Doch der Krieg lag in der Luft, und aus den dunklen Wolken brach im September 1939 das Unheil über Polen herein. Am 1. September marschierten die Deutschen von Westen her ein, am 17. September wurde das Land von Osten her von der Sowjetunion angegriffen. Dies hatte auch große Auswirkungen auf Litauen. Ein Teil Litauens (das Memelgebiet) wurde Deutschland einverleibt, der andere Teil wurde sowjetisch. Als sich Russland und Deutschland 1941 gegenseitig den Krieg erklärten, wechselten sich Zeiten der deutschen und der russischen Besatzung und Gewaltherrschaft ab. Einige Litauer sahen in Hitler einen Befreier vom sowjetischen Joch und nutzten zugleich ihre Chance, die polnische Elite loszuwerden. Andere sahen in den Soldaten der Roten Armee Befreier im Kampf gegen die Nazis und im Kampf gegen die privilegierte polnische Klasse. Unterdessen versuchten die Polen in Litauen, den polnischen Charakter des Landes zu wahren, indem sie gleichermaßen gegen Deutsche, Russen und litauische Nationalisten kämpften. Mit anderen Worten: ein sehr komplexes, explosives Gemisch.

Barbara Skarga schloss sich der Armia Krajowa (AK) an, der nichtkommunistischen polnischen Widerstandsarmee, wie übrigens auch ihre Schwester, doch die beiden wussten nicht von der Aktivität der jeweils anderen – so groß war die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Skarga wurde Kurierin, ein Verbindungsglied zwischen verschiedenen Gruppierungen der AK. Es war wie für viele eine besonders harte Zeit: Es gab wenig zu essen und viel Unsicherheit und Gefahr. Die Universität wurde geschlossen; Skarga zog mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Schwester zur Untermiete zu einer anderen Familie, um überleben zu können. Skarga selbst machte einen Ausbildungskurs zur Stuckateurin und Wandmalerin, denn jede Kleinigkeit half, um an die schwer zu beschaffenden Kartoffeln auf dem Schwarzmarkt zu kommen.

Es war allerdings nicht so, dass Skarga, als sie ihr Philosophiestudium begann und von Elzenberg unterrichtet wurde, erst noch ein politisches Bewusstsein für die Gefahren faschistoider Regime und totalitärer Denkbilder entwickeln musste. In Nach der Befreiung sagt sie an einer Stelle, sie habe nie »Scheuklappen« aufgehabt wie so viele Intellektuelle, die den totalitären Verlockungen nur schwer widerstehen konnten und mit den Nazis oder Kommunisten gemeinsame Sache machten. Vielmehr sei sie schon in jungen Jahren gegen die totalitären Verlockungen »geimpft« worden.

Das Landgut von Skargas Familie grenzte an die Sowjetunion – sie wohnten auf der einen Seite des Flusses, und auf der anderen Seite des Flusses lag das gewaltige Mutterland des Sozialismus. Während das litauische Ufer ein idyllischer Ort war, nahm man am anderen Ufer ständig die Anwesenheit von Soldaten wahr, die schreiend Wache hielten, damit es niemand wagte, den Fluss zu überqueren und aus dem Land zu fliehen. Nicht einmal barfuß im Wasser zu waten war erlaubt.

Dennoch gelang es manchmal jemandem, aus dem Osten zu entkommen und in ihrem Dorf aufzutauchen. Als Skarga etwa dreizehn Jahre alt war, kam ein Junge namens Kola. Er bat die Dorfbewohner inständig, bleiben zu dürfen und ihn nicht zurückzuschicken.

Und viel Gutes hatte auch Skarga selbst nicht zu erwarten. Dennoch begann jener 8. September 1944 wie ein strahlender Tag. Skarga zog ein Sommerkleid und leichte Schuhe an. Für den Abend war eine Party bei einer Freundin geplant, doch zunächst hatte sie eine Verabredung mit einem anderen AK-Kurier in Vilnius. Als sie an der Tür dieses Kuriers schellte, stellte sich heraus, dass dort Soldaten der Roten Armee auf sie warteten. Der Mitgliedschaft in der Armia Krajowa (AK) verdächtigt, wurde sie vollständig entkleidet, um sicherzugehen, dass sie nichts schmuggelte. Am Abend deportierte man sie. Was danach folgte, hat Skarga in ihrem Buch Nach der Befreiung in erschütternden Details beschrieben. Die vielen Monate, die sie in litauischen Gefängniszellen verbringen musste, waren eine höllische Qual und standen den Gulagjahren, die noch folgen sollten, in nichts nach: die Verhöre, die Misshandlung, der Schlafentzug, der Tod so vieler Landesleute und Zellengenossen. Und darauf folgte der Gulag: eine zehnjährige Haftstrafe, danach noch anderthalb Jahre Zwangsarbeit jenseits des Endes der Welt, in einer Kolchose im fernen Osten Russlands.

