso wenig weiter wie sein spezieller Passierschein. Erst nach mehreren Stunden wurde der Mann auf Intervention der Verantwortlichen unseres Transports und der erschreckten Ärztin freigelassen. Aber die Zeit, die er festsaß, hat ihm sicher nicht geschadet. Unter solcher Geheimhaltung wurden wir also aus Russland hinausgebracht, einer weit größeren Geheimhaltung als bei unserer Einreise.
Kiew. Unsere Begleiter haben ihre Uniformen abgelegt und ihre Zivilkleidung angezogen. Sie sehen amüsant aus. Auch Bevollmächtigte der polnischen Regierung steigen ein. Wir fragen sie darüber aus, was uns nun erwartet. Sie sind höflich. Endlich nähern wir uns der alten Grenze. Wir schauen uns jedes Dorf, jeden Wald, jeden verschlungenen Pfad genau an. Viele von uns kennen diese Gegend gut. Wir kommen nachts in Lwiw an, haben aber keine Möglichkeit, in die Stadt zu gehen. Die Abreise ist bereits angekündigt. Wir stehen also nur einen Moment auf den Stufen des Bahnhofsgebäudes und blicken auf die schlafenden Straßen und Häuser. Es versetzt uns einen Stich ins Herz.
Wir fahren weiter. Es ist eine kalte Dezembernacht, es ist dunkel, man kann nichts sehen. Doch niemand von uns schläft. Wir starren alle aus dem Fenster, als wollten wir jeden Baum, jeden Strauch wiedererkennen. Als sie uns von hier wegbrachten, war dies noch unsere Erde, war dies noch unsere Heimat. Jetzt sehen wir russische Inschriften an den Straßen und an den Bahnhöfen, die wir gut kennen. Wie unmenschlich, wie schrecklich ist es, mit Stumpf und Stiel der Erde entrissen zu werden, der Erde, auf der man aufgewachsen ist, auf der man jedes Fleckchen kannte, auf der man seine Liebsten um sich hatte. Die Kriegsjahre haben unsere Bindung zu dieser Erde nur noch verstärkt. Ich will keine großen Worte machen, aber es bleibt eine Tatsache, dass wir für diese Erde gekämpft und dass viele von uns ihr Leben dafür gelassen haben. Wir, die Inhaftierten, haben dem Land unsere ganze Jugend und Gesundheit geschenkt. Jetzt fahren wir an den Überresten vergangener Feuersbrünste, an verlassenen Dörfern und toten Stümpfen gefällter Obstbäume vorbei. Wir sehen alles, und niemand wird uns etwas vorgaukeln können, denn in unserem Gedächtnis haben wir die Form jedes Hügels und jedes Abhangs des sich bis zum Horizont erstreckenden Waldes bewahrt. Jetzt fahren wir hier vorbei, um nie wieder zurückzukehren. Nie ist das Gefühl der Niedergeschlagenheit in uns so groß gewesen.
Es wird Tag. Mostyska, die letzte Station vor der Grenze. Die Reichen kaufen in den Juwelierläden von ihren letzten Rubeln Silber. Wir blicken auf den Bahnhof und die sich dahinter erstreckenden Felder. Es ist leer hier, außer den Bahnbeamten und Grenzbeamten ist keine Menschenseele zu sehen. Wir steigen wieder in den Zug. Vor Medyka werden die Waggons verschlossen, wir werden erneut gezählt. Die Zahl ist korrekt. Wir stellen uns auf den Gang und öffnen die Fenster weit. Der Zug setzt sich in Bewegung. Auf dem Trittbrett stehen sowjetische Grenzsoldaten. Sie springen ab, direkt vor den Stacheldrähten. Ein breiter Streifen verbotenen Landes. Wir singen die Nationalhymne und die Rota197. Die Grenze.