Barbara Skarga wurde 1919 in eine privilegierte Familie hineingeboren. Einerseits stand die Familie voll und ganz im modernen Wirtschaftsleben – ihr Vater leitete als juristischer Spezialist für Versicherungsrecht einen Dachverband von Versicherungsgesellschaften. Andererseits war die Familie tief im alten polnischen Landadel verwurzelt – die Schwester von Skargas Vater besaß ein großes Anwesen in Litauen, wo die ganze Familie viel Zeit zusammen verbrachte.
Polen und Litauen teilen eine jahrhundertelange gemeinsame, komplexe Geschichte. Über die Jahrhunderte bildete sich in Städten wie Vilnius (polnisch Wilno) eine polnische intellektuelle Elite heraus, und eine polnische Wirtschaftselite leitete große Ländereien und Bauernhöfe auf dem litauischen Land. Deshalb nimmt Litauen auch eine einzigartige Stellung in der polnischen Kulturgeschichte ein. Das Land hat sich als wesentlicher Nährboden der polnischen Kultur erwiesen. Die erste Zeile des zweifellos bedeutendsten polnischen Gedichts aller Zeiten, Pan Tadeusz (1834) von Adam Mickiewicz (1798–1855), lautet bezeichnenderweise »Lithauen! Wie die Gesundheit bist du, mein Vaterland«. Der Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz (1911–2004) wuchs ebenfalls in Litauen auf, und das Land seiner Jugend wird in seinen Gedichten sehr oft als Referenzpunkt der Schönheit und des Lebens, wie es sein sollte, aber selten ist, erwähnt.
Dass das Leben selten so ist, wie es sein sollte, wussten Skarga und ihre Familie nur zu gut. Die Tatsache, dass Skarga in einer privilegierten Familie aufwuchs, bedeutet nicht, dass das Schicksal ihr und ihrer Familie wohlgesinnt war. Ganz im Gegenteil. Ihr Leben war geprägt von den großen Erschütterungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ihre Eltern heirateten 1916 (es war die zweite Ehe ihres Vaters, der zehn Jahre älter war als Skargas Mutter). Im Jahr 1917 wurde Skargas Schwester Hanna geboren, doch dann brach in Russland die Revolution aus. Die Familie, die damals in Minsk lebte, floh nach Warschau, wo 1919 Skarga und einige Jahre später ihr Bruder Edward zur Welt kamen.
Die Familie teilte ihre Zeit zwischen Warschau und Litauen auf, wo sie oft viele Monate im Jahr auf dem Landgut der Schwester von Skargas Vater in Chocieńczyce, etwa hundertfünfzig Kilometer von Vilnius entfernt, verbrachte (heute gehört Chocieńczyce zu Belarus und heißt Khotenchitsy). Wie sich Skarga später erinnerte, war ihre Erziehung streng, aber aufgeschlossen und von humanistischen Werten durchdrungen. Auch wenn die Familie protestantisch war, spielte die Religion im Alltag kaum eine Rolle. Skarga selbst wies sich als Philosophin auch immer als ungläubig aus, wenngleich mit starken Wurzeln in und Interessen an den religiösen Aspekten des menschlichen Daseins.
Skarga erhielt eine Ausbildung, die für die privilegierte, intellektuelle Klasse in diesem Teil Europas damals typisch war: Sie vertiefte sich in eine Vielzahl von Sprachen (neben der Muttersprache auch Griechisch, Latein, Französisch und Deutsch; im Alltag hatte sie zudem Kontakt zum Litauischen und oft auch zum Jiddischen, das von Juden in Vilnius gesprochen wurde) sowie in Literatur, Musik, Mathematik und Wissenschaft.
Literatur und Musik besaßen in der Familie einen hohen Stellenwert. Skargas Mutter war musikalisch begabt, und auf dem Landgut in Litauen wurde oft Klavier gespielt. Die Skargas waren auch gut mit der Familie von Stefan Żeromski befreundet, dem damals vielleicht bedeutendsten polnischen Schriftsteller, der den Nobelpreis mehrfach nur knapp verpasste. Die Familien wohnten sogar eine Zeit lang unter einem Dach, und Żeromskis Tochter wurde die beste Spielkameradin von Skarga und ihrer Schwester. Skarga erinnerte sich später daran, wie bedeutsam die Gestalt Żeromskis war, dass er keineswegs gestört werden durfte, wenn er durch den Garten wandelte und ganz in seine eigenen Gedanken vertieft war – dann musste absolute Stille herrschen. Sobald er sich an seinen Schreibtisch setzte, folgte ein Seufzer der Erleichterung, und es durfte wieder gespielt werden. Beim Schreiben störte ihn der Lärm weniger als beim Denken.
Im Jahr 1925 starb Żeromski. Es war das erste Mal, dass der Tod Skarga so nahe kam, und es hinterließ bei ihr einen tiefen Eindruck. In den folgenden Jahren sollten noch weitere Ereignisse Skargas Leben tiefgreifend erschüttern. Zunächst war dies der Börsenkrach von 1929, der das Leben der Familie auf den Kopf stellte. Der Verband, dem ihr Vater vorstand, ging in Konkurs; die Familie selbst geriet in finanzielle Schwierigkeiten und musste in eine kleine Wohnung in Warschau umziehen. Einige Monate später erlag Skargas Vater, damals zweiundfünfzig, einem Herzinfarkt, was der unbeschwerten Kindheit der zehnjährigen Barbara ein jähes Ende setzte. Skargas Vater, der stets auf großem Fuß gelebt hatte, starb, ohne seiner Frau und seinen Kindern einen Cent zu hinterlassen. Kurzerhand beschlossen sie, zur Verwandtschaft nach Litauen umzuziehen: Das Leben dort war um ein Vielfaches erschwinglicher als in Warschau, und die Familie konnte sich gegenseitig beistehen. Skargas Mutter musste sich plötzlich Arbeit suchen und wurde Angestellte in einem Busunternehmen. Sie verdiente sehr wenig, aber mit der Unterstützung der Familie genug, um ihre Kinder zu ernähren.
Barbara Skarga schloss ihre Schulausbildung in Litauen ab und glänzte als Schülerin, vor allem in Mathematik. Ihr Wunsch, Mathematik auch zu studieren, wurde zu Hause jedoch nicht mit Begeisterung aufgenommen: Ihre Mutter wollte, dass sie eine praktischere Ausbildung wählte. Sie legte dann die Aufnahmeprüfung an der Polytechnischen Fakultät der Warschauer Universität ab, mit Erfolg. Damit war sie eine der wenigen Studentinnen im Ingenieursstudium, die sich auf Elektrotechnik spezialisierten. So kehrte sie 1937 nach Warschau zurück, wo ein pulsierendes Studentenleben mit allem, was dazugehört, begann: Alkohol, Partys, Kino, Theater, Musik und natürlich auch ein wenig Studieren. Doch wirklich glücklich war Skarga nicht. Vor allem das Anfertigen technischer Zeichnungen langweilte sie unendlich, und so beschloss sie nach drei Semestern, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie wollte zurück nach Litauen und lieber etwas im Bereich der Geisteswissenschaften machen. Sie entschied sich für ein Philosophiestudium an der Stefan-Batory-Universität in Vilnius. Als sie später gefragt wurde, warum sie diese Entscheidung getroffen und was sie zur Philosophie getrieben habe, war Skargas Antwort kurz, aber vielsagend: »Die Literatur und der Mangel.«1