Alles andere als sentimental, sind diese Briefe Ausdruck einer tiefen Sorge umeinander. Man spürt, dass Skarga ihr Bestes tut, um gegenüber ihrer Mutter und ihrer Schwester den Anschein zu wahren, dass alles einigermaßen gut liefe, damit diese sich nicht zu sehr sorgen.

Nehmt Euch meine düsteren Briefe nicht zu Herzen, denn angesichts meines allgemeinen Hangs zur Melancholie sind sie ganz normal. Ich muss immer etwas Trübsal teilen, um ich selbst sein zu können. Aber glaubt mir, dass es nur ganz außergewöhnliche Gemütszustände sind, die ein solches Entbehren und solche tränenreichen Worte verursachen […]. Die Zeit fließt, und lasst sie so schnell wie möglich fließen. Jeder Tag, der vergeht, bringt mich näher zu Euch, und ich sehne mich nach nichts anderem.3

Das ist meistens der Tenor von Skargas Briefen, und die posthume Sammlung erhielt deshalb auch den Titel Wenn ihr an mich denkt, dann ohne Traurigkeit.

Diese Briefe offenbaren auch eine große Liebe zur Literatur, zur Kunst und den Geisteswissenschaften; man kann mit gutem Grund davon ausgehen, dass diese Liebe Skarga durch die Gulagjahre hindurchgeholfen hat. Skarga muss von dem intrinsischen Wert von Schönheit, Kunst, Kultur und Philosophie enorm durchdrungen gewesen sein; dieses Bewusstsein brannte wie ein inneres Feuer, das sie durch die Kälte – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne – dieser Gulag- und Kolchosjahre trug. Als sie hört, dass ihr jüngerer Bruder Edek an der Universität Polonistik studiert, ist sie hocherfreut: Sie hält es für wichtig, dass er sich für die Humaniora entscheidet, weil das Humane dem kommunistischen Materialismus und der Instrumentalisierung des Menschen und des Lebens diametral entgegensteht. Als sie erfährt, dass ihre Nichte als Pianistin sehr begabt ist und drei Stunden am Tag übt, ist sie ebenfalls begeistert.

Gleich zu Beginn ihres Leidensweges, als sie erst wenige Wochen in Litauen im Gefängnis saß, hatte sie bereits begonnen, Puschkin auf Russisch zu lesen, und in einem ihrer seltenen Briefe aus dieser

In ihm finde ich eine Wirtsstube, in der ich meine Sorgen ertränken kann. Es sollte Euch nicht betrüben, sondern gerade froh machen, dass in mir noch solche Gefühle aufleben, dass ich die Schönheit und den Zauber der Poesie spüre, dass ich noch denken und träumen kann und dass ich noch nicht ganz zu der Maschine verkommen bin, zu der wir alle hier langsam zu werden drohen. Und meine psychische Widerstandskraft ist so groß, dass ich alles ertragen kann, denn das Schwerste liegt hinter mir, und ich habe alles erhobenen Hauptes und mit Stolz durchgestanden. Denn: Der Glaube an die Richtigkeit meiner eigenen Einstellung ist stärker als das, was mir persönlich als Schicksal zuteilwird. Und manchmal ist es besser, nicht zu sein, als zu sein.4

Diese letzten Sätze fassen meiner Meinung nach das Wesen von Skargas kraftvoller Persönlichkeit zusammen, eine Stärke, die aus der Liebe zu ihren Nächsten und der Liebe zum Besten, was die Menschheit hervorgebracht hat, schöpft. Während ihrer Jahre im Gulag und in der Kolchose hielt die Literatur sie oft aufrecht: Jessenin, Dostojewski, sogar die sowjetische Propagandaliteratur halfen ihr, nicht völlig den Mut zu verlieren.

Als sie in der Kolchose häufiger schreiben konnte und zudem die Möglichkeit hatte, eine kleine örtliche Bibliothek zu besuchen, lebte ihre Liebe zur Literatur noch mehr auf. Außerdem begann sie den

Das innere Feuer, das sie dazu motivierte, rührte nicht nur aus einem Wissendrang oder der Philosophie selbst. Skarga erklärte später, dass sie sich einerseits fragte, ob sie es noch könne: Konnte sie noch denken? Konnte sie noch abstrakt denken? Das wollte sie für sich selbst herausfinden. Andererseits hatte sie auch sehr stark das Gefühl, dass ihr das Recht zu denken zwölf Jahre lang genommen worden war. Sie betonte diesen Aspekt des Kommunismus und des Gulag sehr oft: die Uniformität des Denkens und Handelns, man darf nicht eigenständig denken, die Individualität spielt keine Rolle, der individuelle Geist muss unterdrückt werden. Skarga wollte dieses Recht zu denken wieder für sich beanspruchen. Hätte sie aufgehört zu philosophieren, hätten die Kommunisten sie am Ende doch kleingekriegt. Und das wollte sie nicht. Nicht zufällig zog sich diese Überzeugung durch ihr späteres philosophisches Œuvre – sie sah sich in ihrem Denken als »Individualistin«. Der Wert des Individuums, die intrinsische Würde der menschlichen Person ist das höchste Gut.